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DOI: 10.1055/s-0042-116627
Probleme und Implikationen der Einschätzung des Gewaltrisikos von psychisch kranken Menschen
Problems and Implications of Assessing the Risk of Violence of Persons with Mental Illness- Versuch einer Risikoeinschätzung
- Nebenwirkungen der Risikoabschätzung
- Inhaltliche Grenzen der Risikoabschätzung
- Literatur
Die Gewalt, die angeblich oder tatsächlich von psychisch kranken Menschen ausgeht – und die Gewalt, die sie erleiden – ist ein immerwährendes Thema in der Psychiatrie und in der Öffentlichkeit [1]. Das Stereotyp der Gewalttätigkeit spielt eine wichtige Rolle bei der Stigmatisierung von Menschen mit psychischen Krankheiten, insbesondere von Menschen mit Psychose. Dabei fehlen zuverlässige Daten über die Risiken, mit denen wir rechnen müssen.
Die Einschätzungen reichen von der Behauptung, psychisch Kranke, auch Psychosekranke, seien nicht gewalttätiger als andere Menschen, bis zur Behauptung, 10 % und mehr aller tödlichen Gewalttaten würden von psychisch Kranken begangen. Eine rezente Übersichtsarbeit von Maier und Kollegen [1] kommt zu dem Schluss, dass das Gewaltrisiko selbst innerhalb einer Diagnosegruppe erheblich zwischen verschiedenen Studien und Ländern variiert. Wir möchten den scheinbaren Widersprüchen unterschiedlicher Häufigkeitsangaben auf den Grund gehen, um danach auf bisher wenig beachtete problematische Implikationen solcher Risikoeinschätzungen hinzuweisen.
Zunächst möchten wir grundsätzliche Probleme der Abschätzung des relativen Risikos für tödliche Gewalttaten deutlich machen. Dazu gehören
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die unsichere Abgrenzung zwischen Mord, Todschlag und Körperverletzung mit Todesfolge (wobei Letztere in der Regel nicht in die entsprechenden nationale Statistiken von Tötungshandlungen eingehen),
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Unterschiede in der Auswahl der Referenzstatistiken wie Polizeistatistiken, Anklage- und Verurteilungsstatistiken,
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unterschiedliche nationale Häufigkeiten von Tötungshandlungen: z. B. Deutschland 0,8 pro 100 000 pro Jahr gegenüber 4,2 in den Vereinigten Staaten (mit dem Ergebnis, dass dort bei vergleichbar hohen Tötungsraten durch Menschen mit psychischen Krankheiten die Odds Ratio für solche Taten deutlich niedriger ist),
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unterschiedliche Rechtssysteme,
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Unsicherheiten und nationale Unterschiede in der diagnostischen Zuordnung,
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die Problematik von subjektiven Faktoren bei der forensischen Begutachtung von Gewalttätern, die sich in Verurteilungsraten, vor allem aber in Verurteilungsgründen niederschlägt,
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Unterschiede in der Berechnung der Bezugspopulation beim Vergleich der Häufigkeit von Tötungsdelikten durch „Gesunde“ und „psychisch Kranke/ Psychosekranke“. So wird die Prävalenz von Psychosen zwischen 0,5 und 4 % der Bevölkerung angegeben.
Diese Aufzählung ist keineswegs vollständig.
Versuch einer Risikoeinschätzung
Wie hoch ist nun in Deutschland das tatsächliche Risiko von Menschen mit psychischen Krankheiten, und speziell mit der Diagnose einer Schizophrenie, tödliche Gewalttaten zu begehen, im Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung?
Mord und Totschlag sind in Deutschland verhältnismäßig seltene Straftaten. Die offizielle Kriminalstatistik [2] berichtet für 2011 über 664 Opfer, darunter 313 Frauen und 349 Männer. Das entspricht einer Tötungsrate von 0,8 pro 100 000 Einwohner pro Jahr. Damit liegt Deutschland international im unteren Drittel. Allerdings ist das Risiko, ein Tötungsdelikt zu begehen, ungleich verteilt: für Kinder und Jugendliche bis zum Ende des 15. Lebensjahres sowie für ältere Menschen jenseits des 65. Lebensjahres ist es verschwindend gering. Für Frauen ist es durchgehend sehr niedrig. Am höchsten ist es bei Männern im Alter zwischen 18 und 45 Jahren. Alles dies lässt sich in der polizeilichen Kriminalstatistik [2] nachlesen. Weniger aufschlussreich ist die Statistik im Hinblick auf bestimmte Risikogruppen wie psychisch Kranke.
Es ist aufgrund der unterschiedlichen Versorgungssysteme grundsätzlich schwierig, Häufigkeiten zwischen Ländern zu vergleichen. In England beispielsweise waren 2006 und 2011 5 – 6 % der wegen Mordes oder Totschlags verurteilten Menschen psychosekrank [3] [4]. Wenn man trotz der nationalen Unterschiede diese Zahl auf deutsche Verhältnisse überträgt, müssen wir in jedem Jahr mit etwa 33 Mord- und Totschlagshandlungen von Menschen mit einer Schizophreniediagnose rechnen. Je nachdem wie hoch man die Prävalenz von Psychosen annimmt, ergeben sich daraus unterschiedliche relative Risiken im Vergleich zu Gesunden, nämlich zwischen 1,3 (bei einer Psychoseprävalenz von 4 %) und 10,3 (bei einer Prävalenz von 0,5 %). Es spricht einiges dafür, das relative Risiko unter Berücksichtigung einer Risikopopulationen von 800 000 bis 1,7 Millionen Menschen mit Psychose zu berechnen. In diesem Fall wäre das Risiko von Menschen mit schizophrenen Psychosen eine tödliche Gewalttaten zu begehen 2,4- bis 5,2-mal so hoch wie das der Durchschnittsbevölkerung.
Auch wenn man diesen Befund kontextualisiert und richtig darauf hinweist, dass die Gefahr, zum Opfer von Gewalt zu werden viel größer ist als das Risiko von Täterschaft, und dass die allermeisten Menschen mit einer Schizophreniediagnose niemals in ihrem Leben gewalttätig werden – der statistische Befund eines insgesamt erhöhten Risikos für Gewalt bei Menschen mit Schizophrenie kann kaum bestritten werden.
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Nebenwirkungen der Risikoabschätzung
Allerdings ist eine Schizophreniediagnose nicht das einzige risikobehaftete Merkmal einer Person. Das wird deutlich an den Werten, die eine Registerstudie aus Dänemark errechnete [5]. Hier wurden zufällig ausgewählte 25 % der dänischen Bevölkerung mit einem Geburtsjahr nach 1965 im Längsschnitt verfolgt, um das Risiko für ein Gewaltdelikt (nicht auf tödliche Gewalt beschränkt) in Abhängigkeit von einer zuvor gestellten psychiatrischen Diagnose zu errechnen. Menschen, die schon einmal wegen einer Psychose in Behandlung waren, hatten zunächst ein 6,0-fach (Männer) bzw. 17,7-fach (Frauen) erhöhtes Risiko, wegen eines Gewaltdelikts verurteilt zu werden, als Menschen ohne aktenkundige psychische Erkrankung. Diese Schätzung war für das Alter der Person und das Jahr der Tat kontrolliert. Das relative Risiko ist bei Frauen so viel höher, weil Frauen grundsätzlich viel weniger Gewalttaten begehen und die Taten im Zusammenhang mit einer Psychose deshalb stärker ins Gewicht fallen. Wurde eine psychische Erkrankung der Eltern sowie ein Geburtsort außerhalb Dänemarks als unabhängige Risikofaktoren miteingerechnet, reduzierte sich das der Psychose zuzurechnende relative Risiko auf 4,9 (Männer) und 13,7 (Frauen). Wurde außerdem eine möglicherweise vorhandene Substanzabhängigkeit oder ein Substanzmissbrauch in die Rechnung einbezogen, reduzierte sich das relative Risiko weiter auf 3,0 (Männer) bzw. 7,5 (Frauen).
Die statistische Verringerung dieses Risikos nach „Kontrolle“ von Herkunftsmerkmalen und Substanzmissbrauch in der Arbeit aus Dänemark macht deutlich, dass nicht nur eine Schizophrenie, sondern auch andere, häufig gleichzeitig auftretende Faktoren das Gewaltrisiko erhöhen. Gewalt ist ein multifaktorielles Geschehen, und auch die zitierte dänische Studie hat nicht alle relevanten Faktoren einbezogen. Nicht nur das Vorliegen einer psychischen Krankheit, Migration und Substanzgebrauch erhöhen das Gewaltrisiko, sondern auch ein niedriger sozioökonomischer Status sowie eigene Gewalterfahrungen. Viele dieser Faktoren erhöhen umgekehrt auch das Risiko für eine psychische Krankheit, oder können im Fall des Substanzmissbrauchs auch eine unmittelbare Folge der Erkrankung sein. Tatsächlich war fast jede der in der Studie untersuchten psychischen Krankheiten mit einem erhöhten Gewaltrisiko assoziiert.
Psychische Krankheit kann damit Ausdruck von schwierigen Bedingungen sein, die gleichzeitig Gewalt begünstigen [6]. Durch die statistische Berücksichtigung dieser Faktoren kann man zwar das Gewaltrisiko, das allein auf die psychische Krankheit zurückzuführen ist, rechnerisch verringern. Man kann dann argumentieren, dass die psychische Krankheit für sich genommen nur einen geringen Anteil am Gewaltrisiko hat, der sich allerdings nicht ganz wegrechnen lässt. Gleichzeitig läuft man aber Gefahr, mit dieser Argumentation gerade besonders schwer betroffene und benachteiligte Menschen erst recht auszugrenzen und zu stigmatisieren. „Schuld“ ist dann nicht die Krankheit, sondern der Substanzgebrauch – oder die schwierige Herkunft, oder die Verweigerung von Behandlung und so weiter.
Dabei ist Substanzmissbrauch bei schwer psychisch kranken Menschen häufig, schon um die oft quälenden Symptome besser aushalten zu können – wem hilft es da, das Gewaltrisiko der abstinenten Kranken von dem der konsumierenden Kranken abzugrenzen? Auch die Ablehnung von Behandlung, ein gut belegter Risikofaktor für Gewalt, gehört bei Psychosen häufig zum Krankheitsbild und kann den Betroffenen nicht zum Vorwurf gemacht werden. Der Versuch, das Stereotyp der Gewalttätigkeit zu entkräften darf nicht dazu führen, dass besonders benachteiligte und schwer betroffene Menschen mit Schizophrenie erst recht für ihr Gewaltrisiko verantwortlich gemacht und damit ausgegrenzt werden.
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Inhaltliche Grenzen der Risikoabschätzung
Die Risikoabschätzung kommt damit nicht nur an analytische, sondern vor allem an inhaltliche Grenzen. Man sollte einer unzulässigen Verallgemeinerung, wie sie das Gewaltstereotyp darstellt, nicht mit einer erneuten, gegenteiligen Verallgemeinerung begegnen, auch wenn die Absicht dahinter gut ist. Indem man das Risiko für die eine Patientengruppe kleinrechnet, zeigt man mit dem Finger auf besonders stark benachteiligte andere Patientengruppen, die damit noch stärker ausgegrenzt werden. Der Versuch, das Phänomen der Gewalt durch die Einbeziehung weiterer Risikomerkmale statistisch von den „reinen“ psychischen Krankheiten fernzuhalten, führt nur dazu, dass bestimmte, benachteiligte Patientengruppen erst recht zum Sündenbock gemacht werden. Stattdessen sollten wir die inhaltlichen Grenzen einer pauschalen Risikoabschätzung für psychische Krankheiten im Blick behalten und mehr über Gewaltprävention nachdenken. Dabei geht es um individuelle Risikofaktoren und Warnzeichen, mit denen wir uns beschäftigen müssen, um individuell Gewalt zu verhindern. Prävention heißt gerade nicht, die Augen vor einem Gewaltrisiko zu verschließen. Dass ein statistisch erhöhtes Gewaltrisiko nicht automatisch zur Ausgrenzung führt, zeigt der Vergleich mit anderen Risikogruppen: Die Hälfte aller Mord- und Totschlagsverbrechen an Frauen begehen Partner oder Expartner, Eltern haben ein deutlich erhöhtes Risiko, Säuglinge und Kleinkinder zu töten – hier würde man im Zusammenhang mit Gewaltprävention sicher nicht von Stigmatisierung sprechen.
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Literatur
- 1 Maier W, Hauth I, Berger M et al. Zwischenmenschliche Gewalt im Kontext affektiver und psychotischer Störungen. Der Nervenarzt 2016; 87: 53-68
- 2 Bundesministerium des Inneren. Polizeiliche Kriminalstatistik 2012. 2012. Im Internet: http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Broschueren/2013/PKS2012.pdf?__blob=publicationFile (Stand: 11.04.2016)
- 3 Shaw J, Hunt IM, Flynn S et al. Rates of Mental Disorder in People Convicted of Homicide. BJPsych 2006; 188: 143-147
- 4 Swinson N, Flynn SM, While D et al. Trends in Rates of Mental Illness in Homicide Perpetrators. BJPsych 2011; 198: 485-489
- 5 Stevens H, Laursen TM, Mortensen PB et al. Post-illness-onset risk of offending across the full spectrum of psychiatric disorders. Psychol Med 2015; 45: 2447-2457
- 6 Laghchioua S, Grube M. Intimpartnergewalt in einer Gruppe schwer psychich erkrankter Frauen. Psychiat Prax 2015; 3: 158-161
Korrespondenzadresse
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Literatur
- 1 Maier W, Hauth I, Berger M et al. Zwischenmenschliche Gewalt im Kontext affektiver und psychotischer Störungen. Der Nervenarzt 2016; 87: 53-68
- 2 Bundesministerium des Inneren. Polizeiliche Kriminalstatistik 2012. 2012. Im Internet: http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Broschueren/2013/PKS2012.pdf?__blob=publicationFile (Stand: 11.04.2016)
- 3 Shaw J, Hunt IM, Flynn S et al. Rates of Mental Disorder in People Convicted of Homicide. BJPsych 2006; 188: 143-147
- 4 Swinson N, Flynn SM, While D et al. Trends in Rates of Mental Illness in Homicide Perpetrators. BJPsych 2011; 198: 485-489
- 5 Stevens H, Laursen TM, Mortensen PB et al. Post-illness-onset risk of offending across the full spectrum of psychiatric disorders. Psychol Med 2015; 45: 2447-2457
- 6 Laghchioua S, Grube M. Intimpartnergewalt in einer Gruppe schwer psychich erkrankter Frauen. Psychiat Prax 2015; 3: 158-161