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DOI: 10.1055/s-0042-103824
Selbstunsichere und ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörungen
- Vorbemerkung
- DSM- und ICD-Diagnostik
- Differenzialdiagnostik
- Erklärungsansätze
- Möglichkeiten der Behandlung
- Das therapeutische Vorgehen
- Literatur
Vorbemerkung
Übergangsmodell im DSM-5. Im Vorfeld der Entwicklung des DSM-5 gab es eine Reihe von heftigen Kontroversen zur Frage, auf welche Weise die Persönlichkeitsstörungen von der kategorialen in eine dimensionale Diagnostik überführt werden könnten (und wenn ja: in welche Art von Dimensionierung – oder: ob die kategoriale Diagnostik überhaupt aufgegeben werden sollte [1]). Der jetzt im DSM-5 als Übergangsmodell vorgesehene Kompromiss besteht darin, dass offiziell die DSM-IV-TR-Diagnostik der Persönlichkeitsstörungen beibehalten wurde [2]. Die von der Task-Force vorgeschlagene dimensionale Neuerung als Alternativmodell wurde in ein eigenes Kapitel mit sog. „Emerging Models“ aufgenommen – wobei man es gegenwärtig den Diagnostikern überlässt, welche Diagnosesystematik sie anwenden wollen. Innerhalb des Alternativmodells wurden eine Reihe bisheriger Persönlichkeitsstörungen gestrichen. Eine Ausnahme davon ist die selbstunsicher-ängstlich-vermeidende Persönlichkeit (neben Borderline, schizotypisch, zwanghaft, narzisstisch und dissozial).
Die Störungsbezeichnung im DSM-IV-TR und im DSM-5 lautet „vermeidend“ („Avoidant Personality Disorder“). Sie kennzeichnet das Störungsbild etwas umfassender als die in der deutschen DSM-Übersetzung eingesetzte Bezeichnung „vermeidend-selbstunsicher“. Vermutlich wurde „selbstunsicher“ in wertschätzender Erinnerung an Kurt Schneider [3] hinzugefügt, in dessen Typologie eine ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung mit „selbstunsicher“ bezeichnet wurde. „Ängstlich-vermeidend“ ist die offizielle Bezeichnung in der ICD-10 [4]. Wie „selbstunsicher“ betont „ängstlich-vermeidend“ den bei den meisten Betroffenen im Vordergrund stehenden Aspekt sozialer Angst und Unsicherheit.
Unterscheidung in Funktionsniveaus. Eine entscheidende Rolle im dimensionalen Alternativmodell kommt der Funktionsbeeinträchtigung zu [5], die als vorgeordnetes A-Kriterium formuliert 2 Fähigkeiten einbezieht:
-
das Strukturniveau des Selbst
-
das interpersonelle Funktionsniveau, d. h. die Beziehungsfähigkeit
Folgende 4 Merkmalsbereiche eines gesunden und gut angepassten und deshalb positiv konnotierten Funktionsniveaus werden im DSM-5-Alternativmodell unterschieden [1]:
Selbst
-
Identität: Bewusstsein eines einzigartigen Selbst mit klaren Grenzen zwischen sich selbst und anderen; Stabilität hinsichtlich Selbstvertrauen und Selbstwertschätzung, Fähigkeit zum Erleben einer großen Bandbreite von Emotionen
-
Selbstlenkung: mittel- und langfristige Zielsetzungen stehen im Einklang mit eigenen Fähigkeiten; verfügt über konstruktive und prosoziale wie internale Ansprüche an das eigene Verhalten; reflektiert eigene Erfahrungen in Bezug auf Bedeutungen
Beziehung
-
Empathie: Fähigkeit, die Erfahrungen und Motive anderer zu verstehen; wertschätzt Perspektiven Anderer auch bei Nichtzustimmung; ist sich der Wirkung eigener Handlungen auf andere bewusst
-
Intimität: verfügt über befriedigende und stabile Beziehungen; engagiert sich in mehreren nahen und reziproken Beziehungen; ist in interpersonellen Beziehungen um wechselseitigen Respekt bemüht
Struktur und Beziehungsfähigkeit werden jeweils eindimensional hinsichtlich des Funktionsniveaus mittels einer 5-stufigen Skalierung beurteilt:
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Stufe 0 – gesundes, adaptives Funktionsniveau
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Stufe 1 – etwas beeinträchtigt
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Stufe 2 – mittelgradig beeinträchtigt
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Stufe 3 – schwer beeinträchtigt
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Stufe 4 – extrem beeinträchtigt
Der wesentliche Vorteil der hinsichtlich der 4 Merkmalsbereiche vorzunehmenden Einschätzung liegt darin, dass sich bei beurteilbaren Beeinträchtigungen mit Blick auf Stufe 0 (gesundes, adaptives Funktionsniveau) mögliche anzustrebende Behandlungsziele andeuten.
Die 4 Merkmalsbereiche im DSM-5-Alternativmodell erleichtern die Ausrichtung der Behandlungsziele.
Einbezug von Studiendaten. Weiter ist unschwer zu erkennen, dass hinsichtlich der Begründung dieser Dimensionen v. a. die Erkenntnisse und Ergebnisse der Bindungs- und der Theory-of-Mind-Forschung Pate gestanden haben [6]. Für dieses Beurteilungsmodell waren weitere Langzeitstudien entscheidend, die zwar eine Remission bei bis zu 90 % aller Patienten mit Persönlichkeitsstörungen über 10 bzw. 16 Jahre finden, gleichzeitig aber auch ein anhaltend deutlich beeinträchtigtes Funktionsniveau bei strukturell schwerer gestörten Personen belegen [7] [8]. Die Langzeitprognose hing zudem stärker mit Persönlichkeitszügen als mit dem spezifischen Störungstyp zusammen [9].
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DSM- und ICD-Diagnostik
Historische Entwicklung. Vorläufer der Störungskategorie der selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung finden sich bereits seit Beginn des letzten Jahrhunderts: in den Beschreibungen eines „sensitiven Charakters“ bei Kretschmer [10] und in denen der „selbstunsicheren Persönlichkeit“ bei Kurt Schneider [11]. In klinischen Studien findet die Kategorie in dem Maße Zuspruch und Verwendung, wie seit Einführung des DSM-III (1980) die Bereitschaft deutlich zurückgegangen ist, eine schizoide Persönlichkeitsstörung zu diagnostizieren, die früher zur Charakterisierung ängstlich-vermeidender Persönlichkeiten mitbenutzt wurde (vgl. [12]). Das nur noch seltene Vorkommen der schizoiden Persönlichkeitsstörung in klinischen Kontexten war übrigens einer der Gründe, die Schizoidie-Kategorie im Alternativmodell des DSM-5 zu streichen.
DSM-IV-TR im DSM-5: vermeidend-selbstunsicher
Als ein Hauptmerkmal dieser Persönlichkeitsstörung gilt in den Kriterien des DSM die übergroße Empfindsamkeit gegenüber der Ablehnung durch andere. Prototypisch erscheint weiter das Verharren in einem Konflikt zwischen Bindungs- und Autonomiebedürfnis: Die Betroffenen sehnen sich nach zwischenmenschlicher Nähe, vermeiden jedoch enge Beziehungen, um nicht zurückgewiesen zu werden. Dem entspricht ein mangelndes Selbstvertrauen in unabhängige Entscheidungen, vorrangig motiviert, sich nicht der Lächerlichkeit preiszugeben.
ICD-10: ängstlich-vermeidend
Die ICD-10 setzt einen etwas anders gelagerten Akzent: Die Kriterien betonen die (trotz der ängstlichen Vermeidung) unvermindert stark bleibenden persönlichen Bedürfnisse nach Zuneigung und Akzeptanz durch andere, die sich in der Sorge um Ablehnung widerspiegeln. Die Betroffenen möchten anderen gern näherkommen oder nahe sein und haben dennoch zugleich extreme Angst und ein Misstrauen davor, diese Bedürfnisse tatsächlich zu realisieren. Es ist dieser ungelöste Konflikt zwischen „Bindungsangst“ und „Bindungssehnsucht“, der von vielen Autoren als häufig überdauernd beobachtbares Merkmal der vermeidenden Persönlichkeitsstörung herausgestellt wird (vgl. [12]).
Stabile und veränderbare Persönlichkeitskonstrukte. McGlashan u. Mitarb. [13] haben im Kontext einer Langzeitstudie (der sog. Collaborative Longitudinal Study of Personality Disorders; vgl. [14]) die Häufigkeit relativ stabiler Persönlichkeitsmerkmale in einer Zweijahreskatamnese festzustellen versucht (mittels standardisierter Interviews durch gegenüber der Ursprungsdiagnose „blinde“ Diagnostiker). Sie fanden mit den in Klammern angegebenen prozentualen Häufigkeiten:
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„Insuffizienzgefühle“ (62 %)
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„Gefühl sozialer Unzulänglichkeit“ (62 %)
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„überempfindlich gegenüber negativer Beurteilung“ (53 %)
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„starkes Bedürfnis gemocht zu werden“ (51 %)
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„vermeidet Risiken aus Angst vor sozialer Zurückweisung“ (44 %)
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„fürchtet sich lächerlich zu machen und beschämt zu werden“ (38 %)
-
„vermeidet Jobs mit zwischenmenschlichen Kontakten“ (31 %)
Eher stabil bleiben v. a. globalere bzw. allgemeinere Persönlichkeitskonstrukte (Defizite in der Selbstbeurteilung und interpersonelle Eigenschaften), während sich verhaltensnahe Konstrukte (Vermeidung interpersoneller Jobs und soziale Ängste) verändern bzw. therapeutisch besser beeinflussen lassen.
Auf der Grundlage der Auswertungen der Collaborative Longitudinal Study of Personality Disorders [13] [14] und weiterer Studien (u. a. [12] [15]) wurde die vermeidende Persönlichkeitsstörung auf den o. g. Dimensionen des DSM-5-Alternativmodells u. a. folgendermaßen charakterisiert [1]:
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Identität: vermindertes Selbstwertgefühl mit Gefühlen der Unzulänglichkeit und Unterlegenheit
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Selbstlenkungskompetenz: unrealistische Verhaltensstandards, die zur Gehemmtheit gegenüber persönlichen Risiken und zur Vermeidung neuer Aktivitäten mit interpersonellen Kontakten beiträgt
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Empathiefähigkeit: hohe Empfindsamkeit gegenüber Kritik und Zurückweisung – mit einer gestörten Beurteilung anderer in der Weise, dass man negative ablehnende Haltungen vermutet
-
Intimitätsfähigkeit: lässt sich nur sehr ungern auf Beziehungen ein, jedenfalls so lange nicht, bis klarer wird, gemocht und akzeptiert zu werden
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Differenzialdiagnostik
Selbstunsicherheit und mangelndes Selbstvertrauen lassen sich bei einer Vielzahl psychischer Störungen beobachten. Diese symptomatischen Eigenarten dürfen nicht vorschnell mit einer ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörung (ÄVPS) verwechselt werden. Werden die spezifischen psychischen Störungen (wie Phobien, Zwangsstörungen, Depression) erfolgreich behandelt, so ist beobachtbar, dass auch die vorbestehenden Selbstunsicherheiten zurückgehen [16].
Nach wie vor gibt es eine rege Diskussion über die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der selbstunsicher-vermeidenden Persönlichkeitsstörung, der schizoiden Persönlichkeitsstörung und der sozialen Phobie (ausführlich hierzu [17]).
Selbstunsicherheit betrifft nicht nur Personen mit ÄVPS, sondern tritt symptomatisch auch im Rahmen anderer psychischer Störungen auf.
Abgrenzung gegenüber sozialer Phobie
Ein vorrangig diskutiertes differenzialdiagnostisches Problem liegt in der erheblichen Kriterienüberlappung von selbstunsicherer Persönlichkeitsstörung und sozialer Phobie, weshalb einige Autoren die Differenzierung dieser beiden Störungsbilder zunächst ablehnten (z. B. [18]). Dieses Überlappungsproblem hat in den zurückliegenden Jahren eine Vielzahl von Forschungsarbeiten stimuliert (z. B. [19] [20]; aktuelle Übersichten: [17] [21]).
Zahl und Art der Phobien. Obwohl es eine beträchtliche Anzahl von Menschen gibt, die beide Diagnosen auf sich vereinigen, finden sich deutliche Unterschiede. Danach haben Sozialphobiker zumeist nur eng umschriebene Phobien (beispielsweise vor Prüfungen, in Gruppen oder vor öffentlichen Reden), während die Zahl der ängstigenden Sozialsituationen bei selbstunsicherer Persönlichkeitsstörung erheblich größer ist und diese die unterschiedlichsten privaten und beruflichen Bereiche betreffen.
Komorbides Auftreten. Gleichzeitig wird die soziale Phobie vergleichsweise selten komorbid zu Symptomstörungen diagnostiziert, während die vermeidende Persönlichkeitsstörung bei den unterschiedlichsten Symptomstörungen (so die Schätzungen über unterschiedlichste Studien hinweg) etwa 8 – bis 10-mal so häufig (!) wie die soziale Phobie als Gleichzeitigkeitsdiagnose zu finden ist [17]. Am häufigsten wird über eine Komorbidität mit depressiven Störungen berichtet, dann absteigend bei Angst- und posttraumatischen Störungen, bei somatoformen und Zwangsstörungen, bei Alkohol- und Drogenabhängigkeit – aber in allen Fällen fast immer über 20 % der untersuchten Patienten hinausgehend [15].
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Sozialphobie oder Sozialängstlichkeit?
Aus Studienergebnissen resultiert noch ein weiteres Problem. Es ist nicht ganz sicher, ob es sich bei einer selbstunsicheren Persönlichkeit nicht um eine erst im Verlauf der Entwicklung erworbene generalisierte Sozialphobie handelt und nicht zwingend um eine seit der frühen Kindheit bestehende, persönlichkeitsbedingte Sozialängstlichkeit. Widiger hat deshalb die Ergebnisse mehrerer Studien zur Komorbidität von „selbstunsicherer Persönlichkeitsstörung“ und „generalisierter Sozialphobie“ miteinander verglichen und nachfolgende Schlussfolgerung daraus gezogen ([22], vgl. auch [19]). In allen Studien finden sich nämlich immer deutliche Unterschiede zwischen beiden Störungsbereichen.
Einerseits unterscheidet die beiden Störungsbereiche ÄVPS und Sozialphobie fast immer der Schweregrad der Störung, der bei ängstlich-vermeidend höher ausfällt. Selbstunsichere Persönlichkeiten (nicht so Sozialphobiker) fallen aber auch noch durch folgende Kriterien auf [23]:
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allgemeines Unbehagen in den meisten sozialen Situationen
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deutliche Angst vor Kritik und Zurückweisung
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ausgeprägte Schüchternheit
Für die lebenslange Entwicklung einer ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörung spricht insbesondere das Merkmal der auffälligen Schüchternheit, zu dem in der empirischen Persönlichkeitsforschung inzwischen substanzielle Prospektivstudien vorliegen, die als Beleg für die Sinnhaftigkeit der Persönlichkeitsstörung sprechen ([24]; vgl. unten: Erklärungsansätze).
Im Gegensatz zur Sozialphobie zeigt sich die ÄVPS bereits in jungen Jahren und entwickelt sich lebenslang.
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Selbstunsicher und schizoid
Varianten einer Störung? Es gibt eine Reihe von Autoren, die dezidiert der Ansicht sind, dass es sich bei der schizoiden Persönlichkeit lediglich um eine Variante der umfassender zu konzeptualisierenden selbstunsicher-vermeidenden Persönlichkeitsstörung handelt bzw. dass die schizoide und die ängstlich-vermeidende Persönlichkeit lediglich unterschiedliche Varianten ein und derselben Persönlichkeitsstörung sind [25]. Zur Begründung wird gern auf eine Studie von Alden und Capreol verwiesen [26]. Die Autoren hatten die interpersonellen Eigenarten bei 76 Personen mit einer ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörung mit dem Inventory of Interpersonal Problems (IIP-C) [27] untersucht und 2 unterschiedliche Typisierungen rekonstruieren können, die ungefähr je die Hälfte der Untersuchungsgruppe umfassten:
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Kühl-distanziert: Die eine, eher als schizoid zu bezeichnende Gruppe, lässt sich als „kühl-distanziert und sozial-vermeidend“ („cold-avoidant“) beschreiben. Die Betreffenden zeigen die Unfähigkeit, warme Gefühle auszudrücken und enge intime Beziehungen einzugehen, und hegen ein auffälliges Misstrauen gegenüber anderen Menschen.
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Nachgiebig-ausnutzbar: Die zweite Gruppe mit „nachgiebig-ausnutzbarer Vermeidung“ („exploitable-avoidant“) umfasst Personen, die trotz sozialer Angst eher Schwierigkeiten haben, sich anderen klar zu entziehen. Sie fühlen sich eher durch andere ausgenutzt, und es bereitet ihnen Mühe, anderen eine Freude zu machen.
Dieser Befund macht darauf aufmerksam, dass es innerhalb des oben angegebenen Konfliktspektrums zwischen Bindungs- versus Unabhängigkeitsangst möglicherweise gewohnheitsbedingte Vereinseitigungen geben kann.
Zwei distinkte Störungen? Auf der anderen Seite finden sich Autoren, die ebenso vehement für die Beibehaltung zweier distinkter Störungsgruppen eintreten und die für ihre Ansicht ebenfalls konzeptuelle Überlegungen (z. B. [28]) und empirische Befunde anführen, wie z. B. geringe Korrelationen zwischen Merkmalen beider Störungen aus weiteren Komorbiditätsstudien [21]. Inzwischen besteht Konsens, dass das Vorhandensein von Angst bei der selbstunsicheren Persönlichkeit als das wichtigste differenzialdiagnostische Kriterium gegenüber schizoiden Menschen angesehen werden kann; dabei spielt Angst vor öffentlicher Kritik und Zurückweisung die größte Rolle [29].
Angst ist das Hauptunterscheidungskriterium von Personen mit ÄVPS gegenüber schizoiden Personen.
Andererseits liegt die inzwischen mittels DSM-IV-TR diagnostizierbare Rate an Personen mit schizoider Persönlichkeitsstörung typischerweise bei weniger als 2 % in Klinikstudien mit größeren Patientenzahlen. Für die Task-Force zum DSM-5 war dies der wichtigste Grund, die schizoide Persönlichkeitsstörung aus dem Alternativmodell der Persönlichkeitsstörungen gänzlich zu streichen.
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Erklärungsansätze
Unterschiedliche Studien haben deutlich werden lassen, dass Personen mit stark ausgeprägten sozialen Ängsten ihre eigenen interpersonellen Fähigkeiten unterschätzen, sich eher an negative soziale Interaktionen ihres bisherigen Lebens erinnern und in Stresssituationen häufig ungünstige, negative selbstbezogene Gedanken haben [30]. Das allgemeine physiologische Erregungsniveau der Personen mit selbstunsicherer Persönlichkeitsstörung ist in unterschiedlichen sozialen Situationen stark erhöht – dies umso ausgeprägter, je häufiger zwischenmenschliche Gefahrensituationen und Krisen kognitiv als bedrohlich und gefahrvoll angesehen werden. Schließlich scheuen sich viele Betroffene grundsätzlich, Risiken einzugehen oder sich überhaupt auf neue Erfahrungen einzulassen.
Schüchternheit
Frühe Manifestation. Ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörungen bestehen als Auffälligkeiten, für die sich erste Hinweise als Schüchternheit bereits in der frühen Kindheit finden lassen. Diese betreffen zumeist grundlegende Unsicherheiten im Sozialkontakt, Angst vor negativer Bewertung und vor Ablehnung oder Zurückweisung durch andere –, und zwar vom Kindergartenalter an. Mit zunehmender Störung besteht eine zunehmende Unfähigkeit, autonome Entscheidungen zu fällen.
Ängstlicher Rückzug in der Kindheit. Wie eine Reihe von Prospektivstudien belegt, spielen für die Entwicklung von Schüchternheit und sozialer Angst sowohl Temperamentsfaktoren als auch das Bindungsverhalten der Eltern (Attachment) seit der frühen Kindheit eine wichtige Rolle (Übersicht bei [24]). Insbesondere angesichts eines ambivalent-ängstlichen Erziehungsstils der Eltern lässt sich bei weniger aktiven Kindern bereits im Kindergarten ein auffällig ängstlicher Rückzug beobachten. Dieser wird deutlich verschärft, wenn Integrationsbemühungen der Erziehungspersonen unterbleiben und sich das Verhalten bis in die Schulzeit hinein nicht ändert. Zunehmende Unsicherheiten, Hemmungen gegenüber Gleichaltrigen und Ängste, wegen der eigenen Zurückhaltung nicht beachtet zu werden, können Rückzugstendenzen massiv verstärken und einen unglücklichen Teufelskreis in Gang setzen. Ein zunehmender Mangel an Freundschaftsbeziehungen kann bereits im Übergang zur Jugendzeit in Einsamkeit und depressive Verstimmungen münden [31].
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Rückzug und Entfremdung
Spiralförmige Entwicklung. Die Schüchternheitsforschung hat eine Reihe von Hypothesen bestätigt, die bereits Mitte des vorigen Jahrhunderts auf einen sozial-vermeidenden Persönlichkeitsstil aufmerksam machten. Autoren aller Therapieschulen verweisen in diesem Zusammenhang gern auf Überlegungen von Horney u. Sullivan (vgl. [32]). Sowohl Horney [33] als auch Sullivan [34] hatten darauf hingewiesen, dass man bei der Erklärung sozialer Angst und Selbstunsicherheit über die elterlichen Erziehungsstile als vorrangige Entwicklungsbedingung hinausblicken müsse. Beide postulieren eine zusätzlich bedeutsame Wechselwirkung zwischen Schüchternheit und dem Ausgrenzungsverhalten durch Gleichaltrige, die sich auch in Prospektivstudien eindrücklich wiederfindet [3].
Sowohl bei andauerndem Rückzug als auch bei sozialer Ausgrenzung kann kein sinnvolles Selbstkonzept ausgebildet werden. Über kurz oder lang kommt es nicht nur zu einer Entfremdung anderen gegenüber, sondern es kann auch eine sichtbare Selbstentfremdung resultieren.
Nach dieser Sicht folgt die Störungsentwicklung einem spiralförmigen Wechselprozess, in dem sich wandelnde soziale und gesellschaftliche Umgangsformen nicht oder nur verzögert mitgelernt werden, weil man sich ihnen und anderen wegen eines bereits vorhandenen Entwicklungsrückstands nicht angemessen aussetzen kann oder will – oder von Gleichaltrigen von einer Partizipation daran ausgeschlossen wird.
Die Wechselwirkung zwischen Schüchternheit und fehlender Partizipation unter Gleichaltrigen verstärkt die Störung.
Für die zunehmende Tendenz, soziale Situationen zu meiden, haben viele Betroffene eine Reihe einsichtiger (rationaler) Gründe [35]: Sie möchten keine unabhängigen Entscheidungen fällen, um andere nicht zu verletzen. Bei abnehmender Kompetenz haben sie Angst, sich auf enge Beziehungen einzulassen oder aber neue emotionale Erfahrungen zu machen. Beides folgt der subjektiven Befürchtung, dass sie bei einem Eingehen von Bindungen oder beim Eintritt in risikoreiche Herausforderungen den ihnen verbliebenen „Rest an Selbstsicherheit“ auch noch einbüßen könnten.
Konflikte in Paarbeziehungen. Im sozialen Kontakt wirken die Betroffenen häufig unzufrieden, gequält und distanziert, auf Außenstehende bisweilen zäh und stockend [36]. Potenzielle Partner durchlaufen oft jahrelang subtile „Prüfungen“, bis wirklich Intimität zugelassen werden kann. Beziehungen gestalten sich daher häufig konfliktbeladen. Im Spannungsfeld zwischen dem Bedürfnis nach Zuneigung und misstrauischer Vorsicht lösen gerade Wahrnehmungen von Verbundenheit und möglicher Abhängigkeit starke Angst vor Enttäuschung und Zurückweisung aus. Die aktiv eingeleiteten Rückzugsmanöver provozieren nicht selten Beziehungszusammenbrüche und damit eine Wiederholung der Befürchtungen.
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Möglichkeiten der Behandlung
Auch wenn dieses Störungsbild erst mit dem DSM-III (seit 1980) offiziell in die Klassifikationssysteme übernommen wurde, dürften Patienten, auf die Kriterien der selbstunsicher-ängstlichen Vermeidung zwischenmenschlicher Beziehungen zutreffen, immer schon einen Großteil der Patienten ausgemacht haben, die von den unterschiedlichsten Psychotherapieangeboten gut profitieren konnten.
Psychoanalyse und Interpersonelle Psychotherapie
Vonseiten der Psychoanalyse werden keine spezifischen Einschränkungen hinsichtlich der besonderen Anlage oder Struktur des psychotherapeutischen Angebots formuliert. Die Wahl der spezifischen Therapieform (psychodynamische Kurzzeittherapie oder die Langzeitbehandlung mit dem Couchsetting) sollte vom Wunsch des Patienten abhängig gemacht werden [37]. In jedem Fall wird ein Gewinn für die Patienten aus Therapieangeboten erwartet, in denen die Übertragungssituation zum Therapeuten selbst Raum und Möglichkeiten zur Reflexion zwischenmenschlicher Unsicherheiten und Beziehungsstörungen bietet.
Entsprechendes gilt für die Vorgehensweisen der Interpersonellen Psychotherapie. Im Unterschied zur psychoanalytischen Strategie wird bei letzterem Vorgehen gelegentlich zur Intensivierung der Lernerfahrung direkt dazu angeregt, assertiveres Verhalten in der Therapie oder übend im Lebensumfeld zwischen den Sitzungen auszuprobieren [38].
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Verhaltenstherapie und Kognitive Therapie
Soziale Unsicherheiten, soziale Phobien und soziale Ängste zählen mit dem zugehörigen Forschungsbereich der sozialen Kompetenz schon seit den 1970er-Jahren zu den bestuntersuchten Störungsbereichen der Verhaltenstherapie (vgl. [23] [39]). Entsprechend liegen hierzu die am weitesten empirisch abgesicherten Therapiekonzepte vor. Prototypisches Verfahren in der Behandlung ängstlich-vermeidender Patienten ist das Training sozialer Fertigkeiten, das zumeist in Therapiegruppen durchgeführt wird [40].
Das Training sozialer Fertigkeiten ist eine der Hauptsäulen der Verhaltenstherapie bei ÄVPS.
Im Social-Skills-Training wird eine Vielzahl von Techniken zusammengestellt, die in unterschiedlichen Kombinationen je nach wünschenswerter Zielsetzung zur Anwendung kommen können. Die wichtigsten Techniken sind u. a.
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Verhaltenseinübung
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Modellvorgabe
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direkte Instruktionen
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gezielte Hilfestellungen
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Verhaltensrückmeldungen
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Rollenspiele
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Videofeedback
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direkte Übungen in Alltagssituationen
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Empirie
Verhaltenstherapie. Zur Gruppenverhaltenstherapie bei selbstunsicheren Persönlichkeitsstörungen liegt eine Reihe empirischer Studien vor. Drei Studien von einer Arbeitsgruppe um Alden berichten von deutlichen Unterschieden einer behandelten Gruppe ängstlich-vermeidender Patienten gegenüber einer Wartekontrollgruppe [26] [41] [42]. Diese Unterschiede betrafen v. a. die Zahl zunehmender Sozialkontakte, die Abnahme des Vermeidungsverhaltens und die Zufriedenheit mit sozialen Unternehmungen. Renneberg führte mit ängstlich-vermeidenden Patienten ein verhaltenstherapeutisches Intensivtraining durch [43] [44]. Dieses wurde kompakt in Kleingruppen jeweils über 4 ganze Tage hinweg angeboten und bestand in einer systematischen Desensibilisierung, einem Verhaltenstraining unter Alltagsbedingungen und einer Phase der Selbsterprobung des Gelernten ohne therapeutische Begleitung. Auch in dieser Studie zeigten die meisten Patienten Verbesserungen in den wesentlichen Kontrollmaßen (soziale Angst, Depressivitätswerte, soziale Anpassung).
Für das Sozialtraining ist die Gruppenverhaltenstherapie besonders geeignet.
Bei der Bewertung dieser Befunde bleibt zu bedenken, dass nicht alle Patienten im erhofften Sinne und zum Teil recht unterschiedlich profitierten. So berichten Cappe und Alden, dass sich Gefühle der Einsamkeit und des Alleingelassenseins durch das Sozialtraining schwerer beeinflussen ließen [42]. In einer weiteren Studie von Alden zeigte sich, dass trotz deutlicher Änderungen nicht davon gesprochen werden könne, dass die Patienten etwa ein Funktionsniveau erreicht hätten, das als „normal“ zu bezeichnen sei [41]. Es könnte sich also lohnen, bei selbstunsicheren Persönlichkeitsstörungen an eine zeitliche Verlängerung der Therapieangebote oder weitere Zugänge alternativ oder ergänzend zur Gruppentherapie zu denken.
In einigen Fällen sollte die Gruppentherapie mit weiteren Verfahren kombiniert werden.
Wirksamkeit. Zusammengenommen belegen die Ergebnisse dieser Studien, dass sich Patienten mit diesem Störungsbild im Rahmen der für die Richtlinienpsychotherapien üblichen Sitzungskontingente erfolgreich behandeln lassen. In den verhaltenstherapeutisch orientierten Therapiestudien wurden v. a. Techniken eingesetzt, die sich bei der Therapie der sozialen Phobie und beim Training sozialer Kompetenzen bewährt haben. In einigen Therapiestudien wurden außerdem Methoden der kognitiven Umstrukturierung eingesetzt, wobei in allen Studien der besondere Wert der therapeutischen Beziehung (Einzeltherapie) bzw. der Gruppenkohäsion (in Gruppentherapien) hervorgehoben wurde.
Einzel- und Gruppentherapie äquivalent? Auch wenn die Ergebnisse der Therapieforschung in Bezug auf die Effektivität die Äquivalenz von Einzel- und Gruppentherapie nahelegen, dürfte in der täglichen Versorgungspraxis entweder Einzeltherapie alleine oder die Kombination von Einzel- und Gruppentherapie die Regel sein. Wann immer möglich, sollten diese Patienten jedoch auch die Gelegenheit erhalten, an einem Gruppentraining sozialer Kompetenzen teilzunehmen, das idealerweise auch Expositionen sozialphobischer Situationen einschließt.
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Einzeltherapie: zusätzlich sinnvoll, gelegentlich notwendig
Die häufig zur Anwendung gebrachten Trainings sozialer Fertigkeiten entsprechen weitgehend dem, was in der Behandlung sozialer Phobien zum Einsatz kommt. Offenkundig ist bei selbstunsicheren Persönlichkeitsstörungen angesichts der noch nicht ganz befriedigenden Ergebnisse mit diesem Vorgehen von etwas anderen und tieferliegenden Störungsvoraussetzungen auszugehen. Obwohl ein (Gruppen-)Training sozialer Kompetenzen unverzichtbar bleibt, wurde deshalb vorgeschlagen, an die Möglichkeit der Einrichtung einer zeitgleichen Einzeltherapie zu denken [45]. Diese muss nun nicht unbedingt nur verhaltenstherapeutisch orientiert sein, sondern kann durchaus einem anderen Grundansatz folgen.
Eine parallel erfolgende Einzeltherapie kann das Training sozialer Kompetenzen ggf. ergänzen.
Vorteile. Der Vorteil einer ergänzenden Einzelbehandlung liegt darin, dass sie einerseits längerfristiger geplant werden könnte und dass damit der Reflexion allgemeiner Lebensprobleme und Lebensziele der Patienten erheblich mehr Raum gegeben wird. Aufgrund der häufig lebenslang bestehenden Unsicherheiten sollten den Patienten über eine längere Zeit hinweg ausreichend Möglichkeiten eingeräumt werden, sich über die Realität der eigenen Unsicherheiten und Widersprüche, in denen sie leben, klarer zu werden. Genau dies lässt sich besser in einzeltherapeutischen Gesprächen als in Gruppen realisieren.
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Das therapeutische Vorgehen
Zentrale Bausteine der Therapie
Modell der Störungsdynamik. In Hinblick auf die Therapieplanung kann sich der Therapeut an einem Modell orientieren (Abb. [1]). Dieses Modell geht davon aus, dass folgende 3 Komponenten bei der Störungsdynamik der ÄVPS eine wesentliche Rolle spielen:
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ein ausgeprägt negatives Selbstkonzept
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soziale Ängste mit entsprechendem Vermeidungsverhalten
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soziale Kompetenzdefizite
Dabei bedingen und verstärken sich die Faktoren wechselseitig und tragen damit dazu bei, dass die Betroffenen kaum mehr neue bzw. korrigierende Erfahrungen machen können, sodass letztlich nur noch eine generalisierte und dabei zugleich „optimierte“ Vermeidung Schutz und Sicherheit bietet. Dies impliziert auch, dass positiv besetzte Annäherungsziele in den Hintergrund treten und stattdessen Vermeidungsziele das Leben der Betroffenen weitgehend bestimmen.
Die 3 Komponenten des Störungsmodells beeinflussen sich gegenseitig und lassen neuen Erfahrungen keinen ausreichenden Raum.
Annäherungs-Vermeidungskonflikt. Konflikttheoretisch gesprochen befinden sich ängstlich-vermeidende Personen in einem permanenten Annäherungs-Vermeidungskonflikt, der durch das Bedürfnis nach Bindung und bedingungsloser Akzeptanz einerseits und der Angst vor Zurückweisung, Kritik und Beschämung andererseits gekennzeichnet ist. Da bei der Aktivierung dieses Konfliktes die Vermeidungsziele dominieren, werden Annährungsziele häufiger aufgegeben als realisiert.
Bedingungslose Wertschätzung. Bei der Gestaltung der therapeutischen Beziehung sollte deshalb v. a. in der Anfangsphase der Therapie dem Bedürfnis des Patienten nach bedingungsloser Wertschätzung maximal entsprochen werden und Verhaltensweisen, die sich als Zeichen potenzieller Kritik oder Zurückweisung interpretieren lassen, so weit als möglich unterlassen werden. Selten werden ängstlich-vermeidende Personen erlebte Kritik jedoch offen ansprechen. Viel häufiger werden sie mit passiv-aggressiv anmutenden Verhaltensweisen auf wahrgenommene Kritik oder Zurückweisung reagieren. Beispiele hierfür sind: nur noch zögerlich über das angesprochene Thema berichten, längere Zeit schweigen oder nur einsilbig und mit zeitlicher Verzögerung antworten.
Überforderung validieren. In der Anfangsphase der Therapie sollte der Therapeut solche Verhaltensweisen nicht hinterfragen oder gar auf eine Beziehungsklärung drängen. Beides würde den Patienten überfordern und mit der Gefahr eines endgültigen Bruchs der therapeutischen Allianz einhergehen. Stattdessen sollte der Therapeut das Thema aktiv wechseln und die Überforderung des Patienten validieren (z. B. „Ich kann mir vorstellen, dass es nicht einfach für sie ist, mir davon zu erzählen. Nach allem, was sie erlebt haben, ist es nicht verwunderlich, dass es gerade ziemlich schmerzhaft ist, durch unser Gespräch wieder daran erinnert zu werden!“) oder sich seinerseits in angemessener Weise selbstkritisch äußern (z. B. „Meine Kollegen aus meiner Intervisionsgruppe haben mir einmal rückgemeldet, dass ich manchmal so sensibel bin wie ein Elefant im Porzellanladen! Es ist sicher besser, wenn wir das Thema wechseln.“).
Gerade das (dosierte!) Eingestehen eigener kleiner Schwächen, gelegentlicher Selbstzweifel oder die Schilderung von Situationen, in denen man sich nicht souverän verhielt, kann es selbstunsicheren Patienten erleichtern, sich zu öffnen und von schambesetzten Themen zu berichten, da sie ihren Therapeuten dann als weniger bedrohlich und übermächtig erleben. Darüber hinaus bietet der Therapeut sich als ein Modell für einen selbstsicheren Umgang in Hinblick auf eigene Versäumnisse oder Schwächen an, der nicht mit einer Selbstabwertung verbunden ist.
Rückmeldung zu Verhaltensweisen. Wenn sich dann im weiteren Therapieverlauf eine tragfähige therapeutische Arbeitsbeziehung entwickelt hat, kann es auch sinnvoll sein, den Patienten mit seinen submissiven, oft jedoch auch distanziert-feindseligen Verhaltensweisen zu konfrontieren und ihm deren Wirkung in Form einer dosierten Selbstoffenbarung zurückzumelden. Dabei sollte v. a. auch das Ziel verfolgt werden, den Patienten darin zu unterstützen, seine Anliegen in angemessener Form zu kommunizieren [46].
So könnte der Therapeut seinem Patienten in einer fortgeschrittenen Sitzung Folgendes zurückmelden: „Ich erlebe unsere heutige Sitzung als ziemlich zäh und mühsam. Ich komme mir dabei immer mehr wie ein Polizist vor, der ein Verhör führt, und nicht wie ein Therapeut, der sich darum bemüht seinem Patienten zu helfen. Können Sie das nachvollziehen? Was glauben Sie wie es mir jetzt gerade geht?“
Eine dosierte Selbstoffenbarung kann dem Patienten in einem späteren Therapiestadium helfen, sich selbst mehr zu öffnen.
Graduierter und multimodaler Therapieansatz. Neben der kontinuierlichen Arbeit auf der Beziehungsebene, stellen die im Störungsmodell dargestellten Problembereiche die zentralen Ansatzpunkte der Therapie dar und sollten mithilfe eines multimodalen Behandlungsansatzes bearbeitet werden (s. Abb. [1]). Eine zentrale Rolle kommt dabei den sozialen Ängsten und dem damit verbundenen Vermeidungsverhalten zu. So konnte Alden in seiner Studie zeigen, dass die graduierte Exposition der sozialen Ängste den entscheidenden Baustein der Therapie darstellt [41].
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Störungsbezogene Informationsvermittlung und Therapieplanung
Diagnose am Modell erläutern
Was die Therapieplanung selbst angeht, so sollte der Patient nach erfolgter Diagnostik und Anamneseerhebung in wertschätzender Form über seine Persönlichkeitsstörung informiert werden. Die bei ihm vorhandenen Merkmale der ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörung sollten dabei als personenspezifische Coping-Muster interpretiert werden, die sich beim Vorliegen eines bestimmten, weitgehend genetisch determinierten Temperaments einerseits und schwieriger Sozialisationsbedingungen andererseits entwickelt haben.
Im Sinne einer störungsbezogenen Informationsvermittlung kann dann auf das in Abb. [1] dargestellte Modell zurückgegriffen werden, wobei dieses zunächst in allgemeiner Form erläutert und dann in seiner Anwendung auf den individuellen Fall des Patienten dargestellt wird. Hierzu kann auf das in Abb. [2] dargestellte Modell zurückgegriffen werden. Ausgehend von den biografischen Erfahrungen des Patienten und seiner Lerngeschichte kann die Entstehung der Persönlichkeitsstörung meist schlüssig abgeleitet werden.
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Erreichbare Ziele formulieren
Ausgehend von der kollaborativen Erarbeitung des Störungsmodells sollten mit dem Patienten dann realistische Therapieziele vereinbart werden, die sich an den zentralen Komponenten der Störung orientieren und alle 3 Problembereiche abdecken (s. Abb. [2]). Da es sich hierbei um Annäherungs- und nicht um Vermeidungsziele handelt, sollte der Therapeut besonderen Wert darauf legen, die Motivation für deren Erreichung zu stärken.
Wann immer möglich, sollte der Therapeut zur Motivation auf die Ressourcen des Patienten zurückgreifen.
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Ziele auf die eigene Situation anpassen
In einem weiteren Schritt gilt es dann, die noch vagen Ziele zu präzisieren. Hierzu sollten für alle 3 Problembereiche situationsbezogene Verhaltensweisen erarbeitet werden, anhand derer deutlich wird, wie sich die Zielerreichung im Alltag darstellen würde.
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Nennt ein Patient beispielsweise das Ziel „beruflich erfolgreich“ zu sein, dann könnte sich dies in der Bewältigung folgender Situationen zeigen: seine Kompetenzen in einem Bewerbungsgespräch überzeugend darstellen, einen Vortrag vor mehreren Personen halten können, sich in der Kantine mit Kollegen unterhalten usw.
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In Bezug auf ein positives Selbstkonzept könnte er beispielsweise folgende Einstellungen in Bezug auf sich selbst formulieren: „Wenn ich mich anstrenge und durchhalte, kann ich meine Ziele erreichen.“ „Ich habe Seiten an mir, die mich zu einem liebenswerten Menschen machen.“ „Selbstkritisch zu sein ist eine besondere Stärke von mir.“
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In Bezug auf die soziale Kompetenz könnte er folgende Fertigkeiten nennen: Kollegen um Hilfe und Unterstützung bitten, eigene Anliegen vorbringen und seine Meinung mit Nachdruck vertreten.
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Flexible Reihenfolge der Therapiestufen
Die Reihenfolge der Bearbeitung der einzelnen Komponenten nach dem Modell der ängstlich-vermeidenden Trias hängt wiederum vom Schweregrad der Störung, der Therapiemotivation und den Zielen des Patienten ab.
Therapie des negativen Selbstkonzepts. Bei schwerer beeinträchtigten Patienten mit einer (zunächst) ambivalenten Therapiemotivation sollte mit der Arbeit am negativen Selbstkonzept begonnen werden, da dies oft mit dem Aufbau einer positiven Erwartungshaltung gegenüber der Therapie und der Etablierung einer tragfähigen therapeutischen Beziehung verbunden ist. Auch gilt es zu berücksichtigen, dass die damit verbundene Selbstöffnung für den Patienten bereits den Charakter einer prolongierten Exposition hat und er hierdurch auf die Durchführung von Expositionen außerhalb des Therapiesettings vorbereitet wird.
Meist ist es günstiger, die Phase der Therapie am negativen Selbstkonzept im Einzelsetting durchzuführen, da den Patienten die Teilnahme an einer Gruppentherapie leicht überfordern könnte und deshalb mit dem erhöhten Risiko eines Therapieabbruchs einhergeht.
Expositionstherapie der sozialen Ängste. Bei Patienten, die ein höheres psychosoziales Funktionsniveau und eine gut ausgeprägte Therapiemotivation aufweisen, empfiehlt es sich hingegen nach der diagnostischen Phase und der Psychoedukation mit der Therapie der sozialen Ängste zu beginnen. Begleitend hierzu kann dann an der Relativierung des negativen Selbstkonzepts gearbeitet werden, das durch die eintretenden Erfolge zunehmend infrage gestellt wird. Bedingt durch die Diskrepanz zwischen erfolgreich durchgeführten Expositionen einerseits und dem negativen Selbstkonzept andererseits, entsteht eine zunehmende kognitive Dissonanz, die der Therapeut nützen kann. Auch das häufig beobachtete Phänomen, dass Patienten mit sozialen Ängsten ihre objektiven Erfolge bei der Durchführung von Expositionen abwerten oder relativieren, lässt sich im Sinne einer Dissonanzreduktion erklären. Der Therapeut sollte den Patienten deshalb schon vor der Durchführung der Expositionen auf dieses Phänomen vorbereiten und gegensteuern.
Sozialtraining. Im weiteren Therapieverlauf können dann die sozialen Defizite thematisiert werden. Da die Ängste vor Bloßstellung und öffentlicher Beachtung in der Regel im Rahmen der Expositionstherapie bearbeitet wurden, gilt es hier v. a. Skills in Bezug auf die Durchsetzung eigener (berechtigter) Interessen, das Vertreten der eigenen Meinung, Nein-Sagen und sich abgrenzen sowie der Kontaktaufnahme und Kontaktgestaltung aufzubauen und einzuüben.
Während die Arbeit am negativen Selbstkonzept und an den sozialen Ängsten auch einzeltherapeutisch bearbeitet werden kann, sollte das Training sozialer Kompetenzen in jedem Fall in der Gruppe und nach Möglichkeit auch mit Videofeedback durchgeführt werden.
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Angstmanagement als Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie
Da der Erwerb von Fähigkeiten zur situationsadäquaten Bewältigung sozialer Ängste und dysphorischer Affekte einen Schlüssel für eine erfolgreiche Therapie darstellt, sollten Patienten mit einer ÄVPS verschiedene Möglichkeiten der Angstbewältigung vermittelt bekommen. Dies schließt den Einsatz von Entspannungs- und Konfrontationsverfahren ein. Zu Beginn der Interventionsphase ist es oft sinnvoll, dem Patienten ein Entspannungsverfahren zu vermitteln. Bewährt hat sich hierbei die progressive Muskelrelaxation (PME) nach Jacobson, da diese vergleichsweise einfach zu erlernen ist [47].
Das Erlernen von Entspannungsverfahren (z. B. PME nach Jacobson) dient der Angstbewältigung.
Wichtig ist, dass der Therapeut selbst dem Patienten das Entspannungsverfahren vermittelt, auch wenn der Einsatz entsprechender CDs für das Üben zwischen den Sitzungen sinnvoll ist. Auf diese Weise kann die beziehungsstiftende Funktion der PME genützt werden. Zudem bahnen sich so positive Assoziationen zwischen dem Erleben von Entspannung und dem therapeutischen Setting sowie der Person des Therapeuten.
Entspannung gezielt nutzen. Wenn der Patient gelernt hat Entspannungsreaktion zuverlässig auszulösen, kann er diese Fertigkeit einsetzen, um komplexere soziale Situationen erfolgreich zu bewältigen. Diese sind dadurch gekennzeichnet, dass eine überschießende Angstreaktion zu einer Verhaltenshemmung führt, die ein funktionales Verhalten unmöglich machen und damit Misserfolge nach sich ziehen. Typischerweise ist dies bei Prüfungen, Bewerbungsgesprächen oder dem Halten von Vorträgen der Fall. Gelingt es dem Patienten in solchen Situationen, durch die Anwendung von PME seine Ängste in einem für ihn tolerierbaren Bereich zu halten, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, die Situation erfolgreich zu meistern.
Gezielt eingesetzte Entspannungstechniken erleichtern das Bewältigen der Angstsituationen.
In der Regel sollte bei der Exposition der Situationen graduiert vorgegangen werden. Bei ausgeprägter Angstneigung kann es zudem indiziert sein, die Situationen zunächst in sensu darzubieten.
Immer dann, wenn dysfunktionale Bewertungen, die durch die Aktivierung des negativen Selbstkonzepts ausgelöst werden, sich störend auf den therapeutischen Prozess auswirken, sollten diese thematisiert und mithilfe von Techniken der Kognitiven Verhaltenstherapie (z. B. sokratischer Dialog, Reattribuierung usw.) relativiert werden.
Angstexpositionen – Flooding. Neben dem skizzierten Angstbewältigungstraining können auch massierte Angstexpositionen (Flooding) zum Aufbau von mehr Selbstsicherheit durchgeführt werden (s. Abb. [2]). Das Ziel besteht hierbei nicht darin, den Patienten darin zu unterstützen, komplexe und angstauslösende soziale Situationen erfolgreich zu bewältigen (also beispielsweise eine Prüfung zu bestehen), sondern die Erfahrung zu machen, auch situationsbezogene, panikartige soziale Ängste aushalten zu können und dabei die Erfahrungen zu machen, dass deren Intensität nachlässt. Die Voraussetzung hierfür ist, dass die nötigen Verhaltensweisen trotz der erlebten Angst durchgeführt werden können.
Erst mit einer bestimmten Verweildauer des Patienten in der angstauslösenden Situation kann es zu einer Habituation kommen.
Beispiele für solche Expositionen sind: in der Fußgängerzone mit einem Regenschirm an einem Sonnentag durch die Stadt zu laufen und eine Tigerente hinter sich herziehen usw. Im Verlauf solcher Situationen machen die Patienten oft die Erfahrung, dass erlebte Angst in ihrer Intensität nachlässt und das Ausmaß an öffentlicher Beachtung und ausgedrücktem Missfallen geringer als erwartet ausfällt.
Selbstsicherheit erhöhen. Schließlich können auch gut vorbereitete Verhaltensexperimente dazu beitragen, die Selbstsicherheit des Patienten zu erhöhen. Hierbei formuliert der Patient möglichst spezifische und v. a. überprüfbare Hypothesen, die seinem negativen Selbstkonzept entsprechen. Anschließend begibt sich der Patient in eine Situation, deren Ausgang eine Aussage darüber erlaubt, ob seine Hypothese zugetroffen hat oder nicht. Beispielsweise könnte ein Patient die Hypothese aufstellen, dass keiner seiner Kollegen mit ihm die Mittagspause verbringen möchte. Um diese Hypothese zu überprüfen, wäre es erforderlich, dass er alle seine Kollegen fragt, ob sie mit ihm zum Mittagessen gehen. Das Beispiel zeigt auch, dass sich der Therapeut bei der Konstruktion solcher Experimente relativ sicher sein sollte, dass sich die Hypothese des Patienten nicht bestätigen wird.
Mit individuell formulierten Hypothesen aus seinem Selbstkonzept soll sich der Patient einer Situation stellen, die diese Hypothese dann widerlegt.
Soziale Kompetenzen trainieren. Bei den meisten Patienten dürfte zudem ein Training sozialer Kompetenzen indiziert sein – nach Möglichkeit im Gruppenformat durchgeführt. Eine günstige Therapiedosis liegt hierbei im Bereich von 10 – 15 Sitzungen von je 100 Minuten Dauer (Gruppenformat). Als sehr praktikabel hat sich hierbei die Orientierung am Training sozialer Kompetenzen nach dem Manual von Hinsch und Pfingsten erwiesen [48]. Dabei sollten sowohl vorgegebene Standardsituationen als auch von den Patienten individuell festgelegte Situationen eingeübt werden.
Das Training sozialer Kompetenzen erfolgt am besten im Gruppenformat.
Bei der Durchführung des Manuals bei Patienten mit einer selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung kann es sinnvoll sein, kleinschrittiger vorzugehen, gegebenenfalls Techniken der Angstbewältigung (s. o.) einzusetzen, sich mehr Zeit zu nehmen Widerstandphänomene zu bearbeiten, primär mit positiver Verstärkung zu arbeiten und kritische Rückmeldungen nur sehr behutsam einzusetzen.
Der 32-jährige, arbeitslose Dipl.-Volkswirt Herr W. berichtet im Aufnahmegespräch, dass er kaum noch das Haus seiner Eltern verlassen würde. Ein Auszug käme schon aus finanzieller Sicht aktuell nicht infrage. Auch seien für ihn alle Aktivitäten außerhalb des Hauses belastend. Muss er das Haus dennoch verlassen, dann gerät er in eine extreme, ängstlich getönte Anspannung, die er durch ein betont „cooles“ und distanziert-unbeteiligt wirkendes Auftreten zu überspielen versucht. Lediglich bei der Arbeit im Garten seiner Eltern würde er sich sicher und entspannt fühlen. Nach der Therapiesitzung verlässt Herr W. sichtlich erschöpft und schweißgebadet den Therapieraum.
Konflikt zwischen Annäherungs- und Vermeidungszielen
Herr W. berichtet, dass er bereits seit 3 Jahren beabsichtigt, eine Psychotherapie zu beginnen. Allerdings hätten ihn der oft sehr sachlich kühle Text auf den Anrufbeantwortern der kontaktierten Psychotherapeuten oder deren Verweis auf längere Wartzeiten davon abgehalten, sich tatsächlich in Behandlung zu begeben. Erst auf das massive Drängen seiner Eltern hin und deren aktive Unterstützung bei der Auswahl der Klinik und der Anmeldung, hätte er den Mut gefasst, sich in Behandlung zu begeben. Allerdings wisse er nicht, ob er die Behandlung durchhalten würde, da ihn schon die Situation im Speisesaal der Klinik überfordern würde.
Personenspezifische Coping-Muster
Die Entwicklung von Herrn W. war durch den Umstand geprägt, dass beide Eltern als Lehrer tätig waren und Herr W. das Gymnasium besuchte, in dem sein Vater beschäftigt war. Seine Eltern äußerten sich zum einen oft kritisch in Bezug auf seine Schulleistungen und erwarteten von ihm stets vorbildliches Verhalten. Zum anderen versuchte ihn seine Mutter vor schwierigen Situationen zu beschützen, sodass sich bei Herrn W. kein ausreichendes Selbst-Effizienzerleben in Bezug auf die Bewältigung schwieriger sozialer Situationen entwickelte. Stattdessen begann er potenziell ängstigende Situationen zu vermeiden und beschäftigte sich mit PC-Spielen und dem Lesen von Science-Fiction-Romanen. Um sich zu schützen, begann er zunehmend sich arrogant und distanziert zu verhalten, was ihm in der Klassengemeinschaft den Ruf des „arroganten Lehresohns“ einbrachte. Er wurde deshalb oft gehänselt und aus gemeinsamen sozialen Aktivitäten ausgeschlossen. Auch wurde er bei verschiedenen Anlässen in der Öffentlichkeit gedemütigt, was sein Rückzugsverhalten weiter verstärkte.
Training in Bezug auf realistische Ziele
Für Herrn W. war u. a. der Eintritt in das Berufsleben ein wichtiges Therapieziel. Aus diesem Grund wurde die Durchführung eines Bewerbungsgesprächs als eine für ihn relevante Situation definiert. Nachdem er in einem ersten Schritt progressive Muskelrelaxation (PME) gelernt und eingeübt hatte, wurde mit ihm der Ablauf eines typischen Bewerbungsgesprächs zunächst vorbesprochen und dann im Rollenspiel mit dem Therapeuten eingeübt. Während des Gesprächsverlaufs wendete Herr W. immer wieder die Kurzform von PME an, indem er sich gedanklich seine Ruheformel vorsagte und sich für einen kurzen Moment auf seine Atmung konzentrierte. Die positive Bewältigung der ersten Gespräche trug erheblich dazu bei, die Selbst-Effizienz-Erwartung des Patienten zu verbessern. Schwieriger war es für Herrn W. dann, die fiktiven Bewerbungsgespräche im Rahmen der Gruppentherapie mit unterschiedlichen Rollenspielpartnern durchzuführen, was ihm jedoch erfolgreich gelang. Da ein reales Vorstellungsgespräch während des Klinikaufenthalts nicht möglich war, wurde ein relativ realistisches Gespräch mit dem Personalleiter der Klinik vereinbart, der vorab instruiert wurde, das Gespräch so zu führen, als würde es sich bei Herrn W. um einen echten Bewerber handeln. Hierbei handelte es sich zugleich um das „Top Item“ der innerhalb der stationären Therapie zu realisierenden Angsthierarchie (in Bezug auf Bewerbungsgespräche).
Gruppentraining sozialer Kompetenzen
Herr W. nahm zusammen mit einigen Mitpatienten der Station an einem Gruppentraining sozialer Kompetenzen teil. Vor allem die ersten Sitzungen hatten für ihn den Charakter von Expositionen, da die Durchführung von Rollenspielen vor der Gruppe bei ihm ausgeprägte Bewertungsängste auslöste. Kurzzeitig erwog Herr W. deshalb, das Training abzubrechen. In der parallel durchgeführten Einzeltherapie konnte er jedoch dazu ermutigt werden, „die Flucht nach vorne“ vorzunehmen und den anderen Gruppenmitgliedern von seinen Ängsten zu berichten. Diese reagierten verständnisvoll und konnten durch ihr Feedback auch einige irrationale Befürchtungen von Herrn W. in Bezug auf seine sozialen Fertigkeiten relativieren, sodass er sich dazu entschied, in der Gruppe zu bleiben. Es gelang ihm dann auch zunehmend besser, sich auf die Rollenspiele einzulassen, sodass er von dem Training profitieren konnte.
Modifikation des negativen Selbstkonzepts und neue Ziele
In den letzten Wochen seiner stationären Therapie sprach Herr W. auch seinen Wunsch nach einer Partnerschaft an. Abgesehen von wenigen kurzen Beziehungen als Jugendlicher hatte er bisher noch keine intime Beziehung. Im Zusammenhang mit dieser Thematik wurden erneut seine dysfunktionalen Einstellungen in Bezug auf sein Äußeres und seine Einschätzung, als Partner nicht zu genügen, herausgearbeitet. Dies war für Herrn W. gleichermaßen schmerzhaft wie befreiend, da er zum ersten Mal in seinem Leben offen über seine Sicht von sich selbst sprechen konnte. Den Aufenthalt bewertete Herr W. insgesamt als erfolgreich. Er schätzt sich als selbstbewusster ein, das Ausmaß seiner sozialen Ängste hat sich deutlich verringert und er kann deutlich unbeschwerter mit anderen Menschen in Kontakt treten. Er hat seinen Auszug von zu Hause vorbereitet und plant, sich nach seiner Entlassung auf freie Stellen zu bewerben.
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Die Relativierung des negativen Selbstkonzepts
Wie oben dargestellt, sollten bereits zu Beginn der Therapie die negativen Selbstkonzeptanteile bearbeitet werden. Dies sollte v. a. dazu dienen:
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die therapeutische Beziehung zu stärken
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die Therapiemotivation zu verbessern
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die positive Verarbeitung von Therapieerfolgen zu ermöglichen
Hingegen sollte erst zu einem späteren Zeitpunkt der Therapie der Fokus auf die Relativierung der negativen Selbstkonzeptanteile gelegt werden. Hierfür spricht der Umstand, dass es durch die Reduktion der sozialen Ängste und die Verbesserung der sozialen Kompetenz bereits zu einer Modifikation des negativen Selbstkonzepts kommt. Außerdem erweisen sich Interventionen, die auf die Modifikation des negativen Selbstkonzepts abzielen, als wenig nachhaltig, wenn anschließend die Erfolge auf der Handlungsebene ausbleiben und sich der Patient in seinem Alltag außerhalb der Therapie wieder mit seinen Kompetenzdefiziten konfrontiert sieht.
Bei der Bearbeitung des negativen Selbstkonzepts sollten Methoden der Kognitiven Verhaltenstherapie zur Anwendung kommen (s. Abb. [2]).
Bei der kognitiven Verhaltenstherapie sollte in jedem Fall auf folgende, für diese Patientengruppe typische Merkmale affektiver und kognitiver Verarbeitungs- und Organisationsprozesse eingegangen werden:
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Neigung zu exzessiver und niederschwellig ausgelöster Selbstkritik, deren Funktionalität (auch darin) begründet ist, befürchtete externe Kritik zu vermeiden, vorwegzunehmen oder abzuschwächen.
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Ausgeprägte Tendenz zu einseitigen sozialen Vergleichsprozessen, die ausschließlich auf jene Merkmale fokussieren, in denen das jeweilige Gegenüber als überlegener, attraktiver, kompetenter usw. eingeschätzt wird.
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Selektive Wahrnehmungsprozesse führen dazu, dass v. a. soziale Signale, die sich in Richtung Kritik, Zurückweisung oder Demütigung interpretieren lassen, wahrgenommen werden, positive Signale hingegen übersehen oder nicht als solche interpretiert werden.
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Die Funktionalität negativer Kernannahmen, die darin besteht, Risiken zu vermeiden, die sich aus einer positiveren Einstellung gegenüber der eigenen Person ergeben würden (frei nach dem Motto: „Wenn ich mir etwas erst gar nicht zutraue, dann muss ich es auch nicht versuchen!“).
Partnerschaft und Intimität. In dieser fortgeschrittenen Phase der Therapie werden oft auch interpersonelle Themen angesprochen, wobei dem Thema Partnerschaft und Intimität eine besondere Rolle zukommt. Nicht wenige Patienten mit einer selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung leben alleine, viele hatten noch keine längere Partnerschaft oder sind in ihren Beziehungen unglücklich. Die damit verbundenen Themen lassen sich gut im Zusammenhang mit der Modifikation des negativen Selbstkonzepts bearbeiten, wobei hierbei auch auf die Lerngeschichte und die Beziehungserfahrungen mit den prägenden Bezugspersonen eingegangen werden sollte [46].
Bei der Modifikation des Selbstkonzepts kommt meist auch das Thema Partnerschaft zur Sprache.
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Fazit des Therapiemanagements
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Exposition der sozialen Ängste, das Training sozialer Fertigkeiten und die Umstrukturierung des negativen Selbstkonzepts wesentliche Ansatzpunkte der Therapie darstellen. Neben einer supportiv angelegten Beziehungsgestaltung in der Anfangsphase der Therapie ist es meist sinnvoll, dem Patienten frühzeitig eine Entspannungsmethode zu vermitteln. Bei der Therapie der sozialen Ängste kommt der Durchführung von graduiert gestalteten Expositionen in vivo (und ggf. in sensu) eine zentrale Bedeutung zu. In einer fortgeschrittenen Phase der Therapie sollte dann ein Training sozialer Kompetenzen durchgeführt und eine Modifikation des negativen Selbstkonzepts angestrebt werden.
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Ein Hauptmerkmal der vermeidend-selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung ist das Verharren in einem Konflikt zwischen Bindungs- und Autonomiebedürfnis. Das hat zur Folge, dass sich die Betroffenen nur schwer auf eine intime Beziehung einlassen können oder das Eingehen einer solchen, aufgrund der ausgeprägten Angst vor Zurückweisung, ganz vermeiden.
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Patienten mit einer vermeidend-selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung erfüllen oft auch die diagnostischen Kriterien einer sozialen Phobie. Im Unterschied zu der vermeidend-selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung haben Sozialphobiker zumeist nur eng umschriebene Phobien (z. B. vor öffentlichen Reden) und weisen vergleichsweise seltener komorbide Symptomstörungen auf.
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Die schizoide und die vermeidend-selbstunsichere Persönlichkeitsstörung weisen eine erhebliche Überlappung auf, sodass manche Autoren davon ausgehen, dass es sich um 2 Varianten derselben Störung handelt. Ein wesentliches differenzialdiagnostisches Kriterium ist jedoch das Vorhandensein von Angst (v. a. vor öffentlicher Kritik und Zurückweisung) bei der vermeidend-selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung.
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Bei der Ätiologie der vermeidend-selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung spielen ein hohes physiologisches Erregungsniveau und eine ausgeprägte Schüchternheit eine zentrale Rolle. Ein ambivalent-ängstlicher Erziehungsstil, zunehmende Unsicherheit und negative Interaktionserfahrungen mit Peers tragen weiter zur Ausbildung der Störung bei. Schließlich kommt es zu einer zunehmenden Vermeidung sozialer Situationen, was mit einer Kumulation sozialer Kompetenzdefizite und Selbstentfremdung einhergeht.
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Bei der Behandlung der vermeidend-selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung kommen unterschiedliche Therapieverfahren zur Anwendung: Psychodynamische Verfahren, Interpersonelle Psychotherapie und Kognitive Verhaltenstherapie. Empirisch am besten evaluiert sind Verfahren der Kognitiven Verhaltenstherapie. Idealerweise sollte die Behandlung im Gruppenformat erfolgen.
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Bei der Behandlung mittels Kognitiver Verhaltenstherapie sollten die 3 Problembereiche des Störungsbilds fokussiert bearbeitet werden: das negative Selbstkonzept, die sozialen Ängste und die Defizite im Bereich der sozialen Kompetenz. Dabei kommt der Reduktion der sozialen Ängste eine wesentliche Rolle zu, wobei ein graduiertes Vorgehen empfohlen wird und Techniken der Angstbewältigung (z. B. in Form von PME) eingesetzt werden sollten.
Verantwortlicher Herausgeber für diesen Beitrag: Prof. Dr. Klaus Lieb, Mainz
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Über die Autoren
Peter Fiedler
Prof. Dr. phil. Jahrgang 1945. Studium der Psychologie in Münster. Psychologie-Diplom 1973, Promotion 1975, Habilitation 1978. Psychologischer Psychotherapeut (Verhaltenstherapie) und Supervisor. Seit 1980 Hochschullehrer für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Heidelberg. Forschungsschwerpunkte mit entsprechenden (Buch-)Publikationen: Stottern, Depression, Dissoziative und Trauma-Störungen, Persönlichkeitsstörungen, sexuelle Orientierung und sexuelle Devianz sowie zur Psychotherapie-Prozessforschung und zur Verhaltenstherapie mit Gruppen.
Michael Marwitz
Dr. phil. Dipl.-Psych. Jahrgang 1964. Psychologischer Psychotherapeut (VT). Studium der Psychologie, Philosophie und Soziologie in Freiburg im Breisgau. Nach dem Studium Lehrtätigkeit am dortigen Psychologischen Institut und Promotion. Seit 1996 in der Schön Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee tätig, von 2012 an als Leitender Psychologe und Leiter Therapie. Selbsterfahrungsleiter, Supervisor und Dozent mit den Schwerpunkten Persönlichkeitsstörungen und Gruppentherapie.
Interessenkonflikt: Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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Korrespondenzadressen
Publication History
Publication Date:
12 May 2016 (online)
© Georg Thieme Verlag KG
Stuttgart · New York
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