Aktuelle Urol 2016; 47(01): 13-14
DOI: 10.1055/s-0041-110576
Referiert und kommentiert
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Chronische Skrotalschmerzen – Mikrochirurgische Denervation des Samenstrangs

Rezensent(en):
Judith Lorenz
Marconi et al.
J Urol 2015;
194: 1323-1327
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
22. Februar 2016 (online)

 

Bei chronischen skrotalen Schmerzen kommen bei Versagen konservativer Therapieoptionen verschiedene chirurgische Behandlungsansätze zum Einsatz. Marconi und Kollegen haben mithilfe einer prospektiven Studie die therapeutische Effektivität der mikrochirurgischen Denervation des Samenstrangs (Microsurgical Spermatic Cord Denervation/MSCD) analysiert.
J Urol 2015; 194: 1323–1327

mit Kommentar

In die multizentrische Studie (4 urologische Zentren in Santiago/Chile und Gießen/Deutschland) wurden zwischen 2010 und 2014 50 Patienten (medianes Alter 50 Jahre; range 18–70) mit uni- oder bilateralen chronischen Skrotalschmerzen eingeschlossen. Männer mit chronischem Beckenschmerzsyndrom oder Harnwegsbeschwerden wurden von der Studienteilnahme ausgeschlossen. Hernien, Hodentumoren, Zeichen der akuten Epididymitis oder palpable Varikozelen lagen bei keinem Patienten vor.

Bei allen eingeschlossenen Patienten hatte sich durch eine Blockade des Samenstrangs mit einem Lokalanästhetikum eine deutliche Schmerzreduktion erzielen lassen, wogegen die Injektion eines Placebos ohne analgetischen Effekt geblieben war. Über einen subinguinalen Zugang erfolgte bei allen Probanden eine standardisierte MSCD. Hierbei wurden alle nervalen, lymphatischen und vaskulären Strukturen mit Ausnahme der Arteria testicularis sowie des Ductus deferens und seiner Arterie unter mikroskopischer Sicht exzidiert. In Chile wurde der Eingriff ambulant durchgeführt, wogegen die 25 deutschen Patienten eine Nacht stationär überwacht wurden.

Alle Patienten wurden eine Woche sowie 3 und 6 Monate nach der Intervention mittels Farbdopplersonografie untersucht, um Beeinträchtigungen der Hodendurchblutung auszuschließen. Ferner wurde über einen Zeitraum von 30 Tagen die subjektive Schmerzstärke der Patienten mithilfe einer visuellen Analogskala (VAS; Skala 0–10) objektiviert.

Auch nach umfangreicher diagnostischer Abklärung konnte bei 35 Patienten (70%) keine Ursache der Hodenschmerzen eruiert werden. Insgesamt erfolgte der operative Eingriff an 52 Hoden. Die durchschnittliche Operationsdauer betrug 70min (range 45–98). Intraoperative Komplikationen sowie postoperative Hodenischämien traten nicht auf. In allen Fällen ließ sich im Verlauf der Nachbeobachtungszeit dopplersonografisch ein unauffälliges Durchblutungsmuster des Hodens darstellen. Insgesamt wurden 2 Revisionseingriffe aufgrund einer Hämatozele bzw. Hydrozele erforderlich, die ebenfalls komplikationslos verliefen.

Sechs Monate nach der Operation waren 40 Patienten (80%) vollkommen schmerzfrei (VAS 0), 6 Patienten (12%) hatten weiterhin intermittierende Beschwerden (medianer VAS-Score 2; Range 2–4), die auf eine bedarfsorientierte Analgetikatherapie ansprachen, und in 4 Fällen (8%) zeigte sich keine Veränderung der Schmerzstärke nach dem Eingriff. Insgesamt war eine signifikante Abnahme des medianen VAS-Scores nachweisbar (präoperativ 6 vs. postoperativ 0; p<0,05).

Fazit

Bei sorgfältiger Patientenselektion, so das Fazit der Autoren, stellt die MSCD eine therapeutisch effektive und sichere Methode zur Behandlung chronischer Hodenschmerzen dar. Durch eine präinterventionelle Blockade des Samenstrangs mit einem Lokalanästhetikum lasse sich vor dem Eingriff der Erfolg der MSCD-Prozedur abschätzen. Sie empfehlen die Durchführung randomisierter, kontrollierter Studie mit längerem Follow-up, um die Studienergebnisse zu untermauern. Ferner müsse untersucht werden, welche Auswirkungen der Eingriff auf die Fertilität der Männer habe.

Kommentar

„Wenn Du bei der Herniotomie einen Nerven siehst, dann entferne ihn besser!“


Prof. Dr. Stefan C. Müller ist Direktor der Klinik und Poliklinik für Urologie und Kinderurologie am Universitätsklinikum Bonn Chronische Schmerzzustände im urologischen Fachgebiet können sowohl den betroffenen Patienten als auch den behandelnden Kollegen im wahrsten Sinne des Wortes „auf den Nerv“ gehen. Nichts liegt also näher als die in diesen Prozess einbezogenen Nerven „aus dem Verkehr zu ziehen“.


Im Fall chronischer Hodenschmerzen wurde dies im Rahmen einer prospektiven klinischen Studie an 4 verschiedenen Kliniken mittels mikrochirurgischer Denervation des Samenstrangs durchgeführt. Von den hier berichteten 50 konsekutiven Patienten konnte bei 70 % keine Ursache der chronischen Schmerzen gefunden werden (= idiopathisch), die mindestens 3 Monate lang bestanden haben mussten. 10 % der Patienten hatten diese Schmerzen nach Herniotomie, 14 % nach skrotalen Eingriffen, einer nach radikaler Prostatektomie und 2 im Rahmen einer chron. Epididymitis. Konservative Behandlungsversuche im Vorfeld verliefen frustran und alle Patienten mussten auf eine Samenstrangblockade mit langwirkendem Lokalanästhetikum positiv reagiert haben, um sich für den Eingriff zu qualifizieren.


Bei geschätzten 200 000 Hernien-Operationen pro Jahr in der Bundesrepublik geht man davon aus, dass bis zu 43 % postoperativ Schmerzsyndrome entwickeln, die sich auf Leiste, Samenstrang und Skrotum beziehen, und dass bei etwa 6 % diese Schmerzen auch nach Jahren noch so stark sind, dass sie in ihrem täglichen Leben massiv beeinträchtigt sind [ 1 ], [ 2 ]. Diese Schmerzen sind meist neuropathischer Natur und stehen in Zusammenhang mit Läsionen / Irritationen des N. ilioinguinalis bzw. des Ramus genitalis des N. genitofemoralis [ 3 ]–[ 5 ].


In einer doppelblind randomisierten, kontrollierten Studie, die den Effekt einer prophylaktischen Entfernung des Ilioinguinalnerven untersuchte, zeigte sich, dass 6 Monate nach Operation ein signifikanter Unterschied zugunsten der Patienten mit Nerventfernung bestand (8 % Schmerz vs. 28,6 %). Erstaunlicherweise fand sich kein Unterschied in der Inzidenz sensorischer Probleme (Taubheitsgefühl, Berührungsempfindlichkeit) [ 1 ]. Diese Erkenntnis bestätigt meine persönliche Erfahrung und das, was mir mein Vater als chirurgischer Lehrer vor knapp 40 Jahren beigebracht hatte: „Wenn Du bei der Herniotomie einen Nerven siehst, dann entferne ihn besser!“.


Die hier als Eingangskriterium für die MSCD geforderte, erfolgreiche Samenstrangblockade bezieht sich ja in jedem Fall auf diese beiden Nerven (‣ Abb. [ 1 ]), die allerdings dann in dieser Studie bei der eigentlichen mikrochirurgischen Intervention am Samenstrang selbst geschont wurden. Man muss sich fragen, ob dies möglicherweise einer der Gründe für den 20 %igen Misserfolg der OP ist? Die Autoren versuchen dies über den sog. zentral fixierten Schmerz (ähnlich „Phantomschmerz“) bzw. über Schmerzimpulse, die über Äste des N. pudendus geleitet werden könnten, zu erklären.

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Abb.1 Sensible Versorgung der Leisten- und Schenkelregion. (Bild: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Allgemeine Anatomie und Bewegungssystem. Illustrationen von M. Voll und K. Wesker. 3. Aufl . Stuttgart: Thieme; 2012)

Die Frage, welche Nerven mit der Samenstrangblockade vorübergehend „eliminiert“ wurden und welche Nervenfasern dann anschließend innerhalb des Samenstrangs (nach Eröffnen der Cremasterhülle) durchtrennt wurden, bleibt für mich unklar, sowie überhaupt die neurophysiologischen / neuroanatomischen Gegebenheiten von Nervenfasern innerhalb des Samenstrangs, die ja abgesehen von den lymphatischen Gefäßen nur entlang der Venen des individuell stark unterschiedlichen Plexus pampiniformis laufen müssten. Durchtrennt wurde jedenfalls alles bis auf Ductus deferens und Art. testicularis.


Bleibt für mich die Frage offen, ob man den gleichen Erfolg nicht hätte einfacher haben können mit der Exhairese der beiden großen Leistennerven, wie sie durchaus in der Literatur bei chronischen Schmerzzuständen nach Herniotomie empfohlen wird. Vielleicht sollte man hier nochmal eine Studie auflegen unter Berücksichtigung der sehr umfänglichen chirurgischen Literatur.


Prof. Dr. med. Dr. h.c. Stefan C. Müller, Bonn


#

Prof. Dr. Stefan C. Müller


ist Direktor der Klinik und Poliklinik für Urologie und Kinderurologie am Universitätsklinikum Bonn

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  • Literatur

  • 1 Ferzli GS, Edwards E, Al-Khoury G et al. Postherniorrhaphy Groin Pain and How to avoid it. Surg Clin N Am 2008; 88: 203-216
  • 2 Niehuijs SW, Rosman C, Strobbe LJA et al. An overview of the features infl uencing pain after inguinal hernia repair. Int J Surg 2008; 6: 351-356
  • 3 Kalliomäki ML, Sandblom G, Gunnarsson U et al. Persistent pain after groin hernia surgery: A qualitative analysis of pain and its consequences for quality of life. Acta Anaesthesiol Scand 2009; 53: 236-246
  • 4 Schumpelick V, Arlt G, Steinau G. Leistenhernien bei Erwachsenen und Kindern. Deutsches Ärzteblatt 1997; 94: 56-64
  • 5 Tons C, Schumpelick V. Das Ramus-genitalis-Syndrom nach Hernienreparation. Chirurg 1990; 61: 441-443

  • Literatur

  • 1 Ferzli GS, Edwards E, Al-Khoury G et al. Postherniorrhaphy Groin Pain and How to avoid it. Surg Clin N Am 2008; 88: 203-216
  • 2 Niehuijs SW, Rosman C, Strobbe LJA et al. An overview of the features infl uencing pain after inguinal hernia repair. Int J Surg 2008; 6: 351-356
  • 3 Kalliomäki ML, Sandblom G, Gunnarsson U et al. Persistent pain after groin hernia surgery: A qualitative analysis of pain and its consequences for quality of life. Acta Anaesthesiol Scand 2009; 53: 236-246
  • 4 Schumpelick V, Arlt G, Steinau G. Leistenhernien bei Erwachsenen und Kindern. Deutsches Ärzteblatt 1997; 94: 56-64
  • 5 Tons C, Schumpelick V. Das Ramus-genitalis-Syndrom nach Hernienreparation. Chirurg 1990; 61: 441-443

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Abb.1 Sensible Versorgung der Leisten- und Schenkelregion. (Bild: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Allgemeine Anatomie und Bewegungssystem. Illustrationen von M. Voll und K. Wesker. 3. Aufl . Stuttgart: Thieme; 2012)