Gesundheitswesen 2016; 78(S 01): e87-e88
DOI: 10.1055/s-0042-116384
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Die Macht des Wortes

M. Wildner
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Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Manfred Wildner
Bayerisches Landesamt für
Gesundheit und Lebensmittelsicherheit
Veterinärstraße 2
85764 Oberschleißheim

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Publication Date:
22 September 2016 (online)

 

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Prof. Dr. med. Manfred Wildner

„Geschrieben steht: »Im Anfang war das Wort!«/Hier stock ich schon! Wer hilft mir weiter fort?/[…]Bedenke wohl die erste Zeile,/Dass deine Feder sich nicht übereile!“. Die hier zitierten Nöte, die Goethes Dr. Faustus in seinem Studierzimmer erleidet [1], sind vermutlich in mannigfaltigen Variationen in vielen Studierzimmern weltweit zugegen – z. B. beim Verfassen wissenschaftlicher Publikationen oder (gesundheits-)politischer Memoranden. Faust bezieht sich in seinem eingangs zitierten Ringen in seinem Studierzimmer auf die Luther-Übersetzung des Prologs des Johannes-Evangeliums. Diesen könnte man auch vorsichtiger und wohl auch dem Urtext getreuer übersetzen mit: „Am Anfang war der Logos“. Und damit den wahrscheinlich gegebenen Bezug zu den philosophisch-religiösen Kernbegriffen „Logos“ (griechisch) bzw. „Memra“ (jüdisch-aramäisch) besser wahren, Begriffe mit großem Bedeutungsspielraum. Das vernünftig gesprochene, ordnende Wort („Logos“) fällt damit in eine andere Kategorie wie das leichterdings in lockerer, oft phantasievoller Erzählung gesprochen Wort, welches die griechische Sprache dazu differenziert mit „Mythos“ bezeichnet. Fausts Verzweiflung am „Wort“ wie am Leben in der Studierstube hat seine Auflösung allerdings durch einen Pakt mit dem Teufel gefunden – das anschließende Eintreten in die weitere Welt ist in seinen Konsequenzen und Weiterungen paradoxerweise zu dem klassischen Lesestoff deutscher Sprache schlechthin geworden und hat mit seiner Wortgewalt nicht nur das Denken von Studienräten und Philologen berührt und geprägt.


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Was hat es mit dieser Wortgewalt, mit dieser Macht des Wortes, auf sich? Zunächst könnte hier eine Differenzierung vorgenommen werden, zwischen der Macht des gesprochenen Wortes, welches sich mit dem Charisma einer Person und ihren Taten verbindet, und der Macht des geschriebenen Wortes, welches das Gedachte dauerhafter einzufangen und eine weitere Verbreitung zu erlangen vermag. Die Erfindung der Schrift ist damit die notwendigerweise den Worten zugehörige Technologie, welche ihnen erst zum Durchbruch verhilft und ihnen Beständigkeit verleiht. Dies gilt für religiöse Schriften genauso wie für Literatur, Philosophie und wissenschaftliches Arbeiten. Und mindestens so wie Gutenberg als Erfinder des Buchdrucks mit beweglichen Lettern wohl zu Recht von 4 prominenten amerikanischen Journalisten zum „Mann des zweiten (nachchristlichen) Jahrtausends“ gewählt wurde, hätte man auch diejenigen klugen Phönizier aus dem östlichen Mittelmeerraum ehren müssen, welche im 11. vorchristlichen Jahrhundert als erste ihre Alphabetschrift entwickelten. Aus ihr leiten sich weitestgehend alle anderen Alphabetschriften ab. Inzwischen haben wiederum neuere Technologien Einzug gehalten, welche das gesprochene Wort in Wort und Bild einzufangen vermögen und darüber hinaus auch so manches Unausgesprochene: nicht nur in Bildern der Mimik, sondern auch in den vielfältigen digitalen Spuren unserer Lebensvollzüge – von Kreditkartenabrechnungen bis zum „Internet der Dinge“ in einer Big Data-Welt [2] [3].

Doch um bei Wort und Schrift zu bleiben: schriftliche Abhandlungen, oftmals nach festen Schreibregeln, sind noch immer die gemeinsame Verständigung und feste Währung in der Welt der Wissenschaft wie auch in vielen anderen Bereichen des Gesundheitswesens [4]. Gesetze, Leitlinien, Krankenakten – sie basieren noch immer auf dem geschriebenen Wort bzw. geschriebenen Zahlen. Ist dieses Wort uneingeschränkt mächtig oder ist es nicht auch gefährdet? Es ist zum einen die Freiheit des Wortes, gesprochen wie geschrieben, welche den Kern akademischen Lebens und Schaffens ausmacht. Bedrohungen ergeben sich insbesondere in Zeiten der Diktatur und ihrer zugehörigen Gedankenpolizei, wie in stalinistischer oder nationalsozialistisch-fachistischer Gestalt. So hat die ursprünglich zynische Bezeichnung der „political correctness“ (PC), verwendet in exiljüdischen Kreisen für die mannigfach mäandernde Moskauer Parteilinie im Stalinismus, inzwischen einen Bedeutungswandel erfahren. Sie wird nun auf die bisweilen angestrengte Nicht-Diskriminierung und „affirmativ action“ in den post-68er akademischen Kreisen in den USA bezogen und durchaus kontrovers diskutiert [5]. Das Ziel der Werturteilsfreiheit insbesondere in den ideologieanfälligeren Geistes- und Sozialwissenschaften kann damit ebenso erreicht wie auch verfehlt werden: „Distanz halten, sich nicht gemein machen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten“, zitiert der Wissenschaftsjournalist Alexander Grau die Empfehlung Hanns Joachim Friedrichs an Moderatoren in diesem Zusammenhang [6]. Der „linguistic turn“, das sprachkritische Bewußt-Werden der gegenseitigen Beeinflussung von Redeweise, Denken und Handeln, hat uns im 20. Jahrhundert nachdenklich gemacht: Wir denken und handeln innerhalb des „Framings“ durch Sprache und Kultur [7] [8].

Und um hier die zugehörige akademische Gretchenfrage zu stellen: Wie verhält es sich mit dem Gebrauch der Muttersprache in wissenschaftlichen Kontexten? Die lingua franca, der freie Austausch zwischen Gelehrten in einer gemeinsamen Sprache, hat Tradition: die jeweilige Sprache war zeitweise Griechisch, Latein, Arabisch, dann wieder Latein, kurzzeitig nationalsprachig und ist derzeit zweifelsohne das Englisch-Amerikanische. Doch sollten wir, sowie Kepler und Galilei sich auf Latein austauschten, dabei ansonsten auch in ihren Landessprachen arbeiteten, nicht auch darauf achten, dass Sprache sich nicht in etwas „Geliehenes“ verwandelt? Gerade im Bereich der Versorgungsforschung sind gesellschaftsspezifische Eigenheiten zu beachten: in Gestalt der Sozialgesetzgebung und der grundsätzlichen Organisation des Gesundheitswesens, wie der mitteleuropäischen Variante eines Bismarckschen Sozialsystems in Abgrenzung zu staatlichen oder stärker privatwirtschaftlichen Gesundheitssystemen, hinsichtlich der kulturellen Erwartungshaltungen in der Interaktion der Patienten und Leistungserbringer, nicht zuletzt auch in den oft schwer bestimmbaren Assoziationen der sprachlichen Verständigung im allgemeinen wie im speziellen und fachspezifischen Wortgebrauch. Hofmann und Ricciardi argumentieren in einem beachtlichen kleinen Aufsatz, dass dem „Outsourcen der Sprache“ in letzter Konsequenz auch ein „Outsourcen des Denkens“ folgen könnte und dass bei Übersetzungen durchaus auch Unübersetzbares auf der Strecke bleiben kann – Faust sei’s geklagt [9].

Das vorliegende Sonderheft von „Das Gesundheitswesen“ ist ein crossmediales Experiment: es ist gesetzt und gelayoutet wie die bekannten Druckversionen. Es ist dabei gleichzeitig „nur“ elektronisch verfügbar – allerdings als open access Publikation mit potentiell weltweiter Zugänglichkeit und vielleicht punktuell auch weiter Ausstrahlung. Die Beiträge sind dabei in deutscher Sprache verfasst – begleitet von englischsprachigen Abstracts. Vorgestellt werden Forschungsergebnisse zu organisatorischen und interpersonellen Aspekten der haus- und fachärztlichen Versorgung im Vergleich, eine Untersuchung zu pflegerischen Versorgungsdefiziten in deutschen Krankenhäusern, die Nutzenbewertung von Handlungsempfehlungen zur Patientensicherheit, Ergebnisse einer systematischen Reviews zum Einsatz von Qualitätsindikatoren, eine Kostenanalyse von multimodalen Rückenschmerztherapien, eine Untersuchung zur Überforderung pflegender Angehöriger bei der Versorgung am Lebensende, die Eignung von GKV-Routinedaten zur Überprüfung von Versorgungsleitlinien und der überarbeitete STROSA-Berichtsstandard für Sekundärdatenanalysen.

Mephistopheles‘ Spott über die Faustische Gelehrsamkeit gipfelt am Ende der Studierstuben-Szene in der Feststellung: „Dir wird gewiss einmal bei deiner Gottähnlichkeit bange!“. Auch aus heutiger Sicht ist die darin versteckte Warnung vor uraltem menschlichem Hochmut ernst zu nehmen, insbesondere dann, wenn Worte nicht der Wahrheitsfindung und, im Gesundheitswesen, nicht der Gesundheit des (kranken) Menschen dienen. Doch in einem Ernst-nehmen auch solcher Gefahren, einem kritisch-reflektivem Umgang mit geschriebenem wie gesprochenem eigenem wie auch fremdem Wort, einem Bedenken seiner direkten wie auch indirekten Auswirkungen, liegt gleichzeitig doch auch die große Chance des Logos: Einer Sprachen, Nationen und Kulturen verbindenden Vernunft wissenschaftlicher Rede. Innerhalb dieses framings wissenschaftlicher Vernunft und Logik ist herkömmliche Grenzen überwindender Austausch in Form wissenschaftlicher Artikel, Vorträge und Präsentationen, Studierenden- und Dozentenaustauschs möglich. So könnte sich auch im Gesundheitswesen und in den Gesundheitswissenschaften das immer wieder auch gegenwärtige, das Gemeinwohl durch Partikularinteressen mephistophelisch Verneinende, durch seine wissenschaftlich vernünftige Aufarbeitung letztlich im Sinn der faustischen Studierzimmererzählung auswirken „als Teil von jener Kraft,/die stets das Böse will und stets das Gute schafft“ [1].


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  • Literatur

  • 1 Goethe JW. Faust – Eine Tragödie, 6. Kapitel. Tübingen, J. G. Cotta’sche Buchhandlung 1808. URL: http://gutenberg.spiegel.de/buch/-3664/6 (zitiert 30.08.2016)
  • 2 Vernon T, Gantz JF, Reinsel D et al. The Digital Universe of Opportunities: Rich Data and the Increasing Value of the Internet of Things. IDC White Paper, Framing 2014;
  • 3 Mayer-Schönberger V, Cukier K. Big Data – A Revolution That Will Transform How We Live, work and Think. London: John Murray Publishers; 2013
  • 4 Bayerischer Forschungs- und Aktionsverbund Public Health e.V. (Hrsg.). Leitfaden für Studienprotokolle und Arbeitspläne in der Public Health-Forschung. Überarbeitete und ergänzte Fassung 2015. URL: http://www.public-health.de/e2677/index_ger.html (zitiert 30.08.2016)
  • 5 Gassert P. Keine einfachen Antworten. Forschung und Lehre 2016; 4: 290-292
  • 6 Grau A. Resultat einer Weltfluchtagenda. Forschung und Lehre 2016; 4: 294-295
  • 7 Rorty RM. The Linguistic Turn. Essays in Philosophical Method, Chicago 1. A 1967; S. 9
  • 8 Wehling E. Alles, nur bitte keine „Political Correctness“. Forschung und Lehre 2016; 4: 300-301
  • 9 Hofmann D, Ricciardi RR. Die Kraft des Wortes. Forschung und Lehre 2015; 12: 1008-1009

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Manfred Wildner
Bayerisches Landesamt für
Gesundheit und Lebensmittelsicherheit
Veterinärstraße 2
85764 Oberschleißheim

  • Literatur

  • 1 Goethe JW. Faust – Eine Tragödie, 6. Kapitel. Tübingen, J. G. Cotta’sche Buchhandlung 1808. URL: http://gutenberg.spiegel.de/buch/-3664/6 (zitiert 30.08.2016)
  • 2 Vernon T, Gantz JF, Reinsel D et al. The Digital Universe of Opportunities: Rich Data and the Increasing Value of the Internet of Things. IDC White Paper, Framing 2014;
  • 3 Mayer-Schönberger V, Cukier K. Big Data – A Revolution That Will Transform How We Live, work and Think. London: John Murray Publishers; 2013
  • 4 Bayerischer Forschungs- und Aktionsverbund Public Health e.V. (Hrsg.). Leitfaden für Studienprotokolle und Arbeitspläne in der Public Health-Forschung. Überarbeitete und ergänzte Fassung 2015. URL: http://www.public-health.de/e2677/index_ger.html (zitiert 30.08.2016)
  • 5 Gassert P. Keine einfachen Antworten. Forschung und Lehre 2016; 4: 290-292
  • 6 Grau A. Resultat einer Weltfluchtagenda. Forschung und Lehre 2016; 4: 294-295
  • 7 Rorty RM. The Linguistic Turn. Essays in Philosophical Method, Chicago 1. A 1967; S. 9
  • 8 Wehling E. Alles, nur bitte keine „Political Correctness“. Forschung und Lehre 2016; 4: 300-301
  • 9 Hofmann D, Ricciardi RR. Die Kraft des Wortes. Forschung und Lehre 2015; 12: 1008-1009

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Prof. Dr. med. Manfred Wildner