Aktuelle Neurologie 2016; 43(01): 52
DOI: 10.1055/s-0041-111695
Leserbrief
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Publication Date:
09 February 2016 (online)

Kurre W, Berlis A, Diener HC et al.
IQWiG-Arbeitspapier GA15-02: Stents zur Behandlung intrakranieller Stenosen: VISSIT-Studie und Akutbehandlung in Deutschland. Kommentar des Berufsverbandes der Neuroradiologen (BDNR), der Deutschen Gesellschaft für Neuroradiologie (DGNR), der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) und der Deutschen Schlaganfall-Gesellschaft (DSG).
Akt Neurol 2015; 42: 441–444

In ihrer Stellungnahme [1] kritisieren die neuro(radio)logischen Fachgesellschaften und der Berufsverband verschiedene Aspekte des IQWiG-Arbeitspapiers [2], zu denen wir im Folgenden Position beziehen wollen.

Es wird kritisiert, dass das IQWiG-Arbeitspapier retrospektive Fallserien aus Deutschland als Datenbasis berücksichtigte. Auch angesichts der insgesamt hierin betrachteten Zahl von 31 Patienten sei „diese Vorgehensweise ungeeignet“, um „die Grundsatzfrage des Nutzens einer Notfallbehandlung“ zu beantworten. Leider verweisen auch die Fachgesellschaften jedoch nicht auf weitere oder andere Literatur, sodass man in der Tat davon ausgehen muss, dass die Nutzenfrage (oder hier eher Schadensfrage) unbeantwortet ist. Auch das INTRASTENT-Register erlaubt offenbar keine gezielte Auswertung zu der interessierenden Patientensubgruppe [3]. Die Gründe für fehlende Eignung der vorhandenen Evidenz müssten die wissenschaftlichen Fachgesellschaften daher eher in den eigenen Reihen suchen.

Anstelle einer evidenz-basierten Vorgehensweise schlagen die Fachgesellschaften nun vor, Stentimplantationen „basierend auf medizinischer Erfahrung aus der klinischen Praxis“ weiterhin durchzuführen. Da aber diese Erfahrung offensichtlich gar nicht kommuniziert wird (s. o.), bleibt sie eine individuelle, anekdotenhafte Erfahrung, die notorisch trügerisch ist und eigentlich nicht ernsthaft als Grundlage für invasive Maßnahmen gelten kann. Im vorliegenden Fall muss das schwache Erfahrungswissen (Evidenzstufe 5) mit den erschreckend klaren Ergebnissen aus der SAMMPRIS- und der VISSIT-Studie (Evidenzstufe 1) konkurrieren. Als weiteres Problem kommt noch hinzu, dass es sich um „eine kleine Grupppe von Patienten mit sehr heterogenen Ausgangsbedingungen“ handelt, sodass einzelne Therapieerfolge oder -misserfolge kaum für ein Lernen aus Erfahrung ausreichen werden. Es wäre daher wünschenswert, wenn die wissenschaftlichen Fachgesellschaften sich zumindest dafür einsetzten, dass intrakranielle Stentimplantationen in Zukunft vollzählig und prospektiv erfasst werden, damit die „Erfahrung aus der klinischen Praxis“ das Anekdotische verlässt. Ferner muss der aus Behandlersicht unmittelbar erfahrbare Erfolg einer effektiven Gefäßrekanalisation als rein pathophysiologisches Argument gewertet werden; Nutzen oder Schaden der Stentimplantation lassen sich allein per Angiografie nicht erfassen. Wenigstens das könnte man aus den randomisierten Studien lernen.

Auch der Gesetzgeber sieht inzwischen die Einführung neuer Behandlungsmethoden mit Hochrisikomedizinprodukten kritischer. Mit dem neuen § 137 h SGB V werden in Zukunft Krankenhäuser verpflichtet sein, derlei Methoden allein im Rahmen von Erprobungsstudien anzuwenden. Für das intrakranielle Stenting kommt das Gesetz leider zu spät. Laut Gesetzgeber liegt es aber „auch bereits bisher im Pflichtenkreis des Krankenhauses, sich vor der erstmaligen Anwendung einer neuen Methode einen Überblick über den Stand der vorhandenen Evidenz zu verschaffen“ [4]. Auch in diesem Kontext sind daher die Ergebnisse des IQWiG-Arbeitspapieres und die Forderung nach klinischen Studien von hoher Bedeutung.

S. Sauerland, S. Lange, J. Windeler

Die Autoren haben auf eine abschließende Stellungnahme verzichtet.