Sprache · Stimme · Gehör 2016; 40(02): 100
DOI: 10.1055/s-0042-104637
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Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Kompensierter Dysgrammatismus

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Publication History

Publication Date:
24 May 2016 (online)

 

Störung in der Grammatikentwicklung – allgemein

Die Störung der Grammatikentwicklung, d. h. der kindliche Dysgrammatismus, gilt als eine der schwerwiegendsten und am schwierigsten zu behandelnden Ausprägungsformen der umschriebenen Sprachentwicklungsstörung. Im Deutschen ist das „klassische“ Symptom, dass betroffene Kinder das Verb im Hauptsatz nicht an die korrekte Position bewegen können. Alle Kinder verwenden das Verb zunächst als letztes Wort im Satz.


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Zwischen dem 28. und 36. Lebensmonat „bewegt sich“ das Verb an seine eigentliche Position, die so genannte Verbzweitstellung.

Kinder mit Dysgrammatismus behalten die Verbendstellung bei und überwinden diese nur sehr selten ohne Therapie. Dies sind „persistente“ Störungsbilder, d. h. Auffälligkeiten, die sich über lange Zeit nicht verändern und die Leistungen des Kindes dauerhaft beeinflussen.

Kompensierter Dysgrammatismus

Es ist ein Phänomen der deutschen Sprache, dass Kinder, die im Kindergartenund Vorschulalter Symptome des Dysgrammatismus zeigten, diese in der Übergangszeit oder in der Grundschulzeit verändern. Es scheint sich vermeintlich eine Entwicklung abzuzeichnen, in der eine der möglichen Hauptsatzstrukturen erworben ist: die im Deutschen einfachste und neutrale Abfolge Subjekt – Prädikat – Objekt. Unsicher erscheint häufig noch die Einsetzung von Artikeln vor dem Subjekt und Objekt. Ebenso wird das Objekt nicht sicher im Akkusativ oder Dativ markiert. Oft benutzt das Kind Modalverben (wollen, können, müssen,...) in der vorderen Satzposition und belässt das inhaltliche Verb an der hinteren Stelle im Satz:

  • Lisa will (Modalverb) ein Bild malen (inhaltliches Verb).

Neuere Ansätze betrachten diese Veränderungen jedoch nicht als Entwicklung sondern als eine Strategie, die das Kind entwickelt, um mit einem ihm langsam bewusst werdenden Problem umzugehen („kompensieren“ bedeutet ausgleichen/ersetzen). Das bedeutet, die Verbzweitstellung ist nicht erworben. Stattdessen beginnt das Kind, mehr oder weniger komplett das eigentliche Symptom auszugleichen, indem es eine starre, mehr oder weniger auswendig gelernte Struktur verwendet. Im Deutschen ist es jedoch möglich, den Aussagesatz auch mit anderen Satzteilen als dem Subjekt zu beginnen. So können z. B. das Objekt, ganze Nebensätze oder auch Fragepronomen als erstes Satzglied erscheinen:

  • Einen Hund (Objekt als erstes Satzglied) malt Lisa (Subjekt).

  • Wenn Lisa ihr Bild fertig gemalt hat (Nebensatz als erstes Satzglied), zieht sie ihr neues Kleid an.

  • Wann (Fragepronomen als erstes Satzglied) hat Lisa (Subjekt) ihr Bild (Objekt) endlich fertig gemalt?

Diese Formen des Aussagesatzes werden nicht oder nur inkorrekt verwendet.

Begrifflichkeiten

Synonym verwendete Bezeichnungen: erstarrte Satzstrukturen, Übergang zum postdysgrammatischen Stadium.

Kompensierter Dysgrammatismus entstammt begrifflich der patholinguistischen Therapie.


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Folgen

Der kompensierte Dysgrammatismus schränkt das Kind also in seinen Kommunikationsfähigkeiten weiter ein: es kann keine oder nur sehr einfache Fragen stellen („Was ist das?“ ist häufig eine auswendig gelernte Phrase und wird eingesetzt), ebenso wenig kann es Sätze mit Nebensätzen erweitern. Da in der Folgezeit der Kompensation der Aussagesatz keine Entwicklung zeigt und weitere Formen nicht dazu erworben werden, wird davon ausgegangen, dass es sich nicht um eine positive Entwicklung handelt. Vielmehr gehen die Annahmen in die Richtung, dass der kompensierte Dysgrammatismus im Vergleich zu dem Symptom der Verbendstellung das stärkere grammatische Störungsbild ist.


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Identifikation des kompensierten Dysgrammatismus

Wenn ein Kind kompensiert hat, so ist es für den behandelnden Arzt und auch für die zuständige Sprachtherapeutin schwieriger, das Störungsbild zu erkennen. Die Satzgliedabfolge Subjekt – Prädikat – Objekt, die das Kind als starre Struktur einsetzt, ist ja eine korrekte Aussagesatzform des Deutschen. Das Kind macht also per se keinen sofort erkennbaren Fehler. Der kompensierte Dysgrammatismus zeigt sich dadurch, dass das Kind so gut wie ausschließlich diese Satzstruktur verwendet. Wenn es eine Frage formuliert, sollte seine Satzstruktur deutlichere Fehler zeigen. Nebensätze kommen nicht vor. Damit einhergehen in der Regel Schwierigkeiten im Verstehen und Produzieren von Geschichten. Eine spezifische, auf dieses Phänomen ausgerichtete Therapie ist dringend angeraten, da nicht bekannt ist, ob Kinder den kompensierten Dysgrammatismus ohne Therapie überhaupt überwinden können.

Fazit

Der kompensierte Dysgrammatismus ist ein schweres Störungsbild in der kindlichen Grammatikentwicklung. Er tritt im Vorschul- bis Grundschulalter auf und sollte dringend diagnostiziert und behandelt werden. Seine Identifikation ist schwierig, da die verwendete Ersatzstruktur eine korrekte Satzstruktur des Deutschen ist.

Prof. Dr. Julia Siegmüller, Rostock


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