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DOI: 10.1055/s-0041-109305
Paul H. Gebhard(3. Juli 1917 – 9. Juli 2015)
Publication History
Publication Date:
07 January 2016 (online)
1946 suchte Alfred Kinsey für sein Forschungsteam einen Anthropologen, der ihm helfen sollte, die Unterschiedlichkeit der Sexualkulturen in den USA zu erforschen und zu verstehen. Clyde Kluckhohn, den er konsultierte, empfahl ihm seinen Schüler und Harvardabsolventen Paul Gebhard. Kinsey traf den 29-Jährigen in New York und sagte ihm, dass er keinen gebrauchen könne, der Angst vorm Sex habe. Gebhard überzeugte Kinsey von seiner Furchtlosigkeit, wurde angeheuert und gehörte nun zusammen mit Wardell Pomeroy und Clyde Martin zum „Staff“ des „Institute for Sex Research“, Indiana University, Bloomington. Nach dem Tod Kinseys im Jahr 1956 wurde Gebhard dessen Nachfolger als Direktor und leitete das Institut über 25 Jahre lang bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1982.
Gebhard war Koautor des zweiten Kinsey-Reports „Sexual Behavior in the Human Female“ (1953). Als Direktor entstanden unter seiner Federführung zwei Bücher, die Kinsey noch geplant hatte: „Pregnancy, Birth and Abortion“ (1958) und „Sex Offenders“ (1965). Ersteres beschreibt die enorme Häufigkeit (damals) illegaler Abtreibungen in allen sozialen Schichten und das Elend, dass das Abtreibungsverbot bewirkte; letzteres vergleicht die Sexualbiografien verschiedener Gruppen von Sexualstraftätern mit denen anderer Strafgefangener und nicht-delinquenter Männer. Sehr verdienstvoll ist die von Gebhard zusammen mit Alan Johnson publizierte Re-Analyse der Kinsey-Daten, „The Kinsey Data“ (1979), die Stichprobenfehler der Reporte korrigiert und die bis heute für den Vergleich neuer Erhebungen mit den Kinsey-Ergebnissen eine verbindliche Grundlage bildet.
Aus dem Schatten des allgegenwärtigen Kinsey trat Gebhard heraus, als er Anfang der 1960er das Institut offensiv neuen Ideen und Ansätzen öffnete. Er gewann mit John Gagnon, William Simon und Alan Bell junge Wissenschaftler, die mit ihm zusammen in großen empirischen Studien – mit College-StudentInnen oder mit lesbischen Frauen und schwulen Männer – neue methodische Standards in der basalen Kompetenz des Kinsey-Instituts, der Surveyforschung, setzten, die heute noch gültig sind. Gagnon und Simon schrieben in ihren Jahren am Kinsey-Institut wie im Rausch einen Aufsatz nach dem anderen und begründeten damit eine US-amerikanische Soziologie der Sexualität, die in ihrem einflussstarken Buch „Sexual Conduct“ (1973) ihre vorläufige Synopse fand. Schließlich öffnete Gebhard die vorbildliche sexualwissenschaftliche Bibliothek und Sammlung des Instituts großzügig anderen Forschern und Forscherinnen, und so konnte, um nur ein Beispiel zu nennen, der New Yorker Literaturwissenschaftler Steven Marcus sein bedeutendes sexualhistorisches Werk über „The Other Victorians“ (1966) schreiben. Die 1960er waren die kreativsten und produktivsten Jahre des postkinseyschen Kinsey-Instituts.
Nach seiner Pensionierung zog sich Gebhard in sein „lakeside“ Haus in Nashville, nahe Bloomingtons, zurück und lernte, wie er zufrieden vermerkte, das Gärtnern. Er publizierte wenig, stand seinen NachfolgerInnen June Reinisch, John Bancroft und Julia Heiman mit Rat zur Seite, pflegte seine internationalen Kontakte. Vor allem aber beschäftigte er sich mit den frühen und aufwühlenden Jahren des „Institute for Sex Research“ bis zu Kinseys Tod und wurde für die Kinsey-Biographen James Jones („Alfred C. Kinsey. A Public/Private Life“, 1997) und Jonathan Gathorne-Hardy („Alfred C. Kinsey. Sex the Measure of all Things“, 1998) zu einer besonders wichtigen und verlässlichen oral history Quelle.
Vor fast 50 Jahren, im Sommersemester 1966, war Paul Gebhard auf Einladung von Hans Giese Gastprofessor am Hamburger Institut für Sexualforschung der Universität Hamburg. Er hielt eine Vorlesung für Hörer und Hörerinnen aller Fakultäten und zeigte den Hamburger Sexualwissenschaftlern die sexuellen Subkulturen ihrer Stadt, die dem Anthropologen aus Bloomington besser bekannt waren als uns. Er behielt ein gutes Verhältnis zu den hiesigen Kollegen und Kolleginnen, publizierte in den von Giese herausgegebenen Buchreihen „Beiträge zur Sexualforschung“ und „rowohlts sexologie“ (hier u. a. die deutsche Ausgabe von „Pregnancy, Birth and Abortion“), beehrte den ersten Band der „Zeitschrift für Sexualforschung“ mit einer freundlichen Adresse und beherbergte wiederholt Hamburger und Frankfurter Kollegen bei ihren Studienaufhalten am Kinsey-Institut. Paul Gebhard war von großer Gelassenheit, Liberalität und Toleranz, vor allem aber war er, wie James Jones bemerkt, „blessed with a terrific sense of humor“, der manchmal in sanften Spott überging. So schrieb er kurz vor seiner Pensionierung an seine deutschen Kolleginnen und Kollegen: „If I can persuade you Germans to be less political, I will hold you up as a model for the rest of the sex researchers to emulate.“
Paul Gebhard starb wenige Tage nach seinem 98. Geburtstag am 9. Juli 2015 in seinem Wohnort Nashville.