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DOI: 10.1055/s-0042-122552
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Publication History
Publication Date:
06 April 2017 (online)
- Zusammenfassung
- Was ist Kinästhetik?
- Unterschiedliche Anforderungen
- Das Aktivierungsritual
- Kinästhetik als kreativer Helfer
- Verwendete Literatur
Zusammenfassung
Kontakt- und Bewegungsanbahnung Kinästhetik kann Patienten in ihrer Bewegungswahrnehmung unterstützen und somit in ihrer Bewegung fördern, was auch den Arbeitsalltag von Pflegenden erleichtern kann. Im ersten Teil unserer neuen Serie über Kinästhetik steht das Aktivierungsritual zur Bewegungsanbahnung im Mittelpunkt.
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Wenn wir in Kinästhetikkursen fragen, welche Vorerfahrungen oder Kenntnisse über die Methode bei den Teilnehmern bestehen, werden als Antwort häufig Begriffe wie „rückenschonende Arbeit“ oder „Handgriffe bei Transfers“ genannt. Tatsächlich sind Pflegende in Kinästhetikkursen häufig auf der Suche nach Möglichkeiten, sich die oft schwere und anstrengende Arbeit mit Patienten zu erleichtern – und sollten diese im besten Fall auch finden. Darin das primäre Ziel von Kinästhetik zu sehen oder es gar als solches an Pflegende zu verkaufen, wäre jedoch zu kurz gedacht und würde den vielfältigen Möglichkeiten der Methode nicht Rechnung tragen. Wir möchten in unserer Arbeit dazu beitragen, Pflegenden ein Verständnis von Bewegung zu vermitteln, das nicht nur darauf abzielt, eigene Gesundheit zu erhalten. Vielmehr soll es vorrangig auch um die Frage gehen, wie Patienten (ob Kinder oder Erwachsene) in ihrer Bewegung unterstützt und gefördert werden können.
Was ist Kinästhetik?
Kinästhetik als methodisches Konzept wurde Mitte der 1970er-Jahre von den US-Amerikanern Frank Hatch und Lenny Maietta entwickelt, indem sie ihre Erkenntnisse aus der Verhaltenskybernetik, der humanistischen Psychologie, der Säuglingsforschung sowie unterschiedlicher bewegungs- und körpertherapeutischer Ansätze miteinander verknüpften. Kinästhetik wird als die Lehre von der Bewegungswahrnehmung, genauer: der Bewegung und der wiederum aus der Bewegung entstehenden (Selbst-)Wahrnehmung beschrieben und fand seit Mitte der 1980er-Jahre Einzug in verschiedene Bereiche der Gesundheitsberufe.
Eine Grundannahme von Kinästhetik ist, dass der Mensch Gesundheit aus seiner Fähigkeit entwickelt, sich zu bewegen und seine Bewegungsfähigkeiten basierend auf Erfahrungen stetig zu verfeinern und anzupassen (Social Tracking). Als ein vorrangiges Ziel möchte Kinästhetik helfen, diese sensomotorischen Fähigkeiten stetig zu verbessern, die die Grundlage unserer (Selbst-)Wahrnehmung, unserer Fähigkeit zur Interaktion sowie unserer Kognition und Emotion bilden und somit den Prozess lebenslangen Lernens aufrechterhalten.
Ausgehend von Annahmen der Verhaltenskybernetik über Social Tracking als Prinzip des Führens und Folgens in sozialen Systemen und der Körperpädagogik, dass sensomotorische Fähigkeiten im Bewegungs- und Handlungsdialog gezielt unterstützt und entwickelt werden können, möchte Kinästhetik die Interaktion zwischen Pflegekraft und Patient ins Gleichgewicht bringen.
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Unterschiedliche Anforderungen
Jeder Mensch macht bereits vorgeburtliche Bewegungserfahrungen im Mutterleib, die im Fruchtwasser als Bewegungsumgebung leichtfallen. Nach der Geburt muss das neugeborene Kind seine Bewegung ohne dieses tragende Medium allein im Schwerkraftfeld organisieren, was ungleich schwerer fällt, da es mehr Anstrengung erfordert. Daher brauchen Frühgeborene, Neugeborene und Säuglinge die Unterstützung von Erwachsenen. Um genau diese Form bewegungsfördernden Handlings leisten zu können, sollten Pflegende im Infant Handling geschult sein. Die Herausforderung in der Arbeit mit diesen kleinsten Patienten liegt also nicht in deren bloßem Eigengewicht. Bewegungsmuster anzubieten, die dem Verlauf der physiologischen Bewegungsentwicklung entsprechen und diese unterstützen, sollte hier im Vordergrund stehen. Diese Bewegungsmuster sind beim Kind bis zum 2. Lebensjahr andere als bei älteren Kindern oder Erwachsenen.
Bei Letzteren ist die Bewegungsinteraktion zwischen Patienten und Pflegenden oft geprägt von einseitiger Überlastung. Einerseits zulasten der Pflegenden, die in ihrem Bestreben zu helfen mehr Last auf sich nehmen als nötig, indem sie heben und tragen. Andererseits zulasten des Patienten, der dadurch behindert wird, selbst adäquate Bewegungsmuster (wieder) zu erlernen und seine Körpergewichte selbst zu organisieren. Erfolgt der Kontakt in unterstützender und förderlicher Weise, kann der Patient sich in seiner Umgebung als selbstwirksam erleben. Körperliche Funktionen werden aufrechterhalten (beispielsweise Atmung, Verdauung, Herz-/Kreislauffunktion) und über das regulatorische Moment von Bewegung letztlich die Teilnahme- und Teilhabefähigkeit erhöht.
Die Reduzierung der körperlichen Belastung kann die Beziehung von Pflegekraft und Patient erheblich unterstützen. Weiß die Pflegekraft um die zugrundeliegenden Bewegungsmuster und hat sich die Fähigkeit zur Ablauforganisation als methodische Kompetenz aneignen können, wird sie auch in „schweren Fällen“ (also unabhängig vom Gewicht, bei Patienten mit starken Bewegungseinschränkungen) handlungsfähig sein und sich als kompetent empfinden können. Im besten Fall wird sie den Begriff der „Mobilisation“ neu verstehen. Weg von der Hilfsmittelmobilität hin zur Körpermobilität, die eine tatsächliche Aktivierung des Menschen bedeutet.
Es geht also um die Suche nach Bewegungsökonomie. Pflegende können in Kinästhetikkursen lernen, sich ihrer eigenen Bewegung bewusst zu werden, ihre Anpassungsfähigkeit und damit auch ihre Interaktionsfähigkeit zu verbessern. Dabei sollen sie Körperkontakt in angemessener Weise herstellen, gezielte Bewegungsimpulse geben und sie achtsam wahrnehmen können und dabei Umgebungsfaktoren beachten, die sich auf das Interaktionsgeschehen auswirken. Durch ein kraftökonomisches Wechselspiel von Anspannung und Entspannung, Be- und Entlastung, Einbeziehen des gesamten Körpers in Bewegungsmuster, die seiner Form und seinen funktionalen Möglichkeiten entsprechen, kommt es zu einer erleichterten Bewegungskontrolle bei den Interaktionspartnern. Der Bewegungsablauf kann in ein gemeinsames Gleichgewicht kommen.
Als Arbeitsgruppe, die sich mit Kinästhetik bei Erwachsenen sowie im Infant Handling befasst, steht bei uns gemäß den Qualitätsansprüchen der Deutschen Gesellschaft für Kinästhetik und Kommunikation e. V. der Patient, ob klein oder groß, im Fokus des Geschehens. Wir möchten mit diesem und nachfolgenden Artikeln zeigen, wie Bewegungsgrundlagen, die in Kursen erlernt werden, gleichermaßen bei Erwachsenen und Kindern zum praktischen Einsatz kommen. Dabei möchten wir verdeutlichen, dass immer eine individuelle Umsetzung während der Bewegungsinteraktion erfolgt, die nicht mit dem Anwenden pauschaler Handgriffe zu vergleichen oder zu erreichen ist. Wichtiger als das Erlernen rein methodischer Handling-Kompetenzen ist also, ein grundlegendes Verständnis von Bewegung zu bekommen, das dann kreativ umgesetzt wird. Im Vordergrund steht so immer der Spaß an gemeinsamer Bewegung.
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Das Aktivierungsritual
Dieser Beitrag soll zeigen, wie eine Kontaktaufnahme im Sinne einer Bewegungsanbahnung, beispielsweise als Vorbereitung der grundpflegerischen Versorgung oder Mobilisation aus dem Bett, aussehen kann. Die Vorgehensweisen beruhen auf dem von Citron in idealtypischer Weise beschriebenen Aktivierungsritual.
Für Pflegende kann das Aktivierungsritual als Instrument der Bewegungsanalyse dienen. Durch die Bewegung einzelner Körperteile des Patienten entsteht ein brauchbarer Gesamtüberblick über dessen körperliche Struktur und Körperspannung, Eigenbewegung und Bewegungsfähigkeit. Die Bewegungen sind spiralig und entsprechen dem bekannten Muster der Kinder, sie sind somit entwicklungsfördernd. Besonderheiten der aktuellen Tagesverfassung, die die Beweglichkeit in vielfältiger Weise beeinflussen kann, werden ebenso erkannt. Äußere Umgebungsfaktoren wie Licht, Temperatur, Geräuschpegel, aber auch innere Faktoren wie Schmerz oder Unruhe können dazu führen, dass der Muskeltonus sich verändert und das Interaktionsgeschehen entsprechend angepasst werden muss.
Für den Patienten ist das Ritual eine Einstimmung auf anstehende Prozesse. Die wenigsten Menschen werden nach längerer Ruhephase (z. B. dem Nachtschlaf) zu sofortiger körperlicher Höchstleistung fähig sein. Vielmehr braucht es eine gewisse Zeit des Wachwerdens, Sich-darauf-Einstellens und der Selbstaktivierung bis beispielsweise das Aufstehen aus dem Bett erfolgt. Nicht selten wird dieser Phase der Aktivierung im Patientenkontakt jedoch nicht die notwendige Zeit eingeräumt. So kann es passieren, dass der Erstkontakt zwischen Patient und Pflegekraft in Aus-dem-Bett-gehoben-Werden, dem Wegziehen der Decke zur Inkontinenzversorgung oder gar in invasiven Maßnahmen wie Absaugvorgängen besteht.
Eine sorgsame und feine Anbahnung vor größeren Maßnahmen kann dazu beitragen, dass der Tonus reguliert und damit die Selbstwahrnehmung des Patienten verbessert wird. Dies trägt zu einem harmonischeren Ablauf der geplanten Maßnahmen bei und reduziert Stressreaktionen beiderseits. Letztlich kann regelmäßige Wiederholung (als sich wiederholendes Angebot) sogar zu sensomotorischem (Wieder-)Erlernen einzelner Muster führen und die Bewegungsfähigkeit somit dauerhaft verbessern.
In den [Abb. 1–8] und [9–14] sind Bewegungsanbahnungen zu sehen, die eine individuelle Umsetzung des Aktivierungsrituals darstellen. Dieses kann bei Frühgeborenen, bei Säuglingen, schwerst-mehrfachbehinderten Kindern oder Jugendlichen wie auch bei Erwachsenen Anwendung finden – in der jeweils geeigneten Weise, die sich (wie häufig bei der Anwendung kinästhetischer Ideen) durch Ausprobieren und wiederholtes Anpassen mit der Zeit entwickelt und verfeinert. Wir zeigen hier beispielhaft die Möglichkeiten am Fall eines beatmeten Kleinkindes und eines Frühgeborenen.
Die [Abb. 1–8] zeigen das Aktivierungsritual, das in seiner Durchführung der idealtypischen Form nahekommt. Durch spiralige Bewegung von Körperteilen, die sich in sequenzieller Weise auf benachbarte Körperteile übertragen, erhält das Kind deutliche Spürinformationen über Form und Beschaffenheit seines Körpers. Durch Rezeptoren der Haut werden Körpergrenzen erfahrbar, die Bewegungsspielräume von Gelenken, die Beschaffenheit von Muskeln und die stützende Struktur der Knochen. Wie bei der physiologischen Bewegung kommt es zu einem ausgewogenen Wechselspiel von An- und Entspannung der Muskeln, Be- und Entlastung der Knochen sowie Beugen und Strecken der Gelenke. Dies kann zur Folge haben, dass der Muskeltonus reguliert und die Beweglichkeit verbessert wird, was wiederum der Selbstwahrnehmung zuträglich ist.
Dies ist vor allem dann von besonderer Bedeutung, wenn das Kind (z. B. aufgrund von Krankheit oder einer Behinderung) selbst nicht zu der Bewegung imstande ist, die diese Form der Selbstwahrnehmung überhaupt erst möglich macht.
Pflegende sollten bei der Durchführung vor allem auch ihre salutogenetische Sichtweise wahren. Nicht das, was nicht geht, steht im Fokus. Gerade die Rest-Bewegungsspielräume – so klein und unbedeutend sie uns auch erscheinen mögen –, die den Patienten trotz widriger Umstände (wie Zu- und Ableitungen, instabile Kreislaufzustände, starke körperliche Beeinträchtigungen etc.) noch zur Verfügung stehen, sollten dringend genutzt werden. Liegen z. B. stark ausgeprägte Kontrakturen der Beine oder ein spastischer Muskeltonus vor, was den Patienten zunächst steif und unbeweglich erscheinen lässt, sollte ein wohlwollender Blick auf das gerichtet sein, was noch möglich ist. Nur so kann die Pflegekraft den Patienten dabei unterstützen, sich als Mensch mit vielen Körperteilen zu erleben. Probieren Sie es aus, lassen Sie sich nicht entmutigen und seien Sie überrascht, welche Möglichkeiten und Potenziale sich entfalten!
Einzelne Körperteile gegen die Schwerkraft zu bewegen, ist eine koordinative Fähigkeit, die wir erst im Verlauf der ersten Lebensjahre erlernen. Wie eingangs erwähnt, bewegen sich Neugeborene in völlig anderer Weise. Sie bringen eine bereits hochentwickelte Bewegungsfähigkeit mit auf die Welt, die durch den Einfluss der Schwerkraft und den fehlenden Halt durch die Gebärmutter beeinflusst wird. Folglich sollte dies auch im Aktivierungsritual berücksichtigt werden ( [Abb. 9–14] ). Genau genommen kann man somit auch nicht mehr von einer körperlichen Aktivierung im engeren Sinne sprechen. Der Kontakt erfolgt vielmehr in einer haltgebenden, schützenden aber dennoch führenden und bewegungsfördernden Weise, um an die vorgeburtlichen Bewegungserfahrungen anzuknüpfen.
Die Praxisrelevanz des Aktivierungsrituals (in seinen individuellen Ausführungen) stellt sich nicht nur in seiner Funktion als Bewegungsanbahnung dar. Schaut man genauer auf die einzelnen Handlungsschritte, wird man feststellen, dass sie isoliert auch als Bestandteile von Transfers innerhalb des Bettes umsetzbar sind, wie sie bei unterschiedlichsten pflegerischen Aktivitäten brauchbar sind. Es finden sich Bewegungselemente der Drehung aus der Rückenlage in die Seitenlage, des Transfers seitwärts zur Bettkante, im Bett kopfwärts nach oben und viele mehr.
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Kinästhetik als kreativer Helfer
Die Implementierung des Aktivierungsrituals in den pflegerischen Alltag ist eine tolle Chance, die eigene Interaktionsfähigkeit tiefgreifend zu verfeinern und auch in schwierigeren Fällen handlungsfähig zu sein. Dabei soll es selbstverständlich nicht darum gehen, bisherige Gewohnheiten grundsätzlich infrage zu stellen – wohl aber, sie zu hinterfragen und zu reflektieren.
Wir möchten Kinästhetik als einen kreativen Helfer verstanden wissen, der dabei unterstützt, in dem, was wir ohnehin jeden Tag tun, Freude und Leichtigkeit zu finden. Für Freude an der Bewegung und mehr Spaß an der Pflege.
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Verwendete Literatur
- Citron I. Kinästhetik – kommunikatives Bewegungslernen. Stuttgart: Thieme; 2011
- Deutsche Gesellschaft für Kinästhetik und Kommunikation e. V., Berlin. Online unter www.kinaesthetik.de
Korrespondenzadresse
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Verwendete Literatur
- Citron I. Kinästhetik – kommunikatives Bewegungslernen. Stuttgart: Thieme; 2011
- Deutsche Gesellschaft für Kinästhetik und Kommunikation e. V., Berlin. Online unter www.kinaesthetik.de