neuroreha 2016; 08(03): 110-116
DOI: 10.1055/s-0042-111671
Schwerpunkt Neuroreha nach Querschnittlähmung
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Gerätegestützte Neurorehabilitation – was wird die Zukunft bringen?

Rüdiger Rupp
Further Information

Korrespondenzadresse

Dr.-Ing. Rüdiger Rupp
Universitätsklinikum Heidelberg; Klinik für Paraplegiologie – Sektion Experimentelle Neurorehabilitation
Schlierbacher Landstraße 200a; 69118 Heidelberg

Publication History

Publication Date:
09 September 2016 (online)

 

Zusammenfassung

Trotz aller Fortschritte in der Grundlagenforschung ist davon auszugehen, dass eine Querschnittlähmung auch in Zukunft nicht vollständig heilbar sein wird. Daher kommt auch zukünftig der Rehabilitation der Betroffenen eine entscheidende Bedeutung zu. Zur Effektivitätssteigerung von restaurativen Therapiemaßnahmen stehen inzwischen Geräte mit unterschiedlicher Komplexität zur Verfügung. Ein vollständiger Funktionsausfall kann speziell bei Hochgelähmten nur durch aufwendige technische Systeme kompensiert werden. In diesem Übersichtsartikel sollen aktuelle technologische Entwicklungen vorgestellt und deren Möglichkeiten für die Rehabilitation von Querschnittgelähmten aufgezeigt werden.


#

Querschnittlähmung im Wandel

In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich der typische Querschnittpatient erheblich gewandelt. Während der Anteil der Männer mit ⅔ am Gesamtkollektiv in etwa gleich geblieben ist, so hat sich der Anteil der Patienten mit Tetraplegie kontinuierlich erhöht. Aktuell sind mit 55 % mehr als die Hälfte der 1800 jährlich neu in Deutschland hinzukommenden Querschnittgelähmten nicht nur von Ausfällen der unteren, sondern auch der oberen Extremitäten betroffen.

Weiterhin hat eine deutliche Verschiebung hin zu mehr inkompletten Lähmungen stattgefunden, die inzwischen mit 70 % die Mehrheit am Gesamtkollektiv ausmachen [16]. Dieser Trend ist u. a. auf erhöhte Sicherheitsmaßnahmen im Verkehr und am Arbeitsplatz zurückzuführen, aber vor allem auch durch eine starke Zunahme von nichttraumatischen Lähmungsursachen bedingt. Hierzu zählen Entzündungen, Tumoren oder degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, die bei frühzeitiger operativer bzw. medikamentöser Intervention in der Regel nicht zu einer vollständigen Schädigung des Rückenmarks führen. Mittlerweile hat jede zweite Rückenmarkverletzung eine nichttraumatische Ursache, was generell zu einem Anstieg des mittleren Patientenalters geführt hat [13].

Während sich das neurologische Niveau bei tetraplegischen Patienten überwiegend auf Höhe des vierten oder fünften Halsmarksegments befindet, stellt der thorakolumbale Übergang die häufigste Läsionshöhe (erhaltene Rumpfstabilität, aber ausgefallene Beinfunktion) bei paraplegischen Patienten dar [16].

Bei einem neurologischen Niveau von C5 sind Schulterfunktion und Ellenbogenbeugung in der Regel erhalten, allerdings fehlen relevante Hand- und Fingerbewegungen. Bei einer Läsion auf Höhe von C4 fehlt zusätzlich die Ellenbogenbeugung. Vor allem die Wiederherstellung einer ausgefallenen Greiffunktion besitzt höchste Priorität in der Rehabilitation der Betroffenen, da diese mit dem größten Verlust an Autonomie und Lebensqualität einhergeht [1], [23].


#

Greifen mittels Neuroprothesen

Stehen distal des Ellenbogens noch genügend Muskeln unter Willkürkontrolle zur Verfügung, so kann mittels chirurgisch vorgenommenen Muskel- und Sehnentransfers eine substanzielle Funktionsverbesserung erzielt werden [8]. Sind diese aber nicht vorhanden, so stellen beim heutigen Stand der Technik Greifneuroprothesen auf Basis der funktionellen Elektrostimulation (FES) die einzige Möglichkeit zur Funktionsverbesserung dar. Bei der FES werden mittels kurzer, niederfrequenter Stromimpulse Nervenaktionspotenziale generiert, die fortgeleitet zu einer tetanischen Muskelkontraktion führen.

Der am wenigsten aufwendige Weg zur Wiederherstellung einer alltagstauglichen Greiffunktion besteht in der Anwendung von mehrkanaligen Elektrostimulatoren in Kombination mit Oberflächengelelektroden. Bereits mit sieben Klebeelektroden ([Abb. 1a ]) für die Stimulation des M. extensor digitorum communis, des M. extensor pollicis longus und einer gemeinsamen Elektrode für die Mm. flexor digitorum superficialis und profundus und des M. flexor pollicis longus kann ein einfacher, aber brauchbarer Schlüsselgriff erzeugt werden. Beim Schlüsselgriff dienen die gebeugten Finger als Widerlager für den Daumen, sodass flache Gegenstände wie ein Stift oder eine Gabel gegriffen werden können ([Abb. 2d ]). Mit einer weiteren Elektrode kann durch Stimulation des M. opponens über den N. medianus und die damit erzielte Abduktionsstellung des Daumens zusätzlich ein Zylindergriff erzeugt werden, mit dem größere Objekte bewegt werden können ([Abb. 2e ]). Zur Verbesserung von Handhabbarkeit und Reproduzierbarkeit der Griffe werden die Elektroden in einem individuell angepassten Elektrodenhandschuh befestigt ([Abb. 1b und c ]).

Zoom Image
Abb. 1 Stimulationselektroden (a) für
1: Fingerextension
2: Daumenextension
3: Finger- und Daumenflexion
4: Daumenopposition
Eingeklebte Elektroden (b) im individuell gefertigten Neoprenhandschuh Angelegter Elektrodenhandschuh (c) (Abb.: Rüdiger Rupp)
Zoom Image
Abb. 2 Greifneuroprothesennutzer bei der Bewältigung von speziellen Testaufgaben (a, f) und Alltagsaufgaben (b, c, d, e) (Abb.: Rüdiger Rupp)

Nichtinvasive vs. implantierbare Systeme. Generell besitzen nichtinvasive Systeme den Vorteil, dass sie bereits in der Frühphase angeboten und einfach an den sich ggf. verändernden neurologischen Status angepasst werden können. Allerdings bestehen im Vergleich zu implantierbaren Systemen Probleme in der Handhabung und der selektiven Stimulation einzelner Muskeln. Obwohl der hohe Alltagsnutzen [17] von implantierten Greifneuroprothesen nachgewiesen ist, konnten sich diese am Markt nicht durchsetzen. Die Gründe hierfür liegen in den im Vergleich zu den nichtinvasiven Systemen um einen Faktor 10 höheren Kosten, der unzureichenden Möglichkeit der Anpassung an die individuellen Bedürfnisse des Nutzers und der Tatsache, dass nur wenige Einrichtungen die für eine erfolgreiche Patientenselektion, Implantation und Nachbehandlung notwendige Infrastruktur bereitstellen können.


#

Lähmung ist nicht gleich Lähmung

Alle Neuroprothesen arbeiten üblicherweise mit Impulsen, mit denen ausschließlich Nervenfasern aktiviert werden können. Infolge einer Rückenmarkverletzung kommt es aber in mehr oder minder großem Ausmaß auch zu einer Schädigung von Motoneuronen im direkten Verletzungsgebiet. Die in der Folge auftretende Denervation stellt ein großes Problem dar, da denervierte Muskeln bzw. Muskelanteile nicht direkt mittels FES zu einer funktionell bedeutsamen Kontraktion angeregt werden können. Aus dem gleichen Grund ist auch für Plexusparesepatienten bisher keine Neuroprothese verfügbar. Da von potenziellen Neuroprothesennutzern eine Menge weiterer Voraussetzungen, wie geringe Spastik, ausreichender passiver Bewegungsumfang der Gelenke oder das Nichtvorhandensein einer autonomen Dysreflexie erfüllt werden müssen, wird nicht jeder Hochquerschnittgelähmte von der Technologie profitieren können.


#

Individualisierte Technik zwingend notwendig

Die Technik muss an die Möglichkeiten des Nutzers anpassbar sein, und nicht der Nutzer nach den Möglichkeiten der Technik ausgewählt werden!

Neben der individuellen Festlegung der Elektrodenpositionen und der personalisierten Anfertigung des Elektrodenhandschuhs ist auch die Auswahl der Benutzerschnittstelle einer Neuroprothese von entscheidender Bedeutung für die Nutzerakzeptanz. Im Regelfall steuert der Nutzer seinen Griff selbstständig über Bewegungen der gegenüberliegenden Schulter, die über einen auf die Schulter aufgeklebten Positionssensor registriert werden. Hiermit wird je nach Benutzerpräferenz der Grad der Handschließung/-öffnung über Pro-/Retraktion oder Elevation/Depression der Schulter kontrolliert. Eine Umschaltung zwischen Schlüssel- und Zylindergriff erfolgt durch Druck auf das Endstück des Schultersensors. Diese unnatürliche Art der Steuerung muss von den Nutzern erst erlernt werden, sodass bei Nutzern mit erhaltener Dorsalextension im Handgelenk diese bevorzugt für eine Kontrolle herangezogen wird. Hier kann eine Steuerung des Daumen- und Fingerschlusses über die mittels Biegesensor gemessene Handhebung in intuitiver Art und Weise erfolgen.


#

Wiederherstellung der Armfunktion

Bei einer Reihe von Hochquerschnittgelähmten liegen ausgedehnte Lähmungen nicht nur der Hand, sondern auch des Ellenbogens vor. Bei diesen Menschen ist oftmals der M. biceps zumindest teildenerviert, sodass durch die FES alleine keine ausreichende Ellenbogenflexion erreicht werden kann. Hier kann die kombinierte Applikation von FES und einer aktiven Orthese dennoch eine Funktionswiederherstellung der Arm- und Greiffunktion ermöglichen. Erste Ansätze zeigen, dass mit solchen FES-Hybridorthesen Höchstgelähmte mit Einschränkungen der gesamten Armfunktion Gegenstände des täglichen Lebens ergreifen und z. B. essen ([Abb. 3]) oder trinken können [19].

Zoom Image
Abb. 3 Machbarkeitsnachweis einer mittels Gehirn-Computer Schnittstelle gesteuerten FES-Hybridorthese bei einem Hochquerschnittgelähmten ohne willkürliche Ellenbogen- und Handfunktion (Abb.: Rüdiger Rupp)

Steuerung über Ohrmuskelaktivierung. Damit Betroffene mit wenigen erhaltenen Restfunktionen die Funktionalität dieser Hybridorthese vollständig und vor allem in einer natürlichen Art und Weise nutzen können, müssen alternative Formen von Benutzerschnittstellen bereitgestellt werden. Einen vielversprechenden Ansatz stellt die Kontrolle über die Registrierung von Ohrmuskelaktivitäten dar. Diese Muskeln sind direkt über Hirnnerven innerviert und können damit auch von Hochquerschnittgelähmten prinzipiell angesteuert werden. Sie sind zudem nicht mit anderweitigen Funktionen wie bei Augenbewegungen vorbelegt. Kürzlich konnte nachgewiesen werden, dass auch Nichtohrwackler innerhalb einer Woche lernen können, die Ohrmuskeln auf beiden Seiten getrennt so anzusteuern, dass damit ein Elektrorollstuhl kontrolliert werden kann [21].

Ungelöste Probleme. Bei allem Erreichten bleibt dennoch eine Reihe von nicht gelösten Problemen. Allen voran bereitet das alltägliche Anziehen des Elektrodenhandschuhs Schwierigkeiten. Bei Rotationsbewegungen des Handgelenks verschieben sich Elektroden, und es kann zu unerwünschten Fingerstellungen bzw. Kraftverlust kommen. Durch den Sensibilitätsverlust in der Hand spüren Betroffene oft nicht, wie stark sie zugreifen. Darüber hinaus sollte die Bedienung wesentlich intuitiver erfolgen und vom Nutzer nicht ständig eine hohe Aufmerksamkeit abverlangen.


#

Das MoreGrasp-Projekt

Mit dem seit März 2015 begonnenen MoreGrasp-Projekt (www.moregrasp.eu) versucht ein europäisches Konsortium, diese Probleme in den Griff zu bekommen ([Abb. 4]).

Zoom Image
Abb. 4 Übersicht über die geplante semiautonome, motorische und sensible MoreGrasp-Neuroprothese mit Steuerung durch ein Hybrid Brain-Computer Interface (Abb.: Adrian Cornford)

Elektrodenarray. In MoreGrasp wird ein Elektrodenarray entwickelt, bei dem eine Vielzahl von Elektroden in den Handschuh integriert wird, die situationsangepasst elektronisch zu größeren Elektrodenverbünden zusammengeschaltet werden können [18]. Damit sollen Fehlplatzierungen der Elektroden beim Anlegen und Verschiebungen während der Anwendung dynamisch kompensiert werden können. Mittels auf Alltagsgegenstände aufklebbaren Folienkraftsensoren, deren Daten von einem Funkmodul übertragen werden, können Greifkräfte registriert und für eine semiautonome Griffsteuerung verwendet werden. Durch zusätzliche Elektroden in Körperregionen mit erhaltener Sensibilität, wie dem Hals, können dann einem Nutzer Rückmeldungen über die aufgebrachten Greifkräfte gegeben werden.

Hybrid Brain-Computer Interfaces. Um einem Benutzer eine intuitivere Steuerung der Hand zu ermöglichen, sollen Gehirnsignale zur Erkennung der Benutzerintention in das Steuerungskonzept mit einbezogen werden [15], [19]. Dies geschieht mittels sogenannter Hybrid Brain-Computer Interfaces (Gehirn-Computer-Schnittstellen), bei denen ein auf Bewegungsvorstellungen basierendes Brain-Computer Interface (BCI) mit traditionellen Benutzerschnittstellen kombiniert wird. Damit soll auf Basis der Modulation des Elektroenzephalogramms (EEG) über den motorischen Gehirnarealen erkannt werden, ob ein Benutzer z. B. die Signale eines Schulterjoysticks zur Steuerung des Grades der Handschließung oder der Handgelenkrotation verwenden will. Um eine hohe Alltagstauglichkeit zu erreichen, werden an die Benutzeranatomie angepasste EEG-Kappen entwickelt, die auf einfach zu handhabenden Trockenelektroden basieren und ihre Daten drahtlos an eine Kontrolleinheit übermitteln. In MoreGrasp sollen erste Hinweise gewonnen werden, inwieweit eine Dekodierung von unterschiedlichen Greif- bzw. Armbewegungen mittels BCIs in Echtzeit möglich ist. Im Erfolgsfall könnte damit erstmalig die bilaterale Wiederherstellung der Greiffunktion umgesetzt und damit ein weiterer Schritt in Richtung Normalität für die Betroffenen vollzogen werden.


#

Wiederherstellung der Gehfunktion

Bei der Hälfte der frisch Querschnittgelähmten liegt eine motorisch inkomplette Lähmungssituation vor. Bei diesen liegt der Fokus der Rehabilitation auf der Verbesserung der Gehfunktion, da diese eine Voraussetzung für eine uneingeschränkte Partizipation im beruflichen wie privaten Leben darstellt [5]. Dass überhaupt eine Funktionsverbesserung erreicht werden kann, basiert auf der Eigenschaft des gesamten zentralen Nervensystems (ZNS) zur neuronalen Plastizität, also der Fähigkeit zur strukturellen und funktionellen Reorganisation von Neuronenverbindungen. Neben dem Gehirn besitzt auch das Rückenmark durch seine hohe Zahl an Interneuronen – im Rückenmark befinden sich zehnmal mehr Interneurone als Motoneurone – die Fähigkeit zur neuronalen Plastizität.

Das Rückenmark ist nicht nur ein Kabelbaum zwischen Gehirn und Muskeln, sondern besitzt gewisse Verarbeitungsmöglichkeiten im Sinne einer spinalen Intelligenz.

Auch wenn bereits vor 250 Jahren angenommen wurde, dass die der Fortbewegung zugrunde liegenden Aktivierungsmuster aus segmentalen Schaltkreisen im lumbalen Rückenmark entspringen, wurde der Nachweis erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts an spinalisierten Katzen erbracht. Diese zeigten ein dem Gehen ähnliches Aktivierungsmuster, wenn ihnen geeignete sensorische Reize aus der Peripherie zugeführt wurden. Was damals noch als „intrinsischer Faktor“ bezeichnet wurde, ist uns heute als zentraler Mustergenerator (engl.: Central Pattern Generator, CPG) bekannt. Mittels eines dualen spinalen Verletzungsmodells konnte kürzlich gezeigt werden, dass selbst nach einer inkompletten Querschnittlähmung zwar erhaltene absteigende Rückenmarkbahnen zur willkürlichen zielorientierten Lokomotion beitragen, die Erholung und Wiederherstellung eines Lokomotionsmusters größtenteils aber von plastischen Veränderungen des CPGs herrührt [12].


#

Gehen lernt man nur durch Gehen

Erkenntnisse über die Reorganisationsfähigkeit des zentralen Nervensystems haben zu einem Umdenken der traditionellen Therapiemaßnahmen in der Rehabilitation von Patienten mit neurogenen Bewegungsstörungen geführt. Mittlerweile sind funktionsorientierte Therapien auf der Basis des motorischen Lernens etabliert, allen voran das Laufbandtraining unter partieller Gewichtsentlastung (Body Weight Supported Treadmill Training – BWSTT). Neben der Normalisierung der Aktivierungsmuster, einem physiologischeren Gangbild und der verbesserten Fähigkeit zur Gewichtsübernahme hat die Laufbandtherapie auch positiven Einfluss auf die Spastik und die kardiopulmonale Fitness [9].


#

Trainingsroboter sind gut, aber sind sie besser?

Mit der Einführung von Lokomotionsrobotern vor etwa 10 Jahren konnten Therapeuten effektiv von der körperlich anstrengenden manuellen Assistenz der Gehbewegungen entlastet werden. Aufgrund der hinlänglich bekannten Vorteile von Industrierobotern neigen Therapeuten und Patienten gefühlsmäßig dazu, einem robotisch assistierten Training eine höhere Wirksamkeit zuzusprechen. Allerdings scheint ein robotisches Training einem manuell assistierten Laufbandtraining nicht überlegen zu sein [14]. Die Gründe hierfür liegen höchstwahrscheinlich in der nur teilweisen Implementierung von Prinzipien des motorischen Lernens in robotischen Unterstützungssystemen, bei denen oftmals die Wiederholung der Bewegung und nicht der Bewegungsaufgabe im Vordergrund steht.

Bisherige Studienergebnisse zeigen, dass mit Lokomotionsrobotern keine wesentlich besseren Ergebnisse als mit manuellen Therapien gleicher Intensität erzielt werden können.

Allerdings können robotische Lokomotionstrainingsmaschinen die Therapie von inkomplett Querschnittgelähmten wesentlich erweitern.


#

Lokomotionstrainingsroboter für zu Hause

Die Dauer der Primärrehabilitation von frisch Querschnittgelähmten wird über die letzten Jahre immer kürzer. Mithilfe der teuren und aufwendigen Lokomotionsroboter kann im klinischen Umfeld noch eine ausreichende Intensität des funktionsorientierten Trainings aufrechterhalten werden, allerdings nimmt die Quantität und Qualität der Therapie nach Entlassung in das häusliche Umfeld drastisch ab. Damit bleibt das Potenzial vieler Patienten für motorische Verbesserungen oft ungenutzt.

Ein Versuch, die Lokomotionstherapie zum Patienten zu bringen, stellt das MoreGait(Motorized Orthosis for Home Rehabilitation of Gait)-Gerät dar, das aus einer speziellen Sitzvorrichtung in Kombination mit einer geneigten Rückenlehne, zwei aktiv angetriebenen Exoskeletten zur Unterstützung der Beinbewegungen und einer speziellen Mechanostimulationseinheit (stimulativer Schuh) zur Generierung eines physiologischen, schrittphasenbezogenen Fußbelastungsmusters besteht, die eine prinzipiell unsichere Vertikalisierung des Nutzers unnötig macht ([Abb. 5]).

Zoom Image
Abb. 5 Das MoreGait(Motorized Orthosis for Home Rehabilitation of Gait)-Gerät zum sicheren, effektiven robotischen Training im häuslichen Umfeld (Abb.: Rüdiger Rupp)

Aus neurobiologischer Sicht versucht MoreGait, neuroplastische Veränderungen auf verschiedenen Ebenen des ZNS in Gang zu setzen: Zum einen werden die sensiblen Schlüsselreize zur Aktivierung des CPG auf spinaler Ebene generiert [6] und zum anderen wird eine externe Rückmeldung über die Abweichung der Bewegungen von der physiologischen Bewegungstrajektorie bereitgestellt, um die Einschränkungen in der Oberflächen- und Tiefensensibilität der querschnittgelähmten Nutzer zu kompensieren.

MoreGait-Studie. Zum Nachweis der prinzipiellen Machbarkeit und Sicherheit einer heimbasierten, robotergestützten Lokomotionstherapie mit MoreGait und zur Dokumentation möglicher therapeutischer Wirkungen wurde eine Baseline-Studie mit 25 chronischen, motorisch inkomplett Querschnittgelähmten, die bereits bei Studienbeginn gehfähig waren (Walking Index for Spinal Cord Injury [WISCI] II [7] ≥ 5), durchgeführt. Nach 8 Wochen täglichen, bis zu 45 Minuten unsupervidiert ausgeführten Therapieeinheiten konnte eine mittlere Verbesserung der Gehfähigkeit im Hinblick auf Geschwindigkeit und Ausdauer von 50 % gegenüber Baseline nachgewiesen werden. Zusätzlich nahm bei einigen Studienteilnehmern die Hilfsmittelabhängigkeit ab.

Damit liegen die erreichten Verbesserungen in der gleichen Größenordnung wie die mit Großgeräten erzielbaren Erfolge [20]. Interessanterweise zeigte sich ein nahezu linearer Zuwachs der Gehgeschwindigkeit und -ausdauer innerhalb der 8 Wochen, sodass wahrscheinlich eine längere Trainingsdauer zu weiteren Verbesserungen geführt hätte.

Die Studienergebnisse zeigen, dass bei einer sorgfältigen Geräteauslegung ein nicht beaufsichtigtes Heimtraining mit einer komplexen, aber mobilen Lokomotionstrainingsmaschine sicher möglich ist.

Während über 1100 Trainingseinheiten kam es nur zu einer geräteassoziierten Nebenwirkung in Form eines Druckschadens an der Großzehe [20].


#

Der Mensch als sensibles Wesen

Im Vergleich zu Therapeuten sind Roboter mit ihren Sensoren in der Lage, die Kinematik und Kinetik von einer Vielzahl von Gelenken reproduzierbar zu erfassen. Die Fähigkeit zur Auswertung der erfassten Sensordaten in Echtzeit und der unmittelbaren Rückmeldung an den Benutzer eröffnet neue therapeutische Möglichkeiten [2]. Viele inkomplett Querschnittgelähmte besitzen eine relativ gute Motorik, entwickeln aber vor allem wegen Störungen der Tiefen- bzw. Oberflächensensibilität ein unphysiologisches Gangmuster mit den damit verbundenen Überlastungsphänomenen. Hier setzt das Prinzip eines kontinuierlichen extrinsischen oder augmented Feedback an, bei dem die noch erhaltene sensible Wahrnehmung um die Darbietung zusätzlicher externer Informationen erweitert wird.

Als Feedbackgrößen können beispielsweise folgende Messgrößen verwendet werden:

  • Gelenkwinkel

  • Bodenreaktionskräfte

  • Gelenkmomente

  • Raum-Zeit-Parameter

  • Muskelaktivitätsmuster

Die Rückführung kann visuell in Form von Abweichungen von der Norm, akustisch oder taktil erfolgen [11].

Vor Kurzem konnte gezeigt werden, dass inkomplett Querschnittgelähmte mit einem „Stiff-Knee Gait“-ähnlichen Gangmuster durch visuelles, schrittphasenbezogenes Echtzeitfeedback der Abweichungen des Kniewinkels von der Norm ihr Gangmuster normalisieren konnten. Auch ohne Darbietung des Feedbacks kam es darüber hinaus über sechs Trainingseinheiten zu einer stetigen Normalisierung des Gangmusters [20].

In neuester Zeit kommen zunehmend auch Methoden der virtuellen Realität (VR) zum Einsatz, die neben Elementen zum motorischen und kognitiven Training einen erheblichen Motivationsaspekt besitzen [22].

Grundsätzlich kann durch Feedback eine eher langweilige Lernaufgabe aufgelockert und angenehmer gestaltet werden, was in einer gesteigerten Trainingsintensität und -bereitschaft resultieren kann.

Trotz positiver Resultate von einigen Einzeluntersuchungen ist die Evidenz für die Wirksamkeit eines zusätzlichen Feedbacktrainings gering [10], [24]. Derzeit sind nur kurzfristige Effekte gezeigt worden, sodass für zukünftige Studien insbesondere Nachuntersuchungen einige Monate nach der Therapie (sog. Retentionstests) zum Nachweis eines nachhaltigen motorischen Lernens empfohlen werden. Weiterhin muss der Informationsgehalt des Feedbacks sorgfältig an die kognitiven Fähigkeiten des Patienten angepasst werden, da mentaler Stress zu einer Abnahme der motorischen Performance führt. Nichtsdestotrotz entwickeln sich Feedbacksysteme speziell durch die breite Verfügbarkeit von Intertialsensoren, wie sie in jedem Smartphone verbaut sind, rasant und können eine wertvolle Ergänzung des therapeutischen Spektrums bei Patienten mit vornehmlich sensiblen Einschränkungen darstellen.


#

Exoskelette als Rollstuhlersatz?

Auch unter Einsatz intensivster Trainingsmethoden lässt sich bei Betroffenen mit nur wenig erhaltenen Restfunktionen keine Restitution der Gehfunktion erreichen. Für diese Menschen sind in den letzten Jahren Lokomotionsroboter ([Abb. 6]) für das freie Gehen bis zur Marktreife entwickelt worden [4].

Zoom Image
Abb. 6 Probelauf einer Probandin mit dem Ekso-Exoskelett (Ekso Bionics, USA) (Abb.: Rüdiger Rupp)

Vor deren breiten Einführung sind grundsätzlich einige technische Herausforderungen – vorrangig die Minimierung des Sturz- und Verletzungsrisikos speziell bei Auftreten einer Spastik – zu lösen. Auch besteht Verbesserungsbedarf hinsichtlich der einfachen Handhabung, der ganztägigen Akkulaufzeit und der intuitiven Steuerung. Erste neutrale Studien zeigen, dass es bei der Nutzung zu Nebenwirkungen allen voran Druckstellen und Hautabschürfungen kommen kann [3]. Die Langzeitfolgen auf den Verschleiß der Gelenke der unteren Extremitäten müssen in Zukunft genau untersucht werden. Entscheidend für die Akzeptanz werden die Handhabbarkeit und der funktionelle Zugewinn im Alltag sein. Letztlich wird auch der Preis (~ 80.000 €) eine große Rolle spielen.

Potenzielle Nutzer müssen generell über ausreichend Rumpfstabilität und Armkontrolle verfügen. Auch darf die passive Gelenkbeweglichkeit nicht allzu sehr eingeschränkt werden und es sollte keine autonome Dysreflexie vorliegen. Die lange Liste der Kontraindikationen schränkt die Zahl der von einem Exoskelett möglicherweise profitierenden Nutzer deutlich ein, sodass der Rollstuhl auch in Zukunft für die meisten Betroffenen ein preiswertes, effizientes und gesellschaftlich akzeptiertes Fortbewegungsmittel bleiben wird.


#

Fazit

Technische Hilfen können in allen Bereichen der Rehabilitation Querschnittgelähmter einen wertvollen Beitrag zur Verbesserung der Unabhängigkeit im Alltag leisten. Greif- und Armneuroprothesen können Hochquerschnittgelähmten zu mehr Selbstständigkeit und Lebensqualität verhelfen. Neue Benutzerschnittstellen auch unter Einbindung von Gehirn-Computer-Schnittstellen werden zukünftig eine intuitivere Steuerung der komplexen Systeme gestatten und idealerweise eine simultane Kontrolle der Greiffunktion beider Hände ermöglichen. Die Rückmeldung von sensorischen Informationen stellt einen weiteren Schritt in Richtung vollständige Substitution der Handfunktion dar.

Die breite Verfügbarkeit von Robotern zur Lokomotionstherapie bei inkomplett Querschnittgelähmten macht Therapeuten nicht überflüssig, sondern eröffnet neue therapeutische Möglichkeiten. Zu diesen zählen die Fortführung eines intensiven Lokomotionstrainings auch im häuslichen Umfeld und eine Effektivitäts- und Motivationssteigerung durch Echtzeitfeedback von Bewegungsgrößen bis hin zur virtuellen Realität. Ob sich Exoskelette für das freie Gehen als Rollstuhlersatz bewähren werden, müssen zukünftige Studien zeigen.

Alle wissenschaftlichen Errungenschaften dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine Querschnittlähmung bisher nicht heilbar ist. Es bleibt zu hoffen, dass an Tieren erzielte Erfolge hinsichtlich Neuroprotektion und -regeneration auf den Menschen übertragen werden können und zu einem substanziellen Funktionsgewinn führen werden. Allerdings ist auch dann nicht von einer Restitutio ad Integrum auszugehen, sodass in Zukunft patientenkooperative technische Hilfen benötigt werden, die sich in die vorhandenen Restfunktionen der Betroffenen integrieren lassen.


#
#

Rüdiger Rupp

Zoom Image

leitet die Sektion Experimentelle Neurorehabilitation an der Klinik für Paraplegiologie des Universitätsklinikums Heidelberg. Sein Forschungsschwerpunkt liegt in der Entwicklung und klinischen Erprobung von technischen Rehabilitationshilfen, zu denen vor allem Greifneuroprothesen und Lokomotionsroboter zählen.


Korrespondenzadresse

Dr.-Ing. Rüdiger Rupp
Universitätsklinikum Heidelberg; Klinik für Paraplegiologie – Sektion Experimentelle Neurorehabilitation
Schlierbacher Landstraße 200a; 69118 Heidelberg


Zoom Image
Zoom Image
Abb. 1 Stimulationselektroden (a) für
1: Fingerextension
2: Daumenextension
3: Finger- und Daumenflexion
4: Daumenopposition
Eingeklebte Elektroden (b) im individuell gefertigten Neoprenhandschuh Angelegter Elektrodenhandschuh (c) (Abb.: Rüdiger Rupp)
Zoom Image
Abb. 2 Greifneuroprothesennutzer bei der Bewältigung von speziellen Testaufgaben (a, f) und Alltagsaufgaben (b, c, d, e) (Abb.: Rüdiger Rupp)
Zoom Image
Abb. 3 Machbarkeitsnachweis einer mittels Gehirn-Computer Schnittstelle gesteuerten FES-Hybridorthese bei einem Hochquerschnittgelähmten ohne willkürliche Ellenbogen- und Handfunktion (Abb.: Rüdiger Rupp)
Zoom Image
Abb. 4 Übersicht über die geplante semiautonome, motorische und sensible MoreGrasp-Neuroprothese mit Steuerung durch ein Hybrid Brain-Computer Interface (Abb.: Adrian Cornford)
Zoom Image
Abb. 5 Das MoreGait(Motorized Orthosis for Home Rehabilitation of Gait)-Gerät zum sicheren, effektiven robotischen Training im häuslichen Umfeld (Abb.: Rüdiger Rupp)
Zoom Image
Abb. 6 Probelauf einer Probandin mit dem Ekso-Exoskelett (Ekso Bionics, USA) (Abb.: Rüdiger Rupp)