Der Bezug zum Gesundheitswesen? Hier fallen die Analogien zum Gordischen Knoten angesichts
der verschiedensten System-Paradoxien als Folge von Steuerungspluralität und Interessensvielfalt
nicht schwer. Bisweilen entsteht der Eindruck, dass die verknoteten Interessensphären
von den Akteuren nicht aufgelöst, sondern von Mal zu Mal fester angezogen werden.
Auf der einen Seite ziehen die Leistungserbringer, mit ihrer sektorenspezifischen
Rationalität bisweilen in unterschiedliche Richtungen, auf der anderen Seite verfolgen
die Financiers der gesetzlichen und privaten Krankenversicherungen ihre Ziele, die
oft genug auch von Teilzielen wie der Beitragssatzstabilität und gesamtwirtschaftlichen
Interessen geprägt sind. Und haben nicht auch die Bürgerinnen und Bürger vielfältige
Rollen mit wechselnden Interessenslagen, mal als (noch) gesunde Versicherte, mal als
Patienten, mal als Angehörige [1]? Auch die ordnende Hand der gesundheitspolitischen Mandatsträger ist politischen
Kalkülen bzw. kurzfristigen Zielvorgaben ausgesetzt und hat damit bisweilen nur geringen
Spielraum.
Mit welcher Kunstfertigkeit wurde der Knoten zwischen den Sozialpartnern eigentlich
ursprünglich geflochten? Der geniale Wurf des Bismarckschen Sozialversicherungssystems
lässt sich deutlich an der gesetzlichen Unfallversicherung von 1884 erkennen. Hier
hat der Staat für sich selbst ausgabenneutral verfügt, dass eine Unfall-Pflichtversicherung
der Arbeitsgeber für Ihre Arbeitnehmer zu finanzieren sei und damit die – für Arbeitnehmer
oft schwer einzufordernde – Unternehmerhaftpflicht abgelöst. Hintergrund waren die
häufigen, in ihrer sozialen Konsequenz oftmals weitreichenden Folgen von Arbeitsunfällen
in der frühen Phase der Industrialisierung. Die Folgen für die Familien führten nicht
zuletzt zu den sozialen Unruhen, welche der kaiserlichen Botschaft von 1881 vorangegangen
waren. Die finanzielle Verantwortung der Arbeitgeber bei Arbeitsunfällen sowohl für
die Behandlungs- und Rehabilitationskosten als auch für die sozialen Ausgleichszahlungen,
beförderte deren Eigeninteresse an einer Reduktion der Unfallzahlen und führte zusammen
mit dem gewerkschaftlichen Kampf und den sozialpolitischen Reformen nach dem ersten
Weltkrieg zu einer tiefgreifenden Humanisierung der Arbeitswelt. Bis heute sind die
Berufsgenossenschaften und Unfallkassen in diesem Feld vorbildlich tätig. Der Unfallversicherungsbeitrag
der Arbeitgeber kann somit, abgestuft nach Risiken, innerhalb dieser Interessensgemeinschaft
niedrig gehalten werden, eine win-win-Situation. In der Folge sind heute Haus und Garten oft weniger sicher als die von
den Unfallversicherungsträgern und Arbeitsschutzbehörden überwachten Arbeitsplätze.
Dies lässt sich teilweise auch der Zunahme an White-Collar-Arbeiten an Bildschirmen
und Bürotischen zuschreiben. Doch ergibt sich hieraus nicht eine neue Verantwortung
für die Arbeitgeber, welche sich im Vergleich zu früher nun mit chronischen Krankheiten
wie Diabetes mellitus und deren Risikofaktoren wie Bewegungsmangel konfrontiert sehen?
Oder mit so mancher aus der privaten Lebenssphäre wie aus der Arbeitsbelastung heraus
entstandenen Beeinträchtigung der psychischen Gesundheit? Die Ansätze der betrieblichen
Gesundheitsförderung gehen hier einen richtigen präventiven Schritt. Positive Erfahrungen
im Umfeld der betrieblichen Gesundheits- und Präventionskultur haben u. a. auch zur
Propagierung des Setting-Ansatzes in Kitas, Schulen, Universitäten, Stadtvierteln
und anderen Lebenswelten geführt.
Um auch für diese neuen Settings win-win-Situationen herzustellen: Wäre für die Verhältnisprävention im öffentlichen Raum
nicht eine Steuerfinanzierung z. B. über eine Stärkung des öffentlichen Gesundheitsdienstes
eine mögliche Variante? Wäre bei individueller Verhaltensprävention nicht auch unter
Anerkennung der Eigenverantwortung eine Prämienrückerstattung mit sozialem Augenmaß
denkbar? Könnte nicht eine Besteuerung von gesundheitsschädlichem, übertriebenem Zucker-,
Salz- und Fettgehalt die externalisierten Gesundheitskosten zumindest teilweise wieder
auf den Produzenten zurückführen? „Was bringt den Doktor um sein Brot?/ a) die Gesundheit, b) der Tod/ Drum hält der
Arzt, auf dass er lebe/uns zwischen beiden in der Schwebe!“ (Eugen Roth). Sind auf Seiten der Leistungserbringer in der ambulanten, stationären,
pflegerischen und rehabilitativen Versorgung die Anreize wirklich schon optimal gesetzt?
Haben „disruptive“ Technologien, welche ein „mehr“ an Gesundheit durch ein „weniger“
an Ressourcenaufwand erreichen können, in einem marktorientierten Gesundheitswesen
eine Chance [2]? Der Ökonom Kenneth Boulding hat auf eine Unterscheidung zwischen a) der ökonomischen
Sphäre einer marktmäßigen Tauschinteraktion im klassischen ökonomischen Sinn von b)
einer Ökonomie, die auf Drohung und Abschreckung basiert, sowie von c) einer Ökonomie
im Zusammenhang mit Liebe und Fürsorge hingewiesen [3]. Weite Bereiche des Gesundheitswesens gehören letzterer Sphäre an – „mehr Markt macht [eben] nicht gesund“ [4]
[5]. Wobei im genossenschaftlichen Gesundheitsmarkt bundesdeutscher Prägung an die Stelle
einer abstrakten „unsichtbaren Hand“ bisweilen ein konkreter unsichtbarer Handschlag
zwischen den Akteuren getreten zu sein scheint und diesbezüglich transparente Strukturen
der Kooperation wie auch der Konfliktbewältigung, ggf. auch strafrechtliche Einhegungen,
zu fordern sind.
Hat unser Gesundheitswesen eine Komplexität erreicht, in welcher unser analytisches
Denken an Grenzen stößt? Welche Steuerung ist angesichts eines solch verwickelten
gordischen Knotens aus in Teilen auch berechtigten Eigeninteressen auf unterschiedlichen
Ebenen noch möglich? Kommen nicht durch Innovationen aus Wissenschaft und Forschung
ständig neue Herausforderungen auf unser Gesundheitswesen zu? Zum Beispiel der Wunsch
nach einer sprechenden Medizin nicht nur in Zusammenhang mit den Erkenntnissen der
Psychoneuroimmunologie, sondern auch im Interesse einer verbesserten Diagnostik; die
Hoffnungen einer personalisierten Medizin in Zusammenhang mit Genomik und Epi-Genetik;
darüber hinaus der Ruf nach einer präventiven Wende im Gesundheitswesen, um mithilfe
der Public Health-Bezugswissenschaften „Bedingungen zu schaffen, in denen Menschen gesund sein können“ (Institute of Medicine)?
Vielleicht könnte eine Orientierung an konsensualen Systemzielen für ein faires Zusammenspiel
im „System Gesundheitswesen“ (Alber) helfen. Vorschläge dafür? An erster Stelle das
Systemziel eines „mehr“ an Gesundheit, und das für alle. Diese übergeordnete Zielsetzung verfolgt eine Eingrenzung (mikro-)ökonomischer Teil-Zielsetzungen
und betont dem gegenüber gesundheitlichen Nutzen, Solidarität und gesellschaftliche
Fairness [5]. Ein zweites naheliegendes Ziel ist Nachhaltigkeit mit ihren wirtschaftlichen, politischen und sozialen Facetten. Hierunter fallen eine
ökonomisch sinnvolle, sozial gerechte und in der Bevölkerung akzeptierte und damit
nachhaltige Finanzierungssystematik, Ressourcenallokation, Produktion und Verteilung
von Gesundheitsgütern als Anspruch an ein langlebiges, adaptives und auf die Bedürfnisse
der Beteiligten eingehendes System. Ein drittes großes Systemziel ist die Wahrung
und Weiterentwicklung der Entscheidungs- und Gestaltungsfreiheit. Diese drückt sich auf Patientenseite in Elementen wie freier Arzt-, Krankenhaus-
und Versicherungswahl, informierter Autonomie bei Behandlungsentscheidungen, der Bejahung
der Eigenverantwortung und dem Respekt vor der Menschenwürde aus. Darunter fällt auch
die Bewahrung der Heilberufe als grundsätzlich freie Berufe. Weiter zu fördernde Aspekte
sind ein freier Austausch von Information und eine freie Kommunikation einschließlich
eines auch anwaltschaftlichen Eintretens für Randgruppen und Belange der öffentlichen
Gesundheit, die Einforderung von wissenschaftlicher Evidenz, Transparenz und Rechenschaftspflichtigkeit
sowie Mechanismen der Konfliktbewältigung. (Mehr) Gesundheit für alle, Nachhaltigkeit, Entscheidungs- und Gestaltungsfreiheit – wichtige Systemziele unserer Sozialversicherung Bismarckscher Prägung (siehe auch
[6]).
Solchen Steuerungsfragen, den damit verbundenen Auswirkungen und den zu schaffenden
Voraussetzungen gehen die Artikel dieser Ausgabe wieder nach: mit Beiträgen zur nachhaltigen
Implementierung evidenzbasierter Programme in der Gesundheitsförderung, zur Inanspruchnahme
von Früherkennungsuntersuchungen bei Kindern in Sachsen-Anhalt, zur Akzeptanz standardisierter
Patientenschulungen am Beispiel der Rückenschule, zur Qualitätssicherung in der sozialmedizinischen
Begutachtung, zur betrieblichen Gesundheitsförderung in Unternehmen des Gesundheitssektors,
zur betrieblichen Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen, zu den Kosten ambulant-sensitiver
Krankenhausfälle sowie gleichsam forschungsintern zur neuen TIDieR-Checkliste für
eine verbesserte Interventionsbeschreibung in Studien.
Um noch einmal auf den Gordischen Knoten zurückzukommen: Auch wenn Alexander mit dem
Schwert seinen siegreichen Asienfeldzug markant eröffnete – wir sollten uns bei den
komplexen Sachzusammenhängen im Gesundheitswesen vor allzu schnellen Lösungen hüten.
Die Weiterentwicklung im Gesundheitswesen gleicht eher der Evolution im Systemwettbewerb
und dem berühmten „starken langsamen Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich“ als einer Revolution mit dem Schwert [7]. Allerdings ermöglichen erst die notwendigen Rahmenbedingungen von Ausstiegs-, Artikulations-
und Wahlmöglichkeit (exit, voice, choice/loyalty [8]) ein Umsatteln auf erfolgreichere Modelle im Dienste an der Gesundheit für alle.
Hierfür ist die Analogie eher die Erzählvariante des „Herauslösens des Deichselnagels“
gegenüber der allgemeinen Wohlfahrt abträglichen Prozessen und Strukturen und das
systemische Einfädeln von erfolgversprechenderen Angeboten. Das noch treffendere Bild
wäre allerdings das „Umstricken“ des Knotens bei laufender Fahrt: Schließlich muss
der Wagen der gesundheitlichen Versorgung ja weiter gezogen werden.