Aktuelle Neurologie 2016; 43(05): 285-292
DOI: 10.1055/s-0042-107241
Originalarbeit
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Ein Score-Vorschlag zur frühen Prognose-Einschätzung bei schwerem ischämischem Schlaganfall – Konzeption, Evaluation sowie methodische und ethische Gesichtspunkte[*]

Proposal for an Early Prognostication Score in Severe Acute Ischemic Stroke – Concept, Evaluation, Methodological and Ethical Aspects
J. Küppers
1   Klinik für Neurologie und klinische Neurophysiologie, HELIOS Klinikum Wuppertal, Wuppertal
,
F. Krummenauer
2   Institut für Medizinische Biometrie und Epidemiologie (IMBE), Department Humanmedizin Fakultät für Gesundheit der Universität Witten/Herdecke, Witten
,
J. Hirsch
2   Institut für Medizinische Biometrie und Epidemiologie (IMBE), Department Humanmedizin Fakultät für Gesundheit der Universität Witten/Herdecke, Witten
,
S. Isenmann
1   Klinik für Neurologie und klinische Neurophysiologie, HELIOS Klinikum Wuppertal, Wuppertal
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Publication Date:
14 June 2016 (online)

Zusammenfassung

Fragestellung: Trotz nachhaltiger Verbesserung der Therapiemöglichkeiten des akuten Schlaganfalls gibt es Situationen, in denen ein kurativer Therapieansatz nicht mehr möglich ist. Dann stehen palliativmedizinische Behandlung und Sterbebegleitung im Vordergrund. Die Entscheidung zu einer solchen Therapieziel-Änderung kann jedoch sehr schwierig sein. Die Identifikation von prognostisch aussagekräftigen Parametern in der Frühphase könnte diesen Prozess unterstützen.

Methodik: 300 Patienten mit akutem, schwerem ischämischem Schlaganfall wurden retrospektiv untersucht. Möglicherweise prognose-bestimmende Faktoren wurden a priori in einen Summen-Score aggregiert; anhand eines Testdatensatzes von 200 Patienten (davon 100 in der Akutphase verstorben) wurde ein logistisches Regressionsmodell zur Vorhersage der individuellen Versterbewahrscheinlichkeit entlang des Rasters der im Score eingeflossenen Faktoren eines Patienten erstellt. In einem Folgeschritt wurde das Regressionsmodell an einem Validierungsdatensatz von 100 Patienten (davon 50 in der Akutphase verstorben) evaluiert.

Ergebnisse: Der Score war bei Patienten, die noch in der Akutphase verstarben, signifikant höher ausgeprägt mit im Median 7 Punkten vs. 4 Punkten bei überlebenden Patienten (Wilcoxon p<0,001). Ferner wurde bei einem individuellen Summen-Score von mindestens 6 Punkten die via logistischer Regression vorhergesagte Wahrscheinlichkeit in der Akutphase zu versterben zu 50% geschätzt, bei einem Summen-Score von 9 Punkten oder mehr zu 80%. Bei Anwendung dieser Score-Grenzen auf den Validierungsdatensatz zeigten sich Misklassifikations-Raten von 29% (≥ 6 Punkte) respektive 46% (≥ 9 Punkte), wobei 14% respektive 2% der Überlebenden auf Basis ihrer Score-Summen fälschlich als nicht die Akut-Phase überlebend misklassifiziert wurden.

Schlussfolgerung: Klinische Parameter können bereits in den ersten 48 Stunden nach einem schweren akuten ischämischen Schlaganfall eine Abschätzung der Prognose bezüglich früher Mortalität unterstützen. Mit der Punktzahl im Summen-Score steigt die Wahrscheinlichkeit des Versterbens in der Akutphase. Allerdings kann der Score nicht als alleiniges Kriterium für die Prognosestellung herangezogen werden. Weiterhin kann ein solcher Score nicht unmittelbar für Therapieentscheidungen genutzt werden. Die Ergebnisse werden im Kontext der internationalen Literatur und ethischer Aspekte diskutiert.

Abstract

Introduction: In spite of continuous improvements in the treatment of acute stroke, there are situations in which curative treatments are no longer feasible. Palliative care then becomes more important. The decision to change the actual treatment goals may be difficult. Identifying prognostically reliable parameters already in the early phase may support this process.

Methods: 300 patients with severe acute ischemic stroke from a single center were analyzed in a retrospective study. Factors of potential influence on prognosis were a priori aggregated in a sum score. A logistic regression model for the prediction of the probability to die was designed for individual patients. A test data set of 200 patients (of whom 100 died in the acute phase) was used for model fitting; this regression model was evaluated based on a validation data set of another 100 patients, 50 of whom died in the acute phase.

Results: Patients who died in the acute phase had higher scores (median 7 vs. 4 points; Wilcoxon p<0.001). An individual score of at least 6 points corresponded to an individually estimated mortality rate of 50%, a score of at least 9 points to an individually estimated mortality rate of 80%. Application of these thresholds in the validation set revealed misclassification rates of 29% (score≥6 points) and 46% (score≥9 points), respectively, with 14% and 2% survivors being falsely predicted to die based on their respective score patterns.

Conclusions: Clinical parameter patterns can help estimate individual prognosis and early mortality already within 48 h after acute stroke, with mortality increasing with increasing score. The score cannot be used as the sole criterion for prognosis, and cannot be directly utilized for therapeutic decisions in individual patients. The results are discussed in the context of the international literature and ethical aspects.

* Die Studie und die Vorgehensweise wurden der Ethikkommission der Universität Witten/Herdecke vorgestellt und von dieser positiv gewertet (68/2012).