Z Sex Forsch 2015; 28(04): 381-395
DOI: 10.1055/s-0041-109306
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Publication Date:
07 January 2016 (online)

Andreas Zimmer, Dorothee Lappehsen-Lengler, Maria Weber, Kai Götzinger. Sexueller Kindesmissbrauch in kirchlichen Institutionen – Zeugnisse, Hinweise, Prävention: Ergebnisse der Auswertung der Hotline der Deutschen Bischofskonferenz. Weinheim und Basel: Beltz Juventa 2014 (Reihe: Studien und Praxishilfen zum Kinderschutz). 251 Seiten, mit graph. Darst., EUR 24,95

Als Reaktion auf die in 2010 bekanntgewordenen „Missbrauchsskandale“ innerhalb von katholischen Institutionen wie Pfarreien, kirchlichen Internaten, Diözesen oder reformpädagogischen Einrichtungen, richtete die deutsche Bischofskonferenz (DBK) eine professionelle Beratungs-Hotline als Möglichkeit und Unterstützung zur Aufarbeitung des Erlebten ein. Diese sollte eine erste Anlaufstelle dafür sein, den Opfern Gehör zu schenken, eine fachliche Weitervermittlung an Hilfe und Beratung zu ermöglichen und die Opfer zu ermutigen, sich zu melden, gleich ob es sich um möglicherweise bereits verjährte oder um aktuelle Missbrauchsfälle handelte. Auf diesem Weg sollte eine transparente und offene Aufarbeitung stattfinden sowie auf die Forderung von Betroffenen nach Anerkennung ihres Leids eingegangen werden. In der vorliegenden Publikation werden die Arbeit sowie die Ergebnisse der Dokumentation und wissenschaftlichen Aufarbeitung der Beratungs-Hotline veröffentlicht. Das weitere Anliegen der Autor_innen ist die Herausarbeitung von strukturellen Risiken in Institutionen sowie die Nutzung der Hinweise aus der Betroffenenperspektive, um Veränderungen und Weiterentwicklungen in der Präventionsarbeit zu erreichen.

Nach einem Geleitwort von Bischof Dr. Stephan Ackermann, dem Beauftragten der Deutschen Bischofskonferenz für Fragen des sexuellen Missbrauchs im kirchlichen Bereich, sowie einem Vorwort von Jörg M. Fegert, dem Leiter der wissenschaftlichen Evaluation der telefonischen Anlaufstelle der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, folgen die inhaltlichen Ausführungen der Autor_innen gegliedert in zwei Teile mit insgesamt acht Kapiteln. Die Publikation schließt mit einer Literaturübersicht und Hinweisen zu den Autor_innen. In Teil A und dem ersten Kapitel findet sich die ausführliche Beschreibung der Hotline der DBK für Opfer sexuellen Missbrauchs, die von März 2010 bis Dezember 2012 von der Lebensberatung des Bistums Trier unter der Leitung von Dr. Andreas Zimmer freigeschaltet war. Neben einer telefonischen Beratungshotline konnten Opfer sexuellen Missbrauchs und ihre Angehörigen auch Beratung und Hilfe durch Emailkontakte und über das bereitgestellte Internetportal (www.hilfe-missbrauch.de) beziehen. Im ersten Kapitel wird ein umfassender Überblick über die Zielsetzung, die Konzeption und Arbeit, die Phasen der Hotline sowie die Anliegen und Forderungen der Nutzer_innen gegeben. Mit dem Titel „‘Ich hatte Vertrauen‘ – Hinweise von Betroffenen über die Verletzbarkeit von Minderjährigen“ werden in Teil B in sieben Kapiteln die Auswertung und die Ergebnisse sowie Hinweise für die zukünftige Präventionsarbeit ausführlich dargestellt.

Nachdem im zweiten Kapitel der methodologische Zugang sowie die Einordnung der Daten mit der Erläuterung der Gesamtstichprobe und der Verteilung der Inanspruchnahme dargestellt werden, folgen im dritten Kapitel die Ausführungen der Schilderungen der Betroffenen, die Beschreibungen der Tatorte, der Art der gemeldeten Delikte, der Opfer, vorgekommener Deliktserien und auch des Missbrauchs durch Peers umfassen. Mit diesen Erzählungen wird ein Einblick in ein bisheriges Dunkelfeld von sexualisierten Straftaten gegen Minderjährige ermöglicht. Das vierte Kapitel geht darauf folgend explizit auf sexuelle Gewalt durch kirchliche Funktionsträger_innen aus Opfersicht ein. Während im Abschnitt zuvor Missbrauchsfälle verschiedener Art und durch verschiedene Täter_innen aufgeführt werden, konzentriert sich die Auswertung in diesem Kapitel ausschließlich auf die Fälle, bei denen Priester, Ordensgeistliche, Ordensbrüder/-schwestern oder Laienseelsorger_innen beschuldigt wurden. Typische Kennzeichen dieser Missbrauchskontexte waren ein geschlossenes katholisches Milieu, eine strikte Konfliktvermeidung und damit einhergehend eine Vertuschung von Verdachtsfällen sowie die Ausnutzung der Macht, der besonderen sozialen Positionen und damit verbundenen Rechte und Zugänge sowie die Ausnutzung des spezifischen kirchlichen Rahmens von Seiten der Täter_innen. Mit jenen Erzählungen war bei den Opfern stark der Wunsch verbunden, dass auf diese Weise Taten zukünftig erschwert, schneller erkannt oder gar verhindert werden können. Bereits in diesem Abschnitt werden erste kurze Hinweise für die Präventionsarbeit gegeben, indem in Bezug zu den Schilderungen der Betroffenen und den identifizierten Täterstrategien eine Herausarbeitung spezifischer Charakteristika der Übergriffe und Missstände der Institutionen stattfindet. Das fünfte Kapitel beschäftigt sich mit den Langzeitwirkungen auf Betroffene. Dabei wird näher auf seelische Verletzungen und auch auf geschlechtsspezifische Folgen eingegangen.

In ausführlicher Form werden im anschließenden Kapitel die vielen Hinweise von Betroffenen, die implizit oder explizit für die präventive Arbeit in Institutionen gegeben wurden, systematisiert dargestellt. Dabei werden die strukturellen Stärken und Schwächen, die Reaktionen auf sexuellen Missbrauch sowie die Aufbaustrukturen von „Institutionen allgemein“ als auch von der „Institution Kirche“ näher ausgeführt. Ebenso erfolgt eine weitere Differenzierung in „Katholische Internate“, „Pfarreien“ und „Kinder-und Jugendheime“ mit ihren jeweiligen spezifischen Risikofaktoren und daraus abgeleiteten Hinweisen zur Prävention. Mit der Forderung nach der Etablierung einer „Kultur der Achtsamkeit“ werden aus den Berichten der Betroffenen im siebten Kapitel konkrete „Hinweisschilder“ erläutert, die zu einer Konkretisierung einer ebensolchen Kultur beitragen sollen. Mit Rückgriff auf die berichteten Erzählungen und bereits gegebenen Präventionshinweise, die einen neuen Blick auf die Mechanismen sexueller Ausbeutung eröffneten, haben sich insbesondere vier „Hinweisschilder“ herauskristallisiert, die in der zukünftigen Präventionsarbeit eine besondere Berücksichtigung finden sollten: 1. Erkennen und außer Kraft setzen der Täterstrategien sowie Schutzsysteme stärken, 2. Partizipation stärken, 3. Neue Räume für Betroffene/Opfer öffnen und 4. Neue Zugänge zur Religiosität schaffen. Abschließend stellen die Autor_innen in einem Schlusswort die dringende Notwendigkeit und Bedeutung der Implementierung von Präventionsmaßnahmen dar.

Die herausgearbeiteten Ergebnisse und Erkenntnisse aus dem Dunkelfeld sexueller Ausbeutung in kirchlichen Institutionen tragen ihren Teil dazu bei, einen umfassenderen und spezifizierten Blick auf den Themenkomplex „Sexuelle Gewalt in Institutionen“ und insbesondere auf sexuelle Gewalt in der Institution Kirche zu bekommen. Daher ist diese Publikation sicherlich auch als Zeichen in die Institution Kirche hinein zu betrachten und kann für die entsprechenden Präventionsanstrengungen eine solide empirische Basis legen. Gleichsam sind die Auswertungen dieser Hotline wie auch der Hotline der damaligen Unabhängigen Beauftragten, Christine Bergmann, als ein „Akt des Hörens“ des erlittenen Leides von Betroffenen zu verstehen und bietet so eine Grundlage über weitere Aspekte und Zugänge zur gesamtgesellschaftlichen und institutionenspezifischen Aufarbeitung von sexueller Gewalt zu reflektieren. Der Band bietet für interessierte Fachleute und Wissenschaftler_innen eine gute Möglichkeit, weitere empirische Einsichten für die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema sexuelle Gewalt und für die Entwicklung von gelingenden Präventions- und Interventionsansätzen zu bekommen.

Martin Wazlawik (Münster)