Der Klinikarzt 2016; 45(02): 65
DOI: 10.1055/s-0042-102437
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Labormedizin im Zeitalter von „big data“

Winfried März
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Publication Date:
21 March 2016 (online)

So wie die Gesundheitssysteme der Industriestaaten insgesamt steht die Labormedizin vor gewaltigen Herausforderungen. Letztlich entstammen die fulminanten Fortschritte der Lebenswissenschaften der letzten 10 Jahre zu einem erheblichen Teil biochemischer und molekulargenetischer Forschung. Die Entwicklung unvorstellbar schneller Techniken für die Sequenzierung von Nukleinsäuren hat uns die molekularen Ursachen vieler Erkrankungen erkennen lassen und gewissermaßen im Nebenschluss auch neue therapeutische Zielstrukturen mit hohem klinischem Potenzial und neue diagnostische Ansätze geliefert. Dies ist auch Folge zielgerichteter, translationaler Forschung und Entwicklung, wie sie von Fördereinrichtungen in Deutschland, Europa und weltweit nachgefragt und zu Recht mit beträchtlichen Summen auch aus öffentlichen Mitteln unterstützt wird. Diese Investitionen sind von der Erwartung getragen, Forschungsergebnisse möglichst schnell in der Praxis anzuwenden.

So wie das fließende Blut in Windeseile die humorale Kommunikation in Regelkreisen und zwischen Organen des menschlichen Organismus herstellt und Auslenkungen der Homöostase dort bemerkbar und der Messung zugänglich sind, ist die Labormedizin „natürliches“ Bindeglied und kommunikative Drehscheibe zwischen den verschiedensten klinischen Disziplinen.

Andererseits sieht sich die Labormedizin in der Erfüllung dieser translationalen Aufgaben durch wirtschaftliche und regulatorische Restriktionen gefordert und behindert. Der allgegenwärtige Kostendruck und gleichzeitig erhöhte Ansprüche an die Qualität haben in der Labormedizin zu einem kaum mehr zu übertreffenden Maß an Konsolidierung, Integration und Kommodifizierung der Leistungserbringung geführt. Durch die Nutzung von Skaleneffekten und Mechanisierung sind die Kosten des Labors in den letzten Jahren eher gesunken, trotz steigender Anforderungszahlen verursacht die In-vitro-Diagnostik heute nur etwa 3 % aller Gesundheitskosten. Moderne Labore liefern Analysen professionell, standardisiert und kostengünstig. Und ihre Existenz wird oft erst dann wahrgenommen, wenn sie ausnahmsweise den Ansprüchen nicht genügen.

Schon heute zeichnet sich durch zunehmende Anwendung genomischer, metabolomischer und proteomischer Messmethoden ab, dass die Labormedizin deutlich mehr an Informationen bereitstellen wird als mit herkömmlichen, begrenzten Heuristiken interpretierbar ist. Den Umgang mit der Datenschwemme wird sich die Disziplin erst erschließen müssen. Die Labormedizin der Zukunft wird zwangsläufig von der intelligenten, rechnergestützten Bewertung diagnostischer Signaturen mit geprägt sein. Überflüssig wird die ärztlich verankerte und patientenorientierte Labormedizin auch im Überschwang von „big data“ nicht werden. Im Gegenteil: Sie wird wieder lernen, mit Patienten zu sprechen.

Wir möchten mit dem Schwerpunkt „Labormedizin“ in diesem Heft anhand ausgewählter, klinisch relevanter Themen den Blick auf die Rolle der Labormedizin in der Krankenversorgung richten und freuen uns, dass wir hierfür auch klinisch tätige Kolleginnen und Kollegen als Autoren gewinnen konnten.