Deutsche Zeitschrift für Onkologie 2016; 48(02): 45
DOI: 10.1055/s-0042-111719
Editorial
© Karl F. Haug Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG

Ethik in der Onkologie

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Publication Date:
13 July 2016 (online)

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Prof. Dr. med. Giovanni Maio

Alle ethischen Fragen sind Menschenbild-Fragen, denn es ist das Bild des Menschen, das uns Aufschluss darüber gibt, was wir tun sollen. Als was müssen wir den Menschen, der an Krebs erkrankt, sehen? Seit dem Siegeszug der Zellularpathologie im 19. Jahrhundert haben zahlreiche Ärztegenerationen beigebracht bekommen, den Menschen als einen defekten Mechanismus zu begreifen, der einer punktuellen Reparatur bedarf, um wieder zu gesunden. Selbst in der Onkologie setzte man auf die punktuelle Behandlung des Tumors und vergaß, dass man dem Menschen nicht allein dadurch helfen kann, dass man ihn auf seinen Tumor reduziert.

So wichtig es war, einen fokalisierten Blick zu üben, um gezielt behandeln zu können, so verhängnisvoll erwies sich dieser Partikularismus, weil man zunehmend verlernte, den ganzen Menschen als eine leibseelische Einheit zu sehen. Vor allem vergaß man, dass Medizin sich von ihren Anfängen an nie so verstanden hat, wie es das naturwissenschaftlich geprägte 19. Jahrhundert sah. Man verlor aus dem Blick, dass die Medizin ihre eigentliche wissenschaftliche Wurzel ja nicht in der lokalistischen Zellularpathologie hatte, sondern in einer Konzeption, die von Anfang an den Menschen als eine Ganzheit in Zusammenhang mit seiner Umwelt sah.

Schon die hippokratische Medizin der Antike ging davon aus, dass Krankheit sowohl durch äußere als auch durch innere Einflüsse entsteht und dass sie den ganzen Menschen betraf. Für die hippokratische Medizin gab es nicht eine schematische Krankheit, die sich in typischer Weise äußerte. Es gab stattdessen je nach Konstitution und je nachdem, wie der Mensch lebte und in die Natur eingebunden war, ganz unterschiedliche Manifestationsformen von Krankheit. Der gesunde Körper ist im Konzept der antiken Medizin kein einheitliches System; vielmehr hat jeder Mensch seine eigene Konstitution. Dementsprechend wurde Gesundheit nicht als ein statischer und klar bezifferbarer Zustand verstanden, sondern als ein Zustand des Gleichgewichts. Leitend war damals schon das Homöostase-Modell als Erklärung von Gesundheit und Krankheit. Aufgrund der vielfältigen Faktoren, die das Gleichgewicht stören können, hat man in der Antike Krankheit als etwas Individuelles und damit Unverwechselbares betrachtet. Krankheit ist für die westliche Medizin der Antike und auch des Mittelalters nicht das Resultat einer Organschädigung, sondern das Resultat einer gestörten Harmonie des Körpers mit sich selbst sowie mit den äußeren Faktoren seiner Umwelt.

Wenn man sich dies klarmacht, so wird deutlich, dass wir heute nicht auf die fernöstlichen Traditionen zu schielen brauchen, um eine Neujustierung der Medizin zu erwirken, denn die westliche Medizin selbst hat ihre eigenen Wurzeln in dem Ganzheitlichen.

Die Beiträge dieses Heftes sind ein ermutigendes Zeichen dafür, dass sich die heutige Medizin dieser alten Wurzeln wieder neu zu besinnen beginnt und damit das naturwissenschaftliche Paradigma um weitere Paradigmen erweitert und damit bereichert. Alle Beiträge dieses Heftes sind von diesem Anliegen geprägt, die bisherige naturwissenschaftliche Vereinseitigung der Medizin zu sprengen, ohne dem naturwissenschaftlichen Zugang seine Legitimität abzusprechen.

Die Beiträge zum Schwerpunktthema beginnen mit einem Plädoyer über die Notwendigkeit einer auf das Individuum zugeschnittenen Therapie (Weis), dann folgt ein Blick auf die heilsame Kraft der Zuwendung (Maio). In einem dritten Beitrag (Büssing) wird an dem konkreten Beispiel des aktuell diskutierten assistierten Suizids die Notwendigkeit eines ganzheitlichen Zugangs offenkundig. Die Beiträge zur Selbstregulation (Kröz et al.) und zur Mind-Body-Medizin (Paul/Voiss/Dobos) machen auf eindrückliche Weise deutlich, wie sehr der kranke Mensch selbst eingebunden werden muss in den Heilungsprozess, weil die wesentlichen Heilkräfte nicht allein in den Agenzien zu suchen sind, sondern in der menschlichen Natur selbst.

Medicus curat, natura sanat – das war das Credo der Antike. Die Beiträge in diesem Heft machen die Aktualität dieses Credos deutlich, indem sie darauf verweisen, dass mit der Natur des Menschen eben nicht nur seine physische Natur zu verstehen ist, sondern seine leibseelische Ganzheit mit allen Sphären des Geistigen. Sich über die Wirkkraft des Geistigen im Menschen neu zu vergewissern, ist das Verdienst dieses vorliegenden Heftes, das als ein ermutigendes Zeichen für die Zukunft der Medizin zu lesen ist.

Giovanni Maio
Lehrstuhl für Medizinethik
Institut für Ethik und Geschichte der Medizin
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg