Aktuelle Neurologie 2016; 43(04): 270
DOI: 10.1055/s-0042-104728
Buchbesprechung
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Hermann Oppenheim – ein Begründer der Neurologie

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Publication Date:
18 May 2016 (online)

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Dieses von Heiko Bewermeyer, dem langjährigen Chefarzt der Klinik für Neurologie im Krankenhaus Merheim der Kliniken der Stadt Köln, herausgegebene Buch kann nur jedem an geschichtlichen Aspekten unseres Faches Interessierten wärmstens empfohlen werden.

Das Buch hat 20 Kapitel, von denen der Herausgeber 12 selbst verfasst hat und bei 2 weiteren Co-Autor ist. Die restlichen Beiträge stammen von seiner Tochter Katrin (Ärztin am UKE in Hamburg), Marcus Gerwig (Neurologische Universitätsklinik Essen), Bernd Holdorff (langjähriger Chefarzt der Neurologie an der Berliner Schlosspark-Klinik), Axel Karenberg vom Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Universität zu Köln, Hans-Dieter Mennel (langjähriger Leiter der Neuropathologie der Universität Marburg) und von Anja Pech (Neurologische Reha-Klinik Beelitz-Heilstätten). Ebenso wie der Herausgeber sind die meisten von ihnen ausgewiesene Experten der Neurologie-Geschichte und waren teilweise auch schon als Mit-Herausgeber und –Autoren eines Vorläufer-Buches im gleichen Verlag (Mennel H-D, Holdorff B, Bewermeyer K, Bewermeyer H. Hermann Oppenheim und die deutsche Nervenheilkunde zwischen 1870 und 1919. Schattauer Verlag, Stuttgart 2007). Frau Dr. Pech hat 2007 eine Monografie über Oppenheim vorgelegt (Pech A. Hermann Oppenheim 1858–1919. Leben und Werk eines jüdischen Arztes. Herzogenrath, Verlag Murken-Altrogge 2007) Von besonderem Reiz ist dabei das dritte Kapitel mit einem von einem Neffen überlieferten, 28-seitigen Typoskript Oppenheims zu seiner Kindheit und Jugend sowie den frühen Berufsjahren bis etwa zur Jahrtausendwende.

Die Leistungen von Hermann Oppenheim waren in vielfacher Hinsicht herausragend, nicht nur im Hinblick auf die letztendlich erfolgte Verselbständigung der Neurologie. Nach dem Studium in Göttingen und Bonn war Oppenheim von 1883 bis 1990 Assistent an der Nervenklinik der Berliner Charité bei Westphal. Trotz seiner 1886 abgeschlossenen Habilitation und weiterer umfassender wissenschaftlicher Tätigkeit wurde ihm aufgrund seines jüdischen Glaubens nach dem Tod Westphals 1889 und vorübergehender Vertretung des Faches durch die preußische Ministerialbürokratie zunächst eine Professur verweigert, weshalb er 1891 in Berlin eine private Poliklinik für Nervenkranke gründete und rasch mit bis mehr als 10 Assistenten ausbaute. 1893 erfolgte zwar die Ernennung zum Titularprofessor, 1901 jedoch die Ablehnung bzw. Nichtdurchführung einer von der Fakultät unterstützten außerordentlichen Professur durch das Ministerium, weshalb Oppenheim 1902 seine Dozentur verärgert niederlegte.

Unabhängig von diesen akademischen Misserfolgen war Oppenheim zu seiner Zeit einer der weltweit bekanntesten und führenden Neurologen, wozu auch sein in kurzen Intervallen immer wieder neu aufgelegtes „Lehrbuch der Nervenkrankheiten“ und zahlreiche weitere Zeitschriften- und Buchveröffentlichungen beitrugen. Er ist u. a. Erstbeschreiber der auch nach ihm benannten „Myotonia congenita“ und zahlreicher neurologischer Symptome (beschrieb u. a. erstmals das nach ihm benannte Pyramidenbahnzeichen bei Bestreichen der inneren muskelfreien Schienbeinkante und schlug 1911 erstmals die Bezeichnung „Dystonie“ vor) sowie früher Befürworter und Förderer der Neurochirurgie (u. a. mit Fedor Krause). 1907 war er Gründungsmitglied der Gesellschaft Deutscher Nervenärzte als Nachfolger von Wilhelm Erb 1911–1916 deren Vorsitzender. Er genoss großes internationales Ansehen und war z. B. 1909 auch Gründungsmitglied der Internationalen Liga gegen Epilepsie (ILAE).

Es entbehrt nicht einer gewissen Tragik, dass Oppenheim mit einem seiner wissenschaftlichen Konzepte Unrecht hatte und letztendlich scheiterte. Ende des 19. Jahrhunderts war parallel zur zunehmenden Verbreitung der Eisenbahn eine Sorge vor gesundheitlichen Schäden durch Erschütterungen des Rückenmarks und sonstigen Nervensystems der Reisenden entstanden, die zu dem aus dem anglo-amerikanischen Sprachraum kommenden und rasch übernommenen Krankheitskonzept der „railway spine“ (Eisenbahnwirbelsäule) als Erklärung vielfältiger Beschwerden geführt hatte. Romberg schloss sich dieser Auffassung an und legte schon 1889 eine entsprechende Monografie („Über traumatische Neurosen“) vor. Er vertrat die Grundannahme, dass die traumatische Neurose eine organische Störung sei, bei der es infolge einer tiefgreifenden „Gemüthserschütterung“ durch das Trauma zu Zellveränderungen auf molekularer Basis gekommen sei, die man mit den zur Verfügung stehenden Untersuchungsmethoden (noch) nicht feststellen könne. Im Verlauf der nachfolgenden Jahrzehnte spitzte sich die Auseinandersetzung mit Gegnern dieses Konzeptes immer mehr zu und kulminierte schließlich in dem Streit mit Max Lewandowsky, Max Nonne und anderen über die „Kriegszitterer“, die letztlich durch die Hypnose-Heilungen Nonnes als eindeutig psychogene Störungen klassifiziert werden konnten.

Noch weitaus tragischer als diese wissenschaftliche Niederlage mit nachfolgendem Rückzug Oppenheims aus der von ihm mitbegründeten Fachgesellschaft und bald darauf folgendem Tod ist das Schicksal seiner Frau. Oppenheim hatte während des I. Weltkrieges für sein gesamtes, nicht unbeträchtliches Privatvermögen Kriegsanleihen gezeichnet, die später wertlos wurden. Nach seinem frühen Tod musste seine zusätzlich durch die Inflation verarmte Lebensgefährtin ein zurückgezogenes Leben führen. 1938 wählte sie den Freitod, als die Geheime Staatspolizei in ihrem Heim alle nichtarischen Ärzte verhaftete.

Ein größerer Kreis von Sponsoren (Danksagung; S. VI), hat es ermöglicht das gut ausgestattete Buch zu einem so günstigen Preis erscheinen zu lassen. Teilweise bezüglich Band- und Seitenzahlen nicht ganz vollständige bibliografische Angaben in der Zusammenstellung der Publikationen Hermann Oppenheims am Ende des Buches sollten bei einer Neuauflage möglichst ergänzt werden. Dasselbe gilt für ein Sachwortverzeichnis.

Ich wünsche nicht nur dem Herausgeber, seinen Mitarbeitern und dem Verlag, sondern insbesondere den zukünftigen Leserinnen und Lesern eine weite Verbreitung des sehr gelungenen Buches!

Günter Krämer, Zürich