Aktuelle Urol 2016; 47(02): 120-121
DOI: 10.1055/s-0042-106004
Referiert und kommentiert
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Harnableitung – Ist das Ileum-Conduit noch zeitgemäß?

Contributor(s):
Judith Lorenz
Abdelhalim et al.
J Urol 2015;
194: 1414-1419
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Publication History

Publication Date:
14 April 2016 (online)

 

Pädiatrische Patienten, die mittels inkontinenter Harnableitung über ein Dünndarmsegment (Ileum-Conduit nach Bricker) versorgt werden, weil sie sich aufgrund von Kontraindikationen nicht für eine kontinente Form der Harnableitung eignen, haben ein erhöhtes Risiko für Komplikationen der oberen Harnwege. Abdelhalim und Kollegen haben die langfristige Entwicklung und Lebensqualität dieser Patienten untersucht und analysiert, in welchem Ausmaß bei ihnen mit einer Verschlechterung der renalen Funktion zu rechnen ist.
J Urol 2015; 194: 1414–1419

mit Kommentar

Die Arbeitsgruppe aus Ägypten hat retrospektiv die medizinischen Behandlungsdaten von 29 Kindern (19 männlich; medianes Alter 10 Jahre, range 2–18) ausgewertet, die zwischen 1981 und 2011 an der pädiatrisch-urologischen Abteilung der Universität von Mansoura / Ägypten eine Harnableitung über ein Ileum-Conduit erhalten hatten und über mindestens ein Jahr nachbeobachtet worden waren. Die Veränderung der Nierenfunktion im Verlauf des Follow-up-Zeitraums wurde mithilfe der geschätzten glomerulären Filtrationsrate (eGFR) objektiviert. Ferner wurde das Längenwachstum der Kinder analysiert und die Lebensqualität der betroffenen Familien mithilfe eines eigens entwickelten, nicht validierten Fragebogens evaluiert. Weitere Outcome-Parameter umfassten durch die Harnableitung bedingte Komplikationen sowie die Häufigkeit erneuter stationärer Klinikaufenthalte.

Bei 21 der 29 Patienten (72,4 %) lag initial eine neuropathische Blasenfunktionsstörung vor. Drei Kinder hatten eine Einzelniere. Die Ureter-Darm-Anastomose erfolgte in 17 Fällen in der Technik nach Bricker und in 12 Fällen nach der Wallace-Methode. Das mediane Follow-up betrug 91 Monate (range 16–389).

Am Ende der Nachbeobachtungszeit wurde bei 39 von 55 Nieren (70,9 %) eine Verbesserung oder Stabilisierung der vorbestehenden hydronephrotischen Auffälligkeiten beobachtet. In 16 Fällen (29,1 %) kam es zu einer Verschlechterung der Hydronephrose. Bezüglich der Veränderungen der eGFR zwischen dem ersten und dem letzten Dokumentationszeitpunkt ließen sich keine signifikanten Unterschiede nachweisen (64,5 ± 46 bzw. 54,1 ± 44,9 ml / min/1,73 m², p = 0,073). Trotzdem wurde bei 13 Patienten (44,8 %) eine Verschlechterung der chronischen Nierenerkrankung beobachtet. Weitere 11 Patienten (37,9 %) hatten eine terminale Niereninsuffizienz entwickelt und 9 Patienten (31,0 %) waren verstorben.

Nur in 4 Fällen (13,8 %) verbesserte sich die Nierenfunktion nach dem operativen Eingriff. Bei 6 Patienten wurde nach der Stabilisierung der renalen Funktion – durchschnittlich 118 Monate nach dem initialen Eingriff – eine kontinente Harnableitung angelegt. In 5 dieser Fälle gestaltete sich der weitere klinische Verlauf zufriedenstellend. Bei 12 Kindern (41,4 %) war eine Beeinträchtigung des Längenwachstums nachweisbar.

17 von 20 Familien (85 %), die den Fragebogen zur Lebensqualität beantwortet hatten, waren mit der operativen Versorgung unzufrieden und 19 gaben ihrem Wunsch nach einer erneuten operativen Behandlung Ausdruck. Bei 14 Patienten wurden 19 stationäre Wiederaufnahmen aufgrund harnableitungsbedingter Komplikationen erforderlich.

Fazit

Die Harnableitung in der 1950 von Bricker beschriebenen Ileum-Conduit-Technik, so das Fazit der Autoren, kann langfristig die Verschlechterung der Nierenfunktion nicht aufhalten. Zudem lassen sich bei den auf diese Weise behandelten Kindern Wachstumsverzögerungen sowie Einschränkungen der Lebensqualität beobachten. Nicht zuletzt stellt die hohe Komplikationsrate der Methode einen gravierenden Nachteil in diesem Patientenkollektiv dar. Die auf diese Weise behandelten Patienten, so die Empfehlung von Abdelhalim et al., sollten dauerhaft engmaschig nachbetreut werden.

Kommentar

Vorteile des Kolon-Conduits

Diese Arbeit aus der Urologischen Universitätsklinik Mansoura, der wohl renommiertesten ägyptischen Klinik in Bezug auf Harnableitungen, beschreibt das gesundheitliche Schicksal von 29 Kindern, bei denen zwischen 1981 und 2011 ein Ileum-Conduit angelegt wurde. Zu diesem Zeitpunkt standen bereits zur Versorgung von Kindern mit neurogenen Blasenentleerungsstörungen andere Techniken zur Verfügung, wie insbesondere der von Guttmann 1954 erstbeschriebene und in den 70er-Jahren von Lapides popularisierte saubere intermittierende Einmalkatheterismus [ 1 ], Anlage von kontinenten katheterisierbaren Stomata, gegebenenfalls in Verbindung mit einer Darmblasenaugmentation, und letztlich auch die im Kindesalter eingesetzten Techniken der kontinenten Harnableitung.

Möglicherweise ist dadurch die geringe Zahl dieser kindlichen Patienten über einen Zeitraum von 30 Jahren im Vergleich zu Arbeiten aus den 60er- und 70er-Jahren erklärt. Während eines vergleichsweise kurzen medianen Follow-ups von nur 7,5 Jahren (Mindestnachbeobachtungszeit 1 Jahr) zeigte sich eine Zunahme der Dilatation des oberen Harntrakts bei 30 %, eine zunehmende Verschlechterung der Nierenfunktion bei 44,8 %, und die Notwendigkeit zur stationären Behandlung von Komplikationen der Harnableitung bei 50 % dieser Kinder. Das Ziel einer Nulldruckableitung zur bestmöglichen Erhaltung der Nierenfunktion ist somit nicht erreicht.

Diese Ergebnisse stehen im Einklang mit großen in der Literatur berichteten Kollektiven von Kindern mit Ileum-Conduit und Langzeit-Follow-up [ 2 ]–[ 5 ], wobei insbesondere Cass auf die signifikante Zunahme der Komplikationen und Probleme mit Dauer des Follow-ups hinweist. Die Präsenz von uretero-ilealen Strikturen, conduido-renalem Reflux und Stomastenosen sind die Hauptrisikofaktoren für die unbefriedigenden Ergebnisse der Ileum-Conduits. Auf die besondere Problematik der Elongation des Ileum-Conduits mit dem Wachstum der Kinder haben Middleton und Hendren sowie Shapiro nachdrücklich hingewiesen [ 3 ], [ 4 ]. Daher erscheint die in der vorliegenden Studie gewählte Länge des ausgeschalteten Ileumsegments von 15 bis 20 cm (!) äußerst ungewöhnlich. Eine – wenngleich nur teilweise – Erklärung hierfür mag der Einschluss von Adoleszenten bis 18 Jahre in dieser Studie sein.

Bereits Mitte der 70er-Jahre hatten Middleton und Hendren die Aufgabe des Ileum-Conduits als Harnableitungsform bei Kindern empfohlen [ 3 ], [ 6 ]. Zwar sahen Elder und Mitarbeiter keinen Vorteil des Kolon-Conduits im Vergleich zum Ileum-Conduit bei Kindern [ 7 ], jedoch legten Sie das Kolon-Conduit anisoperistaltisch an. Zudem wiesen die Kinder in dieser Studie in der Langzeitbeobachtung in 61 % der Fälle eine Stomastenose und demzufolge auch in 58 % einen entero-ureteralen Reflux auf.

Richie und Mitarbeiter konnten im Tierexperiment eine klare Überlegenheit des nicht refluxiven Kolon-Conduits gegenüber dem refluxiven Ileum-Conduit nachweisen [ 8 ]: Ein conduido-renaler Reflux war bei allen Versuchstieren mit Ileum-Conduit und bei keinem mit Kolon-Conduit nachzuweisen. Refluxbedingte Nierenschäden wurden bei 83 % der über Ileum-Conduit abgeleiteten Nieren und nur bei 7 % der über ein Kolon-Conduit abgeleiteten Nieren vorgefunden. Als eine der hierfür relevanten Ursachen wurden die im Vergleich zum Kolon wesentlich häufiger ablaufenden peristaltischen Wellen im Ileum angeschuldigt. Die von Richie beschriebenen klaren Vorteile des Kolon-Conduits im Tierexperiment werden durch Ergebnisse klinischer Studien bestätigt.

Husmann und Mitarbeiter konnten erhebliche Vorteile des Kolon-Conduits im Vergleich zum Ileum-Conduit hinsichtlich der Erhaltung der Nierenfunktion bei Kindern nachweisen [ 10 ]. Die Vorteile eines nicht refluxiven Kolon-Conduits zur vorübergehenden oder permanenten Harnableitung bei Kindern werden von Hendren bestätigt [ 6 ]. Über die Erfahrungen an einem Kollektiv von 56 Kindern mit nicht refluxivem Kolon-Conduit und einem sehr langen medianen Follow-up von 23,8 Jahren aus der Mainzer urologischen Universitätsklinik hat Stein 2005 berichtet [ 11 ]. Die bei diesen kindlichen Patienten erzielten Ergebnisse waren den in der Literatur berichteten Langzeitergebnissen von Kindern mit Ileum-Conduit klar überlegen.

Die in der vorliegenden Arbeit von den Autoren aufgeworfene Frage „Bricker Conduit for Pediatric Urinary Diversion – Should we Still Offer It?“ ist aus Sicht des Kommentators eindeutig zu verneinen. Wann immer bei Kindern – trotz der heute ansonsten gegebenen therapeutischen Optionen – eine operative Harnableitung erforderlich wird – sollte diese als kontinente Harnableitung durchgeführt werden. Nur bei mangelnder Unterstützung durch die Familie und bei fehlenden manuellen oder mentalen Voraussetzungen des Kindes zum sauberen intermittierenden Katheterismus des kontinenten Reservoirs besteht in Einzelfällen die Notwendigkeit zur inkontinenten Harnableitung, die dann jedoch in Form eines Kolon-Conduits erfolgen sollte.

Prof. Dr. Hubertus Riedmiller, Würzburg


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Prof. Dr. Hubertus Riedmiller


ist Direktor der Klinik und Poliklinik für Urologie und Kinderurologie der Julius-Maximilians-Universität Würzburg

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  • Literatur

  • 1 Lapides J, Diokno AC, Silber SJ et al. Clean, intermittent self-catherization in the treatment of urinary tract disease. J Urol 1972; 107: 458-461
  • 2 Cass AS, Luxenberg M, Gleich P et al. A 22-Year Follow-Up of ileal Conduits in Children with a Neurogenic Bladder. J Urol 1984; 132: 529-531
  • 3 Middleton AW, Hendren WH. Ileal conduit in children at the Massachusetts. General Hospital from 1955 to 1970. J Urol 1976; 115: 591-595
  • 4 Shapiro SS, Lebowitz R, Colodny AH. Fate of 90 children with ileal conduit urinary diversion a decade later: analysis of complications, pyelography, renal function and bacteriology. J Urol 1975; 114: 289-295
  • 5 Schwarz GR, Jeffs RD. Ileal conduit urinary diversion in children: computer analysis of follow-up from 2 to 16 years. J Urol 1975; 114: 285-288
  • 6 Hendren WH. Nonrefluxing colon conduit for temporary or permanent urinary diversion in children. J Ped. Surg 1975; 10: 381-398
  • 7 Elder DD, Moisey CU, Rees RWM. A long-term follow-up of the colonic conduit operation in children. BJU 1979; 51: 462-465
  • 8 Richie JP, Skinner DG, Waisman J. The effect of reflux on the development of pyelonephritis in urinary diversion: an experimental study. J Surg Res 1974; 16: 256-261
  • 9 Althausen AF, Hagen-Cook K, Hendren III WH. Non-refluxing colon conduit: experience with 70 cases. J Urol 1978; 120: 35-39
  • 10 Husmann DA, McLorie GA, Churchill BM. Nonrefluxing colonic conduits a long-term life-table analysis. J Urol 1989; 142: 1201-1203
  • 11 Stein R, Wiesner C, Beetz R et al. Urinary diversion in children and adolescents with neurogenic bladder: the Mainz experience. Part III: Colonic conduit. Pediatr Nephrol 2005; 20: 932-936

  • Literatur

  • 1 Lapides J, Diokno AC, Silber SJ et al. Clean, intermittent self-catherization in the treatment of urinary tract disease. J Urol 1972; 107: 458-461
  • 2 Cass AS, Luxenberg M, Gleich P et al. A 22-Year Follow-Up of ileal Conduits in Children with a Neurogenic Bladder. J Urol 1984; 132: 529-531
  • 3 Middleton AW, Hendren WH. Ileal conduit in children at the Massachusetts. General Hospital from 1955 to 1970. J Urol 1976; 115: 591-595
  • 4 Shapiro SS, Lebowitz R, Colodny AH. Fate of 90 children with ileal conduit urinary diversion a decade later: analysis of complications, pyelography, renal function and bacteriology. J Urol 1975; 114: 289-295
  • 5 Schwarz GR, Jeffs RD. Ileal conduit urinary diversion in children: computer analysis of follow-up from 2 to 16 years. J Urol 1975; 114: 285-288
  • 6 Hendren WH. Nonrefluxing colon conduit for temporary or permanent urinary diversion in children. J Ped. Surg 1975; 10: 381-398
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  • 8 Richie JP, Skinner DG, Waisman J. The effect of reflux on the development of pyelonephritis in urinary diversion: an experimental study. J Surg Res 1974; 16: 256-261
  • 9 Althausen AF, Hagen-Cook K, Hendren III WH. Non-refluxing colon conduit: experience with 70 cases. J Urol 1978; 120: 35-39
  • 10 Husmann DA, McLorie GA, Churchill BM. Nonrefluxing colonic conduits a long-term life-table analysis. J Urol 1989; 142: 1201-1203
  • 11 Stein R, Wiesner C, Beetz R et al. Urinary diversion in children and adolescents with neurogenic bladder: the Mainz experience. Part III: Colonic conduit. Pediatr Nephrol 2005; 20: 932-936

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