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DOI: 10.1055/s-0043-108088
§ 64 StGB sollte abgeschafft werden – Kontra
§64 of German Penalty Code Should be Abolished – ContraKorrespondenzadresse
Publication History
Publication Date:
10 May 2017 (online)
Die seit Jahren, insbesondere auch entgegen der damals formulierten Absichtserklärungen nach der 2007 vorgenommenen Novellierung, steigenden Einweisungs- und Erledigungszahlen der Unterbringung in der Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) beschäftigen forensische Praxis und Wissenschaft (z. B. [1] [2]) und empirische Kriminologie (z. B. [3] [4]). Der Ausbau der Kapazitäten bindet finanzielle Mittel, die „Abbrecher“ stellen eine relevante kriminologische Risikopopulation dar [4] [5], die Zunahme von „Langstraflern“ geht sowohl mit verstärkten baulichen Sicherheitsmaßnahmen als auch mit geringerer Lockerungsbereitschaft durch MRV-Verantwortliche und Justiz einher, was wiederum im Sinne der Gewaltspirale die Zahl der Erledigungsanträge steigen lässt und die therapeutischen Kompetenzen der Teams eher reduziert als stärkt. Dennoch kommt der auch in forensischen Kreisen immer wieder formulierte Ruf nach einer Abschaffung des § 64 StGB unseres Erachtens zu früh. Wir meinen, dass die immerhin für fast die Hälfte der in den Entziehungsanstalten Behandelten offensichtlich gesundheitlich wie kriminalprognostisch sinnvolle Maßnahme entsprechend der formulierten Vorgaben präziser indiziert und katamnestisch besser erforscht werden sollte.
Sowohl aus dem Maßregelvollzug (z. B. [6]) als auch aus der Justiz (BGH 5 StR 37/14 vom 10.04.2014 in NStZ 6/2014: 315f) werden Stimmen laut, die Höchstdauern der Behandlungen zu verlängern, obgleich auf der anderen Seite nichtforensische stationäre Rehabilitationsbehandlungen Suchtkranker, an denen sich die Gesetzgebung orientierte, mittlerweile in der Regel unter 12 Monaten Dauer liegen. Klinische Erfahrung und versorgungsepidemiologische Ergebnisse zeigen aber eindeutig, dass die im weiteren Text geschilderten klaren Forderungen des Gesetzgebers im Rahmen der Novellierung 2007 sowohl von Gutachtern als auch von erkennenden Gerichten bis hin zur obergerichtlichen Rechtsprechung ignoriert werden.
Dies betrifft schon den in den juristischen Kommentaren mehr als in den forensischen Texten ausführlich diskutierten kausalen Zusammenhang zwischen dem sicher zu bejahenden Hang, „alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen“, was deutlich über einen Missbrauch hinausgehen muss und eine Fähigkeit zur Kontrolle des Konsums ausschließt, und der daraus resultierenden Gefahr, infolge des Hanges erhebliche rechtswidrige Taten zu begehen. Eindeutig wird im Gesetzestext die Priorität der Abhängigkeitsproblematik gegenüber anderen Motivationen oder allfälligen kriminellen Neigungen formuliert. Bei Menschen mit starken dissozialen Tendenzen bis hin zur entsprechenden Persönlichkeitsstörung dienen Suchtmittel häufig dazu, intendierte Grenzüberschreitungen zu erleichtern. Nicht der Hang ist bei dieser Personengruppe für die Gefährlichkeit entscheidend, sondern die vorbestehende anders zu begründende motivationale oder psychiatrische Problematik.
Zumindest in der baden-württembergischen Praxis werden diese gerade auch von unserer Forschungsgruppe formulierten Hinweise in den letzten Jahren doch stärker wahrgenommen, was sich in einem deutlichen Rückgang der Einweisungen in die Entziehungsanstalt bei Sexualdelikten zeigt. Insbesondere Alkohol spielt bei vielen Sexualdelikten eine Rolle (siehe die entsprechende Rate in der Polizeilichen Kriminalstatistik PKS), aber nicht im Sinne eines die Grenzüberschreitung determinierenden Hanges, sondern als Katalysator, um die entsprechende Gewaltbereitschaft zu erhöhen. Ohne dies mit Zahlen belegen zu können, scheinen nach wie vor trotz entsprechender Hinweise zu viele Menschen mit Beschaffungskriminalität im höheren Ausmaß in die Entziehungsanstalt eingewiesen zu werden, obgleich häufig weniger der Hang oder gar eine Abhängigkeit vom Suchtstoff, sondern der Wunsch nach materiellen Vorteilen die Delikte wesentlich motiviert. Wir fanden in gutachterlichen Verfahren negative Haaranalysen bei Drogendealern, die auch die Gerichte davon überzeugten, dass nicht der Hang zu schädlichem Konsum die Gefährlichkeit bestimmt, sondern das Verharren in einer kriminellen Lebensweise.
Juristisch wie forensisch breiter diskutiert werden seit Langem die im § 64 StGB geforderten prognostischen Aussagen – es muss eine „hinreichend konkrete Aussicht“ bestehen, „die Person durch die Behandlung in einer Entziehungsanstalt zu heilen oder eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abzuhalten, die auf ihren Hang zurückgehen“. Dass mit dieser Forderung entsprechende Behandlungsprogramme mit einer Orientierung auf Leben und Arbeit in Freiheit verbunden sind, hat der Bundesgesetzgeber 2007 aufgegriffen und mit dem in der Praxis überwiegend umgesetzten zeitlichen Vorrang der Strafe vor der Maßregel umgesetzt. Die mit diesen Vorgaben verbundenen potenziellen, an Prozent- und nicht an Absolutwerten orientierten Strafzeitverringerungen führten dann aber in den letzten Jahren zu zahlreicheren Einweisungen von Patienten mit längeren Strafen, damit gravierenderen Delikten, was in den Kommentierungen der Gesetzesnovellierung eigentlich ausgeschlossen worden war: Als Beispiele für Fälle, in denen trotz Vorliegens der Voraussetzungen des Hanges von der Unterbringung abzusehen ist, sind im Gesetzgebungsverfahren angeführt worden: Sprachunkundigkeit, Erwartung baldiger Ausweisung, Zusammentreffen des Hangs mit kriminogenen Persönlichkeitsstörungen, durch die Erprobungen unter Lockerungsbedingungen ausgeschlossen sind …“ [7]. Würden diese Vorgaben korrekt umgesetzt, wäre die Klientel der von der § 64-Behandlung zu wenig Profitierenden und damit „Abbrecher“ um eine kriminologisch höchst problematische Gruppe reduziert, was sich gerade in den Auswertungen der forensischen Basisdokumentation in Baden-Württemberg deutlich zeigt.
Rechtliche Änderungen könnten in einer auf 6 Monate befristeten probatorischen Behandlung nach der Hauptverhandlung gesehen werden, wobei dies unseres Erachtens nur greifen würde, wenn die oben genannten Punkte deutlich stärker als bisher gutachterlich wie juristisch berücksichtigt würden. Weniger komplex und möglicherweise im Sinne der Gleichbehandlung ohnehin geboten, wäre die Änderung der Anrechnung der Haft- und Therapiezeiten: In der Summe sollten sie nicht wie aktuell bereits auf Halbstrafe berechnet werden, sondern auf zwei Drittel. Dies würde die rechnerische Attraktivität des § 64 StGB auf „Langstrafler“ reduzieren und die faktische erhebliche Ungerechtigkeit beseitigen, dass sich Patienten mit 2 Jahren Haftstrafe zum Teil genau solange im Freiheitsentzug befinden wie solche mit 5 Jahren Haft.
Therapie komplexer Persönlichkeitsprobleme und -störungen existiert nicht nur in der Entziehungsanstalt, sondern auch in Haft sowie im psychiatrischen Krankenhaus! Mit Therapie darf keine von voherein in Aussicht gestellte Verkürzung der Vollzugszeit verbunden werden, sonst schafft man eine kriminologische Risiko-Klientel. Für mehr als 50 % der nach § 64 StGB Untergebrachten ist diese Behandlung sinnvoll und Suchtmittel- wie Deliktrückfälle deutlich reduzierend.
Der § 64 StGB ist aus unserer Sicht dahingehend zu ändern, dass er stärker probatorische Elemente in den Vollzug einbaut und zeitliche Vorteile gegenüber der Haft ausgeschlossen werden.
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Literatur
- 1 Seifert D. Unterbringung im Maßregelvollzug gemäß § 64 StGB. In: Dreßing H, Habermeyer E. Hrsg. Psychiatrische Begutachtung. 6. Auflage. München: Elsevier; 2015: 389-403
- 2 Querengässer J, Ross T, Bulla J. et al. Neue Wege in der Entziehungsanstalt – Reformvorschläge für den § 64 StGB. Neue Zeitschrift für Strafrecht 2016; 36: 508-513
- 3 Heinz W. Entwicklung und Stand der freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung – Werkstattbericht auf der Grundlage der Strafrechtspflegestatistiken (Berichtsstand 2013). Konstanzer Inventar Sanktionsforschung; 2016. http://www.ki.uni-konstanz.de/kis/
- 4 Querengässer J, Ross T, Bulla J, Hoffmann K, Ross T. Therapieabbruch als Prädiktor erneuter Straftaten – Zur Legalbewährung forensischer Suchtpatienten nach § 64 StGB. Eingereicht bei Nervenarzt
- 5 Jehle JM, Albrecht HJ, Hohmann-Fricke S, Tetal C. Legalbewährung nach strafrechtlichen Sanktionen. Eine bundesweite Rückfalluntersuchung 2007 bis 2010 und 2004 bis 2010. Berlin: Bundesministerium der Justiz; 2013
- 6 Wittmann B. Zur Situation der Versorgung von § 64-Patienten in Nordrhein-Westfalen. Sucht 2007; 53: 102-110
- 7 Fischer T. Strafgesetzbuch mit Nebengesetzen. 64. Auflage. München: CH Beck; 2017
Korrespondenzadresse
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Literatur
- 1 Seifert D. Unterbringung im Maßregelvollzug gemäß § 64 StGB. In: Dreßing H, Habermeyer E. Hrsg. Psychiatrische Begutachtung. 6. Auflage. München: Elsevier; 2015: 389-403
- 2 Querengässer J, Ross T, Bulla J. et al. Neue Wege in der Entziehungsanstalt – Reformvorschläge für den § 64 StGB. Neue Zeitschrift für Strafrecht 2016; 36: 508-513
- 3 Heinz W. Entwicklung und Stand der freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung – Werkstattbericht auf der Grundlage der Strafrechtspflegestatistiken (Berichtsstand 2013). Konstanzer Inventar Sanktionsforschung; 2016. http://www.ki.uni-konstanz.de/kis/
- 4 Querengässer J, Ross T, Bulla J, Hoffmann K, Ross T. Therapieabbruch als Prädiktor erneuter Straftaten – Zur Legalbewährung forensischer Suchtpatienten nach § 64 StGB. Eingereicht bei Nervenarzt
- 5 Jehle JM, Albrecht HJ, Hohmann-Fricke S, Tetal C. Legalbewährung nach strafrechtlichen Sanktionen. Eine bundesweite Rückfalluntersuchung 2007 bis 2010 und 2004 bis 2010. Berlin: Bundesministerium der Justiz; 2013
- 6 Wittmann B. Zur Situation der Versorgung von § 64-Patienten in Nordrhein-Westfalen. Sucht 2007; 53: 102-110
- 7 Fischer T. Strafgesetzbuch mit Nebengesetzen. 64. Auflage. München: CH Beck; 2017