Hebamme 2017; 30(02): 74
DOI: 10.1055/s-0042-122947
Editorial
Hippokrates Verlag in Georg Thieme Verlag KG Stuttgart

Das Neugeborene behüten

Cordula Ahrendt
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Publication Date:
01 May 2017 (online)

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Hebammen war schon immer bewusst, dass sie den Anfang des Lebens mitgestalten. Seit mehr als drei Jahrzehnten wissen wir, dass nicht nur das medizinische Outcome bei der Geburt für das weitere Leben eine Rolle spielt. Hebammen und Geburtshelfer sind aktiv beteiligt, wenn die Weichen gestellt werden für den Anfang des Lebens.

In der Betreuung der Eltern ist es eine wiederkehrende Frage: Was braucht das Neugeborene, damit es sich geborgen fühlt und die Anpassung an das extrauterine Leben bewältigt?

Das Menschenkind ist darauf angewiesen, dass es seiner Mutter nahe sein kann, den Herzschlag spürt und nicht von ihr getrennt wird, ehe es an der Brust gesaugt hat. Es kann die Körperwärme besser regulieren, wenn es durch die Mutter gewärmt wird. Das Kolostrum reguliert den Blutzuckerspiegel und stabilisiert den noch unreifen Stoffwechsel. Das Neugeborene lernt von Beginn an, dass es seiner Mutter vertrauen kann, da sie zeitnah und liebevoll auf seine Bedürfnisse reagiert und dass das unwohle Gefühl im Bauch durch die Muttermilch vergeht. Der verlässliche Trost der Bezugspersonen und das Saugen schaffen Vertrauen und Sicherheit.

Eine plötzlich neue Situation ängstigt das Kind: herausgerissen aus dem Schlaf, grelles Licht, kalte Hände, kalte Desinfektionstupfer, Schmerzen an der Ferse und allein auf dem Wickeltisch ... Häufige sich wiederholende schmerzende Situationen beeinträchtigen die Entwicklung des Kindes. Häufige Situationen, in denen das Neugeborene sich nicht verlässlich getröstet fühlt, beeinträchtigen das Urvertrauen.

Das Wissen um die Bedürfnisse des Neugeborenen ist Hebammen schon lange bekannt. Unser Herz schlägt für die Realisierung optimaler Bedingungen, jedoch sind die strukturellen Voraussetzungen in den Kliniken nicht immer förderlich, um die individuellen Bedürfnisse des Neugeborenen zu berücksichtigen. Es liegt in unserer Hand, ob es gelingt, Früh- und Neugeborene von Geburt an empathisch zu betreuen, insbesondere in schwierigen Situationen.

Im Beitrag von Frau Griebaum wird aufgezeigt, wie es durch Engagement und interdisziplinäre Zusammenarbeit gelingen kann, das Bonding auch intraoperativ umzusetzen. Bei einer zunehmenden Zahl an Sectio-Kindern ist es an der Zeit, Handlungsschemata mit bindungsunterstützenden Maßnahmen für diese Kinder selbstverständlich zu implementieren.

Gerade frühgeborene Kinder sind in den ersten Lebenstagen vielen schmerzhaften Prozeduren ausgesetzt. Auch Neugeborene erleben durch die Blutentnahmen zum Screening, zu Bilirubin- oder Blutzuckerkontrollen Schmerz. Doch jeder akute prozedurale Schmerz wirkt sich auf die Hirndurchblutung des Neugeborenen aus. Studien belegen einen direkten Zusammenhang zwischen neonatal erfahrenen Schmerzzuständen und der Reifung neuronaler Strukturen bei Frühgeborenen. Frau Prof. Cignacco Müller begründet eindrucksvoll, wie bedeutsam es ist, Kinder schon in den ersten Lebenstagen vor schmerzhaftem Erleben zu schützen und welche nicht medikamentösen Verfahren dabei einsetzbar sind.

Frau Reinhold stellt in ihrem Beitrag vor, wie Kinder diabetischer Mütter von der Gabe von präpartal ausmassiertem Kolostrum profitieren können. Die drei Autorinnen ermutigen uns zu einem Perspektivwechsel für Routinemaßnahmen an den Neugeborenen im klinischen Alltag.

Was brauchen Hebammen, Pflegekräfte und Ärzte, um Neugeborene beim Start ins Leben unterstützen zu können?

Wir brauchen in den Kliniken Strukturen, um unser Handeln nach den Bedürfnissen von Mutter und Kind ausrichten zu können.

Wir brauchen Zeit, um die Eltern in ihrer Intuition zu unterstützen und sie über die Möglichkeiten von präventiven Maßnahmen zur Gesundheitsförderung aufzuklären.

Wir brauchen Mut, um diese Dinge immer wieder einzufordern bzw. umzusetzen und das Neugeborene zu behüten.

Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Lesen der Beiträge und beim Austausch im Team.

Ihre

Cordula Ahrendt