Neonatologie Scan 2016; 05(03): 153
DOI: 10.1055/s-0042-110003
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Normen, Werte, Maße …

Axel Hübler
,
Gerhard Jorch
Further Information

Publication History

Publication Date:
18 August 2016 (online)

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

Der in dieser Ausgabe von Neonatologie Scan diskutierte Lancet-Artikel von Victora et al.: „Microcephaly in Brazil: how to interpret reported numbers?” motiviert die Herausgeber zu folgenden Überlegungen:

Wer Kinderarzt wird, sollte gut rechnen können – oder in der heutigen Zeit - IT-affin sein. Reifung und Wachstum und die dadurch bedingte Vielfalt der Messwerte sind ständig im Hinterkopf zu behalten. Um miteinander ohne Missverständnisse kommunizieren zu können, müssen Messwerte einer Referenzwertmatrix zugeordnet werden, meistens als Normalwerte bezeichnet. Und hier fangen die Fehler an. Denn auch Messwerte unterhalb der 3. oder oberhalb der 97. Perzentile sind nicht zwangsläufig abnorm und schon gar nicht „pathologisch“. Die meisten „Patienten“ mit solchen Werten haben nämlich keine Gesundheitsstörung. Nur deren prozentualer Anteil an Kranken ist bei solchen Messwerten höher.

Dazu kommt, dass die Wahl z. B. der 3. Perzentile als Grenze zum Abnormen zwar weitestgehend konsentiert und wahrscheinlich vernünftig ist, aber letztlich willkürlich. Außerdem steht immer die Frage im Raum, für welche Grundgesamtheit Messwerte gelten. Große, nicht selektierte Kollektive haben den Vorteil der Allgemeingültigkeit, aber den Nachteil, dass bestimmte Subkollektive, die nachweislich nicht krank sind, automatisch einen hohen Anteil an abnormen Werten aufweisen.

Wenn allerdings Referenzwerte, die an einem Subkollektiv bestimmt wurden, allgemein angewandt werden, geraten zuweilen Hunderttausende von Kindern unter Pathologieverdacht. So wurden die von Lubchenko et al. 1963 publizierten Neugeborenen-Geburtsgewichte als „Denver-Standard“ jahrzehntelang mangels Alternativen weltweit als Referenzwerte verwandt, obwohl Denver in den Rocky Moutains 1600 m („eine Meile“) über dem Meeresspiegel liegt und somit die Neugeborenen-Maße keine Chance haben, an die in der norddeutschen Tiefebene gemessenen Messwerte heranzureichen.

Fazit: Messwerte sind, insbesondere wenn sie korrekt erhoben wurden, wertvoll, um einen objektiven Ausgangspunkt für eine Arbeitshypothese – in der Forschung aber auch für die Patientenbehandlung - zu haben. Es gehört aber epidemiologischer Sachverstand dazu, diese Werte zu interpretieren und daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen. Es lohnt sich also für Ärzte, im Medizinstudium die diesbezüglichen Lehrangebote genutzt zu haben.

Ihre Herausgeber

PD Dr. med. Axel Hübler
Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin
Klinikum Chemnitz gGmbH

Prof. Dr. med. Gerhard Jorch
Direktor der Universitätskinderklinik Magdeburg

Zoom Image
Axel Hübler
Zoom Image
Gerhard Jorch
 
  • Literatur

  • 1 Lubchenco LO, Hansman C, Dressler M, Boyd E. Intrauterine Growth as estimated from Liveborn Birth Weight Data at 24 to 42 Weeks of Gestation. Pediatrics 1963; 32: 793-800