VPT Magazin 2024; 10(01): 22-24
DOI: 10.1055/s-0044-1782128
Therapie

Physiotherapie bei permanentem Schwindel – ein Fallbeispiel

Ann Kathrin Saul
 

Zusammenfassung

Fallbeispiel: Die 16-jährige Mia (Name von der Redaktion geändert) kommt mit einem permanenten Schwindel ohne geklärte Ursache in die Physiotherapiepraxis. Apparative Untersuchungen zur Erregbarkeit der Gleichgewichtsorgane und Lagerungstests bei der HNO-Untersuchung waren ebenso wie eine Magnetresonanztomografie (MRT) des Gehirns unauffällig.


#

Anamnese

Der Schwindel bestehe seit knapp 3 Monaten und fing mit einem akuten Drehschwindel beim Sitzen in der Schule an. Auf Nachfrage, ob der Drehschwindel aus dem Nichts gekommen sei oder nach Kopfbewegungen auftrat, sagt Mia, das Drehen sei vor allem beim Hoch- und Runterschauen zwischen Heft und Tafel aufgetreten. Die Dauer könne sie nicht eindeutig bestimmen, da eventuell eine Attacke in die nächste überging.

Mia konnte in der Zeit nicht zur Schule gehen, da der Schwindel vor allem morgens schlimmer war. Irgendwann wendete sich der Tagesverlauf, sodass sie sich morgens besser fühlte (visuelle Analogskala [VAS]: 4–5) und zum Nachmittag und Abend hin der Schwindel zunahm (VAS: 6–7). Auf Nachfrage berichtet Mia, dass sich auch die Art des Schwindels verändert habe. Nun sei es eher eine Art Schwanken mit gelegentlichem Drehen. Der Schwindel sei nun dauerhaft da, es gebe keinen beschwerdefreien Moment. Als Situationen, die den Schwindel verstärken, nennt Mia stilles Sitzen, nach Kopfbewegungen, im Kino und insgesamt visuelle Reize. Besser werde der Schwindel durch Ablenkung, im Liegen, beim Gehen und wenn sie die Augen schließe. Begleiterscheinungen habe sie nicht. Auf Nachfrage berichtet Mia, sie sei schon immer etwas bewegungsempfindlich gewesen. Weitere Nebendiagnosen umfassen eine kraniomandibuläre Dysfunktion (CMD) beiderseits, für die sie eine Knirschschiene bekommen habe sowie ein Kreuzbandriss im linken Knie vor 1 Jahr.

Mia geht zwar wieder zur Schule, traut sich aber nicht, am Schwimmunterricht teilzunehmen. In der Freizeit spielt sie aktiv Volleyball und fährt Fahrrad, was momentan aufgrund des Schwindels nicht möglich ist. Beides sind für Mia wichtige Therapieziele.


#

Befund

In der physiotherapeutischen Diagnostik erweisen sich die Okulomotoriktests alle als unauffällig. Optokinetische Augen- und Blickfolgebewegungen sind allerdings unangenehm. Auch der Kopfimpulstest [26] zur Beurteilung des vestibulookulären Reflexes und die Lagerungsproben für die hinteren und horizontalen Bogengänge zeigen sich ohne Befund. Mia hat weder einen Spontannystagmus, noch lässt sich ein Kopfschüttelnystagmus provozieren. Das Gleichgewicht ist mit offenen Augen unauffällig. Beim für die Praxis modifizierten Clinical Test for Sensory Interaction in Balance (mCTSIB [13]) schwankt Mia vermehrt bei geschlossenen Augen sowohl auf normalem Boden als auch auf dem Balancekissen.

Beim Functional Gait Assessment [14] [15] lösen die Aufgaben mit Kopf- oder Körperdrehungen beim Gehen leichte Gleichgewichtsprobleme aus. Alle anderen Aufgaben sind beschwerdefrei möglich.


#

Therapieverlauf

Nach der Diagnostik erklärt die Physiotherapeutin Mia das Krankheitsbild und die Häufigkeit des PPPD, die Entstehungsmechanismen eines funktionellen Schwindels (in Mias Fall eventuell durch einen Lagerungsschwindel ausgelöst) und was man therapeutisch zur Reprogrammierung tun kann. Für Mia klingt alles logisch und zutreffend. Sie ist sehr motiviert, ihre Hausaufgaben und somit selbst etwas gegen den Schwindel zu machen.

Als erste Hausaufgabe soll Mia das Erden ausprobieren, d.h. im Alltag immer wieder mit den Füßen eng stehen, die Augen schließen und abwarten, bis das extreme Schwanken abnimmt und sich das Stehen normal anfühlt. Als weitere Aufgaben soll sie zunehmend mit geschlossenen Augen im Seiltänzergang gehen oder ihren horizontal bewegenden Finger mit Augen und Kopf verfolgen, während sie im Seiltänzergang geht ([ Abb. 1 ]). Beide Aufgaben soll sie auch im Tandemstand auf dem Balancekissen versuchen.

Zoom Image
Abb. 1 Seiltänzergang mit diagonalen Kopf-Augen-Bewegungen. (Quelle: A. K. Saul, Hamburg)

Beim nächsten Termin berichtet Mia, dass ihr das Erden sehr helfe; es funktioniere sogar im Sitzen in der Schule, dauere nur länger. Eine Woche später sagt sie, sie habe seit ein paar Tagen Drehschwindel beim Runterschauen.

Die Dix-Hallpike-Lagerungstests [12] für die hinteren Bogengänge zeigen keinen Nystagmus, Mia gibt aber auf der rechten Seite Drehschwindel für ca. 10 Sekunden an, links ist kein Schwindel auslösbar.

Die Physiotherapeutin beschließt, probeweise die Sémont-Lagerungsmanöver [12] [27] durchzuführen und klärt Mia ausführlich über Lagerungschwindel und dessen Behandlung auf. Nach den 3 Manövern für die rechte Seite fühlt sich Mia besser, und es ist kein Schwindel mehr auslösbar. Die Therapeutin erklärt ihr, wie sie herausfinden kann, welche Seite betroffen ist und übt mit ihr das eigenständige Anwenden des Sémont-Manövers [27].

In den nächsten Wochen tritt der Drehschwindel immer mal wieder auf, lässt sich aber mit den Lagerungsmanövern beseitigen, die Mia nun selbstständig durchführt. Somit kann die Therapeutin in der Behandlung den Schwerpunkt auf Gleichgewichtsaufgaben kombiniert mit optokinetischen Augenbewegungen auf wackeligen Untergründen wie dem Therapiekreisel ([ Abb. 2 ]), BOSU-Ball und Trampolin legen. Beim anschließenden Erden schwankt Mia zunächst stark, über die Wochen verkürzt sich zusehend die Dauer, bis sie normal schwankt.

Zoom Image
Abb. 2 Gleichgewichthalten auf dem Wackelbrett mit geschlossenen Augen. (Quelle: A. K. Saul, Hamburg)

Nach knapp 1,5 Monaten berichtet Mia, sie fühle sich hinsichtlich des Schwindels insgesamt schon deutlich besser. Sie gehe wieder zum Volleyballtraining, was auch schon wieder ganz gut klappe. Nach 3 Monaten spricht Mia von vermehrt guten Tagen. Sie könne mittlerweile gut zwischen PPPD-Verstärkungen und Lagerungsschwindel unterscheiden und entsprechend reagieren. Ab dem 3. Monat sagt sie, der Schwindel sei auf einem akzeptablen Niveau. Therapieinhalte sind momentan Drehungen um die eigene Körperachse auf dem BOSU-Ball oder Trampolin ([ Abb. 3 ], [ Abb. 4 ]). Dabei merkt Mia, dass Schritt-für-Schritt-Drehungen unangenehmer sind als gesprungene Pirouetten. Kippeln auf dem Kreisel mit geschlossenen Augen, Volleyballpässe auf wackeligen Untergründen und Optokinetik sind ebenfalls Teil des Programms. Mia erdet sich weiterhin regelmäßig.

Zoom Image
Abb. 3 Mit gehaltenem Volleyball horizontale Kopf-Augen-Bewegungen auf dem BOSU-Ball. (Quelle: A. K. Saul, Hamburg)
Zoom Image
Abb. 4 360-Grad-Drehung um die eigene Körperachse auf dem Trampolin. (Quelle: A. K. Saul, Hamburg)

Nach 5 Monaten berichtet Mia, seit einigen Wochen weitestgehend beschwerdefrei zu sein (VAS: 1–2). Sie fahre wieder Fahrrad, nehme am Volleyballtraining und den Spielen teil und traue sich wieder ins Wasser. Sie fühle sich gut aufgeklärt und kompetent, um mit eventuellen Schwindelepisoden gut umzugehen.

Der ungekürzte Originalartikel mit komplettem Literaturverzeichnis ist verfügbar unter https://www.thieme-connect.com/products/ejournals/abstract/10.1055/a-2130-2973 (Saul AK. Verwirrtes Gehirn – Funktioneller Schwindel. physiopraxis 2023; 21 (10): 18–25. DOI: 10.1055/a-2130-2973)

MITMACHEN UND GEWINNEN
Zoom Image

Wir verlosen 3 Exemplare des Trias-Buches von Volker Sutor und Tim Bumb mit 40 einfachen Übungen.


Mitmachen: Schreiben Sie per E-Mail mit dem Stichwort: Gewinnspiel Schwindel-Ratgeber an:
presse@vpt.de


Einsendeschluss ist der 31. März 2024.
Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.


#
#

Ann Kathrin Saul

selbstständige Physiotherapeutin, BSc, Schwerpunkt Schwindel und Gleichgewichtsstörungen


Korrespondenzadresse


Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
27. Februar 2024

© 2024. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany


Zoom Image
Abb. 1 Seiltänzergang mit diagonalen Kopf-Augen-Bewegungen. (Quelle: A. K. Saul, Hamburg)
Zoom Image
Abb. 2 Gleichgewichthalten auf dem Wackelbrett mit geschlossenen Augen. (Quelle: A. K. Saul, Hamburg)
Zoom Image
Abb. 3 Mit gehaltenem Volleyball horizontale Kopf-Augen-Bewegungen auf dem BOSU-Ball. (Quelle: A. K. Saul, Hamburg)
Zoom Image
Abb. 4 360-Grad-Drehung um die eigene Körperachse auf dem Trampolin. (Quelle: A. K. Saul, Hamburg)
Zoom Image