Mit freundlicher Genehmigung von Peters M. für die Deutsche Gesellschaft für Hebammenwissenschaften
e.V. Stellungnahme zur überarbeiteten Fassung der S1-Leitlinie „Vorgehen bei
Terminüberschreitung und Übertragung“ 02/2010 der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und
Geburtshilfe (DGGG) (19.10.2015). Z Hebammenwiss. 2015; 3 (2): 51–57.
Die Überarbeitung der S1 Leitlinie „Vorgehen bei Terminüberschreitung und Übertragung“ wird von der
Deutschen Gesellschaft für Hebammenwissenschaft (DGHWi) aufgrund der Verunsicherungen der Praxis
durch die Leitlinie in ihrer ersten Version (2010) ausdrücklich begrüßt. Die modifizierte
Leitlinie stellt eine wichtige Orientierungshilfe für alle in der Praxis tätigen Ärzt/innen wie
auch Hebammen dar. Wir freuen uns, dass einige unserer Kritikpunkte zur letzten Stellungnahme
Einzug in die neue Version gefunden haben. Im Folgenden wird die Leitlinie durch die Sektion
Schwangerenvorsorge kritisch gewürdigt.
Methodik
Die insgesamt 42 Seiten umfassende Leitlinie ist klar gegliedert und in ihrer Logik konsistent.
Positiv hervorzuheben ist die sehr klare Beschreibung des Vorgehens bei Terminüberschreitung und
Übertragung. Im Kapitel Problembeschreibung werden die Begriffe Terminüberschreitung und
Übertragung klar definiert, leider ist die Trennschärfe der beiden Begriffe im Verlauf der
Leitlinie nicht immer durchgängig gegeben. In der Beschreibung der Zielgruppe der Anwender/innen
sind Hebammen, die unter anderem in der Schwangerschaftsvorsorge und der Geburtsbegleitung tätig
sind, nicht erwähnt.
Darstellung des Forschungsstandes
In der Darstellung des Forschungsstandes werden Studien zu Häufigkeiten, möglichen Ursachen
der Terminüberschreitung/Übertragung und zu möglichen Vorgehensweisen benannt. Wenngleich
ein Methodenreport zur Verfügung gestellt wurde, bleibt unklar, welche Kriterien bei der
Literaturauswahl zugrunde gelegt wurden. Eine systematische Literaturrecherche mit
dokumentiertem und somit replizierbarem Vorgehen würde die Leitlinie bereichern.
Beispielsweise fand in der vorliegenden Version der S1 Leitlinie „Vorgehen bei
Terminüberschreitung und Übertragung“ der Review von Wennerholm et al. (2009) erneut keine
Beachtung. Die Gründe hierfür lassen sich auf Grund der fehlenden Dokumentation nicht
nachvollziehen.
An einigen Stellen der Leitlinie werden Sachverhalte als gut belegt dargestellt, ohne dass
jedoch eine Quelle genannt wird. Dies ist beispielsweise bei der „Dauer einer normalen
Schwangerschaft“ (S. 4), bei der „Pathogenese der Auslösung des Geburtsvorganges“ (S. 8),
bei „verminderte Fruchtwassermenge und ihre Bedeutung für die Plazentainsuffizienz“ (S. 9)
und bei der Genauigkeit der Terminbestimmung durch Ultraschall (S. 31) der Fall. Darüber
hinaus würde eine Trennung von Ergebnisdarstellung und Empfehlung die Lesbarkeit der
Leitlinie verbessern (z. B. S. 15).
Validität und Übertragbarkeit der Studienergebnisse
Weder die Validität der Studienergebnisse noch die Übertragbarkeit der Studienergebnisse auf
die aktuelle Versorgungsituation in Deutschland wird diskutiert. So ist beispielsweise
eine Studie aus einem anderen zeitlichen Kontext nur bedingt auf die heutige
Versorgungssituation übertragbar, vor allem, da sich die Genauigkeit der Terminbestimmung
mittels Ultraschall, die intrauterine Diagnosestellung und der Gesundheitszustand der
Schwangeren in den letzten Jahren entscheidend verändert haben. Diese Parameter sind für
die Diagnose und die möglichen Folgen der Terminüberschreitung/Übertragung zentral.
Ebenso muss die Übertragbarkeit aus einem anderen kulturellen oder geografischen Kontext
begründet werden. Es ist unklar, ob beispielsweise die amerikanische Schwangerenvorsorge
und Geburtshilfe sowie die dort vorliegenden Risikofaktoren für einen IUFT mit der
Situation in Deutschland gleichgesetzt werden können. Diese Diskussion findet nicht statt,
obwohl aufbauend auf diesen Studien Empfehlungen für Deutschland ausgesprochen werden.
Wünschenswert wäre dies bei den Studien von Yudkin (1987), Hilder (1998), Neilson (1998),
Reddy (2006), Gülmezoglu (2012) und Martin et al. (2007) gewesen.
Darstellung der Literatur und Zitation
Ein präziserer Umgang mit der Darstellung der ausgewählten Literatur und der Interpretation
von Grafiken wäre wünschenswert. So finden sich vereinzelt fehlende Übereinstimmungen
zwischen Text und der dazugehörigen grafischen Darstellung. So wird im Text als Ergebnis
der Studie von Reddy et al. (2006) „[…] eine deutliche Erhöhung des fetalen Risikos für
einen IUFT zwischen 37+0 und 41+6 SSW für alle Altersgruppen […]“ thematisiert. Der
dazugehörigen Grafik ist jedoch eine geringere Rate an IUFT in der 41+0 – 41+6 SSW im
Vergleich zur 40+0 – 40+6 SSW zu entnehmen.
An mehreren Stellen der Leitlinie wird betont, dass mit zunehmendem Schwangerschaftsalter die
Rate an operativen Geburten steigt. Die Grafik auf Seite 28 der Leitlinie zeigt jedoch,
dass die Rate der Sectiones am 280. Schwangerschaftstag deutlich höher liegt als am 281.,
282., 283., 284. und auch 285. Tag.
Auf einen sorgfältigen Umgang mit Zitationen sollte geachtet werden. Die Zitation der Arbeit
von Weiss und Kollegen (2014) suggeriert eine Erhebung in ganz Deutschland. Der richtige
Titel der Veröffentlichung lautet jedoch „Fetal mortality at and beyond term in singleton
pregnancies in Baden-Wuerttemberg/Germany 2004–2009“.
Umgang mit Kausalität und Korrelation
Ein wissenschaftlich korrekter Umgang mit den Konstrukten Korrelation und Kausalität wird
erwartet. Es wurden in erster Linie Assoziationen, zum Teil auch physiologisch bzw.
pathophysiologisch plausible Vorgänge gezeigt. Die Studiendesigns waren größtenteils
retrospektiv und nicht adjustiert für Risikofaktoren. Insgesamt war kein Design dazu
geeignet Kausalität nachzuweisen. Demnach ist nicht erwiesen, dass die Überschreitung des
errechneten Termins ursächlich zu einer erhöhten kindlichen und mütterlichen Morbidität
bzw. Mortalität führt.
Auffällig erscheint das Bestreben, die Rate an operativen Geburten und Sectiones in das
Risikoprofil einer Terminüberschreitung/Übertragung mit aufzunehmen und somit einen
kausalen Zusammenhang zwischen einer Terminüberschreitung/Übertragung und einer erhöhten
Sectiorate her zu stellen. Da die Rate der Interventionen zu einem hohen Anteil vom
Erfahrungswert des Behandelnden abhängt, dessen Vorgehen zudem auch äußeren Einflüssen
unterliegt, ist das scheinbare Herleiten von kausalen Zusammenhängen bzw. das Suggerieren
selbiger sehr fragwürdig. Die Berücksichtigung des „physician factor“ (DeMott and Sandmire
1990, 1992; Sandmire and DeMott 1994, 1996), darf bei der Interpretation von
Studienergebnissen durchaus erwartet werden. Auch Outcome-Parameter wie höhergradige
Dammrisse, auffällige Nabelschnur pH-Werte oder ein protrahierter Geburtsverlauf sind
nicht zwingend ursächlich durch die Terminüberschreitung bedingt, sondern können
gleichwohl das Ergebnis von Interventionen sein.
Fehlende Adjustierung
Aus der Darstellung des Forschungsstandes wird sehr gut ersichtlich, dass die
Terminüberschreitung/Übertragung als multifaktoriell bedingtes Geschehen zu bewerten ist.
In der Leitlinie werden dabei Risikofaktoren benannt, die nicht nur in Zusammenhang mit
einem höheren Risiko der Terminüberschreitung/Übertragung zu sehen sind, sondern die auch,
wie aus anderen Veröffentlichungen bekannt, in einem von der Schwangerschaftswoche
unabhängigen statistischen Zusammenhang mit Tot- und Fehlgeburten stehen (Gardosi et al.
2013, Flenady et al. 2011, Frøen et al. 2001, Reddy et al. 2006). Vor diesem Hintergrund
verwundert es, dass die fehlende Adjustierung von Risikofaktoren wie mütterliches Alter,
Zigarettenkonsum, niedriger Sozialstatus und Übergewicht nicht kritisch erwähnt und
reflektiert werden.
Absolute und relative Risiken
Zum besseren Verständnis wäre eine Angabe von absoluten Risiken und nicht von relativen
Risiken wünschenswert. Beispielsweise wird die höhere Rate Neugeborener über 4000 g nach
42+0 SSW mit 20–25 % angegeben. Bei einer relativen Angabe bleibt die Anzahl der
betroffenen Individuen unklar (Gigerenzer et. al. 2007). Die Erkennung einer Makrosomie
(S. 31) wird mit einer Sensitivität von 80 % angegeben. Wünschenswert wäre bei der Angabe
einer Sensitivität auch die Angabe der Spezifität bzw. der Falsch-Positiv-Rate. Darüber
hinaus fehlen auch hier Quellenangaben. Bei Pilalis et al. (2012) beträgt die
Erkennungsrate von „large for gestational age“ Feten bei einer Spezifität von 75 %
immerhin 72,5 %, während sie bei einer Spezifität von 95 % nur 34,3 % ausmacht (LGA hier
definiert als Gewicht über der 95ten Perzentile).
Umgang mit statistischen Größen
Bei den „Empfehlungen zur Diagnostik“ wird die Genauigkeit der Feststellung des
Gestationsalters mittels Ultraschall anhand der Scheitel-Steiß-Länge im 1. Trimenon mit
einem 90 % Vertrauensbereich auf ± 3 Tage angegeben. Eine Quellenangabe, die die
derzeitige Routineversorgungssituation widerspiegelt, wäre hierzu wünschenswert. Nach der
Literaturübersicht der Leitlinie „Determination of Gestational Age by Ultrasound“ der
Society of Obstetricians and Gynaecologists of Canada scheint die Genauigkeit des
Intervalls eher überschätzt zu werden (Butt und Lim 2014). Aktuelle Studien lassen bei
einem 95 % Vertrauensbereich maximal auf ein ± 5 Tage genaues Ergebnis bei Messung im
ersten Trimenon schließen (Doubilet, 2013). Auf dieser Grundlage ist eine Empfehlung
irritierend, die Abstufungen von jeweils 3 Tagen enthält (41+0, 41+3, 41+6), wenngleich
die Genauigkeit der Terminbestimmung mittels Ultraschall mit einem 90 % Vertrauensbereich
maximal auf 3 Tage genau sein kann.
Inhalt
Ausgewählte Literatur
Trotz der ausführlich dargestellten Kritik der DGHWi (Stellungnahme zur Leitlinie von 2010)
am Review von Gülmezoglu (2006), Reprint (2009), Reprint (2012) wurden die Empfehlungen
zur Einleitung für den Zeitraum zwischen 41+0 bis 41+6 SSW erneut im Wesentlichen auf das
Review von 2012 aufgebaut (S. 35). Auf den ersten Blick erscheint das Ergebnis der
Metaanalyse eindeutig: In der Gruppe der Schwangeren mit Einleitungen verstarb lediglich
ein Kind, in der Gruppe der Schwangeren mit abwartendem Vorgehen verstarben hingegen 14
Kinder.
Auf den zweiten Blick fallen jedoch die zahlreichen methodischen Schwächen der einbezogenen
Studien sowie der zum Teil erheblich unterschiedliche geografische oder kulturelle sowie
zeitliche Kontext auf. Vier der sechs Studien sind älter als zwanzig Jahre, sodass eine
Übertragung auf den heutigen Kontext fraglich ist, beachtet man beispielsweise die
Genauigkeit der Terminbestimmung, die Schwangerenvorsorge oder die Einleitungsmethoden.
Ein kritischer Umgang mit der vorhandenen Literatur hätte diese Leitlinie sicher
bereichert. Wünschenswert wäre eine Berücksichtigung der unterschiedlichen Definitionen
einer Terminüberschreitung (in einer Spanne von 287 bis 294 Tagen), die als Basis der
einzelnen Studien dienten (vergl. Wennerholm et al. 2009). Auch ist eine Totgeburt
gemessen an der Stichprobengröße der einzelnen Studien ein zu seltenes Ereignis, um
Schlüsse für eine adäquate Betreuung jenseits der 41+0 SSW zu ziehen (Wennerholm et al.
2009). Weitere Limitationen der Studien liegen im unterschiedlichen Versorgungskontext
(Tab.
[
1
]).
Tab. 1
Todesfälle und die Übertragung auf Deutschland limitierende Faktoren der
Studien in der Metaanalyse Gülmezoglu (2012).
ErstautorIn der Studie
|
Jahr der Veröffentlichung
|
N =
Einleitung/Abwartend
|
Perinatale Todesfälle inkl. Totgeburten
Einleitung/Abwartend
|
Totgeburten
Einleitung/ Abwartend
|
Intervention und Kontrollgruppe(n) (limitiert die Übertragung auf die
Routineversorgung in Deutschland)
|
Versorgungskontext (limitiert die Übertragung auf die
Routineversorgung in Deutschland)
|
Untersuchungszeitraum hinsichtlich der SSW – soweit angegeben
|
Bergsjö
|
1989
|
94/94
|
1/2
|
0/0
|
Einleitung (Eipollösung, Amniotomie, Oxytocin) gegenüber Abwarten mit
engen Kontrollen
|
China
|
ab 42+0 SSW
|
Hannah
|
1992
|
1701/ 1706
|
0/2
|
0/2
|
Einleitung mit intrazervikalem Prostaglandin E2 gegenüber Abwarten
mit Kickchart und drei Mal CTG und FW Messung
|
Kanada
|
41+0 bis 44+0 SSW
|
Heimstad
|
2007
|
254/ 254
|
0/1
|
0/0
|
Einleitung gegenüber Untersuchung alle drei Tage
|
Norwegen
|
ab 41+0 SSW
|
Henry
|
1969
|
55/57
|
0/2
|
0/1
|
Einleitung (Amniotomie, Oxytocin) gegenüber Amnioskopie
|
UK
|
ab 41+0 SSW
|
Herabutya
|
1992
|
57/51
|
0/1
|
0/0
|
Einleitung mit Prostaglandin Gel gegenüber Überwachung
|
Thailand
|
Ab 42+0 SSW
|
Sahraoui
|
2005
|
75/75
|
0/1
|
0/1
|
Einleitung mit Prostaglandin-Gel gegenüber fragliche Überwachung
|
Tunesien
|
41+0 – 41+6 SWS
|
Eine aktuelle Studie auf Grundlage der bundesdeutschen Perinataldaten (2004–2013) zeigt die
niedrigste fetale Mortalität zwischen 37 + 0 SSW und 39 + 6 SSW mit 0,2 Totgeburten je
1000 fortbestehenden Schwangerschaften. „Zwischen der 41 + 0 und 41 + 6 SSW liegt die
fetale Mortalität bei 0,6 und in der folgenden Woche dann bei 2,3. Ab der 42 + 6 SSW
ergibt sich eine Mortalitätsrate von 6,3/1000“ (Schwarz et al. 2015a). Damit steigt die
fetale Mortalität zwischen der 41 + 0 bis 41 + 6 SSW im Vergleich zum Zeitraum zwischen
der 37 + 0 und der 39 + 6 SSW zwar an, ist jedoch bis zu 41 + 6 SSW insgesamt sehr niedrig
(Schwarz et al. 2015a).
Zwei aktuelle populationsbasierte Studien mit retrospektivem Design, eine aus Kanada und eine
aus Deutschland, konnten keine Hinweise dafür erbringen, dass Unterschiede in den
Einleitungsraten und Einleitungszeitpunkten die fetale Mortalität senken (Caughey 2015;
Schwarz et al. 2015b). Es lässt sich festhalten, dass die derzeitige Evidenz keinen
eindeutigen Unterschied in der fetalen und maternalen Mortalität zwischen den
Betreuungsarten abwartendes Vorgehen und Einleitung zeigt. Auch ist nicht erwiesen, dass
eine frühere Beendigung der Schwangerschaft durch Einleitung oder Sectio caesarea zu einem
besseren Outcome unter den derzeitigen Versorgungsbedingungen führt. Somit gibt es keine
verlässliche wissenschaftliche Grundlage zur Implementierung oder Beibehaltung eines
spezifischen Behandlungsmodells.
Überwachung mittels CTG
Der Wille, die diagnostischen und therapeutischen Interventionen bei Schwangeren ohne
Risikoerhöhung zu vermeiden, wird sehr begrüßt. Unter dieser Vorgabe irritiert jedoch die
Empfehlung, bei allen Schwangeren ab 40+0 Schwangerschaftswochen eine Überwachung mittels
CTG zu befürworten, zumal dies der bestehenden Leitlinie zum CTG in der Schwangerschaft
und während der Geburt widerspricht (Leitlinie CTG 2013). Die herangezogene
wissenschaftliche Grundlage von Weiss (2014) erscheint angreifbar. Bei Weiss (2014) wird
festgestellt, dass in Baden-Württemberg weniger IUFTs zu verzeichnen sind als in den USA.
Dies wird u. a. darauf zurückgeführt, dass in Deutschland bereits ab 40 + 0 SSW alle zwei
Tage ein CTG durchgeführt wird. Dabei erscheinen die beiden Stichproben (DE, USA)
hinsichtlich der kulturellen Unterschiede und der Unterschiede im medizinischen Setting
wenig vergleichbar. Zudem fehlt in der kalifornischen Vergleichsgruppe ein früher
Ultraschall, der eine genauere Terminbestimmung zulässt. Ebenfalls fehlt eine
Differenzierung der kalifornischen Vergleichsgruppe nach Bevölkerungsgruppe und
Sozialstatus (ein Einflussfaktor des IUFTs). Das Argument „good clinical practice“, das
sowohl den Aussagen der bestehenden Leitlinie (Leitlinie CTG 2013) als auch dem Grundsatz,
unnötige Interventionen zu unterlassen, widerspricht, erscheint daher nicht
ausreichend.
Informationen zur Einleitung und zu Methoden der Einleitung
Generell sollten auch die Risiken einer Einleitung oder einer Sectio erwähnt werden. Durch
Geburtseinleitung bedingte Probleme werden zum Teil unter 3.1 „Allgemeine Grundsätze“ (S.
29) erwähnt. Sie sind jedoch nicht vollständig und nicht mit Quellenangaben versehen. So
fehlen gänzlich Nebenwirkungen, wie zum Beispiel uterine Hyperstimulation, vermehrte
Schmerzen, das Scheitern der Einleitung und eine uterine Ruptur bei vaginalem
Prostaglandin E2 (NICE 2008); die Möglichkeit einer uterinen Hyperstimulation mit fetaler
pathologischer Herzfrequenzveränderung, vermehrten Schmerzen und vermehrtem Mekoniumabgang
bei oraler Verabreichung von Misoprostol (Alfirevic et al. 2014); oder eine
Fruchtwasserembolie (Knight et al. 2010). Werden diese „adverse effects“ jedoch nicht
erwähnt, kann dies zu der Annahme führen, dass diese Optionen kein Risiko bergen. Ebenso
fehlen Angaben zur „number needed to treat“.
Alternative Verfahren zur Einleitung wie Stimulation der Brust, Eipollösung, Rizinusöl,
Nelkenöl oder Akupunktur (Kavanagh et al. 2001, 2005; Kelly et al. 2001) finden in der
Leitlinie keine Erwähnung.
Die Wahrscheinlichkeit, dass nach Ablauf der 41 + 0 SSW der Geburtsbeginn spontan innerhalb
der nächsten drei Tage einsetzt, liegt bei 60 %, dass er innerhalb der folgenden sieben
Tage einsetzt, bei 90 %. Bei Mehrgebärenden liegen die Prozentzahlen höher (Gardosi et al.
1997).
Auch diese Informationen wären wichtig für schwangere Frauen, die vor der Entscheidung
Einleiten oder Abwarten stehen. Wünschenswert wäre eine Schilderung in einfacher und
verständlicher Sprache, um die Beratung und Entscheidungsfindung zu unterstützen.
Nutzerinnenperspektive
Wir begrüßen die „Allgemeinen Grundsätze“ (3.1) sehr. Auch wird gleich zu Beginn der
Leitlinie gefordert, dass die Beratung der Schwangeren nach dem Konzept Informed Choice
erfolgen muss. Die vorliegende Leitlinie spiegelt im Wesentlichen das
Entscheidungsfindungsmodell des Informed Consent wider. Jedoch wird in den weiteren
Ausführungen der Leitlinie diese Forderung nicht konsequent durchgehalten. Das Informed
Choice Konzept impliziert unter anderem die Benennung der Durchführung sowie der Vor- und
Nachteile aller Handlungsoptionen.
Der DGHWi ist das Recht der Schwangeren auf umfassende Information und ihre eigene
Entscheidung über die Art und den Umfang der diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen
zentral. In unseren Augen ist die Situation, in der sich eine Schwangere bei der
Überlegung zum medizinischen Umgang mit einer Terminüberschreitung/Übertragung befindet,
prädisponiert für Informed Choice bzw. Shared Decision Making (SDM). Es besteht kein
zeitlicher Handlungsdruck und es bestehen mehr als nur eine gerechtfertigte alternative
Handlungsoption zum weiteren Umgang mit der Terminüberschreitung/Über-tragung (Elwyn et
al. 2012). Elwyn et al. (2010) definieren Shared Decision Making als „an approach where
clinicians and patients share the best available evidence when faced with the task of
making decisions, and where patients are supported to consider options, to achieve
informed preferences” (siehe Abb.
[
1
]).
Abb. 1 Prozess des Shared Decision Making. (© Aus Elwyn et al. 2012, S. 1365)
Für eine nicht vorinformierte Schwangere ist es unmöglich zu entscheiden, welche Präferenzen
sie hat und welche Entscheidung sie treffen möchte. SDM ist daher als ein Prozess
anzusehen, bei dem die verschiedenen Optionen dargestellt und erläutert werden und die
Schwangere schließlich bei ihrer Entscheidungsfindung unterstützt wird (Elwyn et al. 2012;
Berger 2014). Aufbauend auf den gegebenen Informationen können sie über ihre Präferenzen
beratschlagen und ihre Werte und Einstellungen reflektieren. Sie sollen so in das Gespräch
mit einfließen, dass die Schwangere zu einer Entscheidung auf Grundlage sowohl der Evidenz
als auch ihrer persönlichen Präferenzen gelangen kann (Elwyn et al. 2012). Entsprechend
der international anerkannten Leitlinie „Induction of labour“ des National Institute for
Health and Clinical Excellence (NICE) darf bei dem Konzept des „Informed Choice“ die
evidenzbasierte Darstellung der Vor- und Nachteile unterschiedlicher Vorgehensweisen bei
Terminüberschreitung/ Übertragung erwartet werden. Die vorliegende Leitlinie konzentriert
sich jedoch im Wesentlichen auf die Alternativen abwartende Haltung und Einleitung, ohne
die unterschiedlichen Verfahren der Wehenstimulation näher kritisch zu beleuchten (Edwards
et al. 2013).
Das Wesen der Beratung auf der Grundlagen des SDM ist eine Kommunikation, die die
verschiedenen Möglichkeiten mit ihren evidenzbasierten Risiken und ihrem Nutzen darstellt,
sodass sie von der Nutzerin verstanden werden kann (Berger 2014; Edwards et al. 2013;
Elwyn et al. 2010). Dazu gehört auch, Unsicherheiten in der Evidenz zu erklären (Berger
2014) und herauszufinden, was die Schwangere bereits weiß und ob dies im medizinischen
Sinne korrekt ist (Elwyn et al. 2012).
Sprachgebrauch
Der Sprachgebrauch im Abschnitt 3 „Empfehlungen“ muss kritisch reflektiert werden. So wirken
die Satzteile „(…) so kann unter Berücksichtigung der unter 3.1 bis 3.3 aufgeführten
Empfehlungen bis 40+6 zugewartet werden“ und „Für den Fall, dass sich die Schwangere für
ein Abwarten über den errechneten Termin hinaus entscheidet (…)“ verunsichernd. Der Satz
„Unabhängig davon ist eine Schwangerschaftsbeendigung dann indiziert, wenn aktuelle
Ergebnisse der Überwachung von Mutter und Kind eine Gefährdung anzeigen“ (S. 34) wurde
unnötigerweise in fetter Schrift abgedruckt, da er ein selbstverständliches Vorgehens
beschreibt. Diese Hervorhebung signalisiert eine Gefährdung, die nicht zwingend
besteht.
Die Abstufungen „anbieten“, „empfehlen“ und „indizieren“ sollten erklärt werden, da sie bei
den Leser/innen zu Verwirrung führen können. Eine Versorgungsoption, die eine medizinische
Fachkraft „anbietet“, sollte auch eine sein, die zu empfehlen ist. Ebenso wäre ein Satz
begrüßenswert, der das Recht der Frau auf eine Informierte Entscheidungsfindung (Informed
Choice) unterstreicht — entsprechend der NICE Guidelines (NICE 2008, Abschnitt: 1.2.1.3):
„If a woman chooses not to have induction of labour, her decision should be respected.
Healthcare professionals should discuss the woman‘s care with her from then on“
Nichtwissen
Auch fehlt die Thematisierung der Schwierigkeit, die tatsächliche Dauer einer menschlichen
Schwangerschaft festzustellen. Laut einer Studie von Smith mit amerikanischen Schwangeren
(2001), dauert eine Schwangerschaft im Mittel 283 Tage. Differenziert man nach der
Parität, dauert sie im Mittel für Erstgebärende 283 und für Mehrgebärende im Mittel 284
Tage. Nach der Definition der Leitlinie kann eine Frau also bereits in die Kategorie
Terminüberschreitung fallen, obwohl die mittlere Schwangerschaftsdauer nach Smith noch
nicht erreicht ist. In diesem Zusammenhang sollte auch auf die Schwierigkeit hingewiesen
werden, den genauen Zeitpunkt der Befruchtung und der Implantation und somit auch das
Alter der Schwangerschaft zu bestimmen. Wilcox, Dunson und Baird (2000) dokumentierten in
ihrer Stichprobe ein weit größeres Zeitfenster der weiblichen Fruchtbarkeit, das zwischen
dem 6. und 21. Tag des Menstruationszyklus lag. Auch die Berechnung des
Schwangerschaftsalters mittels Ultraschall ist in der Genauigkeit begrenzt (Vergleiche
Abschnitt: Umgang mit statistischen Größen).
Wünschenswert wäre ein Kapitel, das ähnlich wie in den NICE-Guidelines akzentuiert darstellt,
was wir nicht wissen. So ist beispielsweise die eigentliche Todesursache der Kinder in der
Regel nicht bekannt. Deshalb ist auch unklar, ob eine Terminüberschreitung/Übertragung
dafür verantwortlich gemacht werden kann. Ebenfalls sind die Auswirkungen des derzeitigen
Vorgehens bei Terminüberschreitung mit Einleitungen auf die perinatale Mortalität, die
Effektivität der Einleitungsdauer, die kurz- mittel- und langfristigen Nebenwirkungen der
Einleitungsmethoden für Mutter und Kind, die Genauigkeit des Ultraschalls zur
Terminbestimmung in der Routineversorgung, die Rolle der Diagnostik per CTG bei der
Terminüberschreitung/Übertragung und einige weitere Themen unklar. Auch ist die
Genauigkeit der Terminbestimmung im individuellen Fall oft unklar, sodass die darauf
aufbauenden Empfehlungen im individuellen Fall fragwürdig sein können (Vergl. Butt und Lim
2014; Doubilet, 2013). Die Darstellung des Nicht-Wissens ist insbesondere wichtig, um den
Anwender/innen zu vermitteln, dass die getroffenen Entscheidungen mit großer Unsicherheit
getroffen wurden und um Wissenschaftler/innen Ideen und Begründungen für
Forschungsvorhaben zu liefern.