Gesundheitswesen 2017; 79(04): 227-228
DOI: 10.1055/s-0043-105583
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

(Mehr) Gesundheit für alle – zur Jahrestagung für öffentliche Gesundheit, Hygiene und Umweltmedizin 2017 in München

Caroline Herr
,
Ute Teichert
,
Michael Schäfer
,
Wiebke Gerstenberg
,
Manfred Wildner
,
Andreas Zapf
Further Information

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Manfred Wildner
Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittesicherheit
Veterinärstraße 2
85764 Oberschleißheim

Publication History

Publication Date:
02 May 2017 (online)

 

Kongresse und Konferenzen sind Orte und Zeiten des Zusammenseins (Kongress), des Zusammentragens (Konferenz) und des Miteinanders – so jedenfalls sagen es die lateinischen Wortwurzeln. Dieses Zusammensein und Zusammentragen beschränkt sich nicht auf einen gemeinsamen Aufenthalt am selben Ort zur selben Zeit: Kongresse und Konferenzen sind v. a. Orte und Zeiten des Austauschs, des Gesprächs, gelegentlich auch des Streits der Meinungen im Ringen um Erkenntnis und Wahrheit. Dieses Ringen ist ein Wesentliches Element der Suche nach Wahrheit bzw. der jeweils bestmöglichen Annäherung an sie. Wahrheit kann auch unbequem sein – doch ist sie dem Menschen zumutbar: „Wie der Schriftsteller die anderen zur Wahrheit zu ermutigen versucht durch Darstellung, so ermutigen ihn die andren, wenn sie ihm, durch Lob und Tadel, zu verstehen geben, dass sie die Wahrheit von ihm fordern und in den Stand kommen wollen, wo ihnen die Augen aufgehen. Die Wahrheit nämlich ist dem Menschen zumutbar“. (Ingeborg Bachmann, Rede vom 17. März 1959). Wir können getrost den Schriftsteller durch Wissenschaftler/in oder Kongressteilnehmer/in ersetzen. Aus diesem Austausch kann Neues erwachsen: Neues an Erkenntnis und Impulsen genauso wie Neues an Bekanntschaft, bisweilen auch an alter und neuer Verbundenheit. Vielleicht ist für eine gelingende Zusammenkunft darüber hinaus auch eine Formel des Augustinus von Hippo hilfreich: „Im Wesentlichen Einheit, im Zweifelhaften Freiheit, in allem Liebe“. Womit sich auch schon die nächste Frage anschließt: Liebe zur Wahrheit, Liebe zur Freiheit des Denkens und der Rede, Liebe zum Menschen?


#

Man sollte dabei den Begriff der Liebe nicht überstrapazieren. Und so lautet das gesetzte Thema des Münchner Kongresses für öffentliche Gesundheit, Hygiene und Umweltmedizin vom 3.–5. Mai 2017 auch bescheidener, dabei noch immer ambitioniert „(Mehr) Gesundheit für alle“. Diese Formulierung geht zurück auf den Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO) von 1973 bis 1988, den dänischen Arzt Halfdan Mahler. Mahler hatte in seiner Arbeit im Tuberkuloseprogramm der WHO in Indien die Einsicht gewonnen, dass Gesundheit für alle ein schöner Traum bleiben würde, wenn er ausschließlich in technokratischen Begriffen definiert wird: mit Bezug zu Medikamenten, Pflegekräften, Impfstoffen, Krankenhäusern, Ärztinnen und Ärzten und apparativer Ausstattung. Was die Realisierung dieses Traums genauso benötigt, war seiner Erkenntnis nach eine strategische Reform der gesundheitlichen Versorgung in Prävention, Therapie und Rehabilitation [1]. Diese strategische Reform fordert seiner Meinung nach ausreichende Mittel für die gesundheitliche Versorgung, eine faire Allokation dieser Mittel zum Nutzen aller Mitglieder einer Gesellschaft, eine Rücksichtnahme reicher Länder auf den Wegzug ausgebildeter Ärztinnen und Ärzte aus ärmeren Ländern, ein Verständnis für die Rolle des Einzelnen, seines häuslichen und familiären Umfeldes, der schulischen und betrieblichen Lebenswelten, von Beteiligung und Befähigung für Gesundheit und Krankheit. In seinem diesbezüglichen Schlüsselartikel führt er aus, das Gesundheit für jedes Mitglied einer Gesellschaft erreichbar sein soll, dass die Bekämpfung von Gesundheitshindernissen genauso wichtig ist wie die Angebote medizinischer Versorgung im Erkrankungsfall, dass Gesundheit ein Ziel auch der wirtschaftlichen Entwicklung sein sollte und nicht nur ein Mittel zum Zweck. Er fordert Health Literacy für alle, einen kontinuierliche Weiterentwicklung sowohl in der Individualmedizin wie auch im Bereich der Öffentlichen Gesundheit/Public Health und eine Berücksichtigung gesundheitlicher Aspekte über die verschiedenen gesellschaftlichen und Wirtschaftssektoren hinweg [1].

Gesundheit existiert nicht isoliert, so Mahlers Meinung und er erhebt die Forderung nach immer wieder neuen Chancen für einen erneuerten, gesundheitsförderlichen Lebensstil und eine verbesserte Lebensqualität für alle in ihrem jeweiligen Lebensumfeld. Gesundheit für alle beeinflusste den Tenor der Erklärung der Internationalen Konferenz von Alma Ata zur primären Gesundheitsversorgung von 1978 und legte die Grundlage für die WHO-Strategie „Gesundheit für alle bis zum Jahr 2000“. Diese Strategie wurde in der europäischen Region der WHO bis heute fortgeführt und aktualisiert und ist damit auch Grundlage der aktuellen Strategie „Gesundheit 2020“ aus dem Jahr 2012. Wir, die wir nun schon in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts leben, können sehen, dass einerseits hinsichtlich der angestrebten Freiheit von Krankheit und Not im Sinne einer Gesundheit für alle seither weltweit viel erreicht wurde, andererseits durch Krieg und Krisen bereits Erreichtes wieder verloren ging und weiterhin große Herausforderungen bestehen. Diesen Herausforderungen, in globalen Kontext wie auch in den konkreten regionalen und lokalen Kontexten und Wirkzusammenhängen, gilt es sich immer wieder neu zu stellen.

Was diese Herausforderungen heute sind? Sie sind v. a. vielfältig, auch das gibt uns das holistische Gesundheitskonzept von „Gesundheit für alle“ mit auf den Weg: sie betreffen globale Herausforderungen wie neue und wiederkehrende Seuchen, z. B. Ebola, Tuberkulose und AIDS, sie betreffen die Organisation des Gesundheitswesens auf Bundes-, Länder- und kommunaler Ebene und die bestmögliche Ressourcenallokation, sie betreffen die Inklusion von Menschen mit Behinderungen wie auch den Umgang mit zugewanderten Menschen aus einer Vielzahl von Herkunftsländern, teilweise als unbegleitete Minderjährige, sie betreffen den Generationenvertrag und damit das Verhältnis von Jungen und Alten, arbeitenden und arbeitssuchenden Menschen, von Arm und Reich, von gesunden und kranken Menschen und ihren Angehörigen. Die Herausforderungen betreffen die Sicherstellung der medizinischen Versorgung im Verhältnis von (Groß)Stadt und Land, von Facharztgruppen und Allgemeinärztinnen und -ärzten, von ambulanter und stationärer Versorgung, von Pflege und anderen formalen und informellen Leistungserbringern, von Öffentlichem Gesundheitsdienst, Gesundheitsschutz und Prävention im Verhältnis zu Kuration und Rehabilitation in Medizin und Zahnmedizin, von fairer Vergütung erbrachter Leistungen auch im Vergleich der Berufsgruppen innerhalb und außerhalb des Gesundheitswesens, von regionalen und globalen Folgen von Klimawandel, Umweltbelastungen, zunehmender Mobilität und Urbanisierung, Beteiligung und Befähigung der Bürgerinnen und Bürger u. v. a. m.

Eine besondere Sorge gilt in diesem Zusammenhang dem Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) selbst bzw. dem Dienst an der öffentlichen Gesundheit, welcher auch über den ÖGD hinausreicht. Die Belange der öffentlichen Gesundheit wurden in den westlichen Bundesländern nach dem Machtmissbrauch und der Unrechtsherrschaft des Nationalsozialismus im akademischen Bereich nur mehr mit Zurückhaltung aufgegriffen – sicher auch mit in Folge der großen individualmedizinischen Erfolge und Errungenschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. So bietet sich heute mit Blick auf das ärztliche Berufsfeld im ÖGD das Bild eines medizinischen Fachgebietes, welches als einziges Fachgebiet nicht durch Lehrstühle an medizinischen Fakultäten vertreten ist und dessen benachbarte Fachdisziplinen wie die Hygiene, die Sozial- und Arbeitsmedizin ebenfalls von einem die Substanz gefährdendem Abbau an universitären Lehrstühlen betroffen sind [2] [3]. Ein Zustand, dem dringend abzuhelfen ist – und zu dem sich auch schon verschiedene hoffnungsvolle Initiativen gebildet haben. Zu nennen sind hier exemplarisch der wegweisende Beschluss der Gesundheitsminister-Konferenz vom Juni 2016, das Johann-Peter Frank Kooperationsmodells des BVÖGD [4] sowie das White Paper zur Weiterentwicklung von Public Health in Deutschland [5]. Zu wünschen ist, dass die diesbezüglichen gemeinsamen Bemühungen von ÖGD, universitärer Public Health, Leopoldina/Akademien der Wissenschaft und Robert Koch-Institut im Sinne einer wieder lebendigeren Gesundheit für alle-Strategie in den Bereichen von medizinischer Versorgung und Public Health Früchte tragen werden: Als Zusammenarbeit aller relevanten Disziplinen und Professionen.

Das Team aus dem Bayerischen Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL), dem Bundesverband der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (BVÖGD) und des Bundesverbandes der Zahnärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (BZÖG), der Gesellschaft für Hygiene, Umweltmedizin und Prävention (GHUP) und aus dem Referat für Gesundheit und Umwelt der Landeshauptstadt (RGU) freut sich, dieses Jahr in München mit Ihnen, den Fachleuten aus Wissenschaft, Praxis und Politik zusammenzukommen und Fragen, Impulse, Antwortvorschläge und Diskussionsstände gemeinsam mit Ihnen zusammenzutragen, um sie in Dialog und Foren weiter zu entwickeln. Wir danken auch dem Bundesministerium für Gesundheit für die Unterstützung eines Forschungsprojektes zur Bearbeitung der Rolle des ÖGD im Nationalsozialismus. Die Ergebnisse dieses vom BVÖGD beauftragten Projekts werden wir in München von Prof. Sabine Schleiermacher von der Charité in Berlin vorgestellt bekommen und diskutieren dürfen. So hoffen wir, dass wir in dieser Gemeinschaft die Strategie von Gesundheit für alle weiter aktualisieren, in dieser Aktualisierung weitertragen und für das 21. Jahrhundert weiter fruchtbar machen können. In diesem wohlverstandenen Sinne sind wir Dienende – daher ein Servus und ein herzliches Willkommen auf dem Kongress!


#

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Manfred Wildner
Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittesicherheit
Veterinärstraße 2
85764 Oberschleißheim