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DOI: 10.1055/s-2000-6772
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
Bericht über das Symposium „Patientenschulung - Perspektiven der patientenorientierten Medizin” vom 20. - 21. 1. 2000 in Bremen
Publication History
Publication Date:
31 December 2000 (online)
Beim Symposium „Patientenschulung - Perspektiven der patientenorientierten Medizin” handelte es sich um eine Veranstaltung des Rehabilitationswissenschaftlichen Forschungsverbundes Niedersachsen/Bremen (RFNB). Das Thema Patientenschulung wurde von verschiedenen Seiten beleuchtet: Am ersten Tag wurden, ausgehend von den wissenschaftlichen Grundlagen, verschiedene Schulungskonzepte vorgestellt und Aspekte der Evaluation (Qualitätssicherung) in Plenarvorträgen vorgestellt und diskutiert. Am zweiten Tag wurden diese und weitere Aspekte in Workshops vertieft. An diesem interdisziplinär orientierten Symposium nahmen ca. 180 Teilnehmer aus der gesamten Bundesrepublik teil; die Tagung leitete Prof. Dr. Franz Petermann, Geschäftsführender Sprecher des RFNB.
Patientenschulung und Patientenberatung reflektieren ein neues Verständnis von interdisziplinärer Versorgung im Rahmen einer umfassenden Behandlung und Rehabilitation; durch diese Sichtweise ändern sich die Rollen von Arzt/Therapeut und Patient. Hierbei sollen Patientenschulungsprogramme den eigenverantwortlichen Umgang mit der Erkrankung und die Bereitschaft zur Therapiemitarbeit (Compliance) fördern. Dazu bedarf es neben reiner Wissensvermittlung der Unterstützung beim Aufbau einer angemessenen Einstellung zur Erkrankung und bei der Krankheitsbewältigung. Die Sensibilisierung der Körperwahrnehmung und die Vermittlung von Selbstmanagementkompetenzen sind zentrale Ziele von Patientenschulungen. Darüber hinaus werden in Schulungsprogrammen Möglichkeiten der Prophylaxe und soziale Kompetenzen im Zusammenhang mit der Erkrankung vermittelt. Diese umfangreichen Ziele stellen auch für die mit Schulungen befassten Professionen eine besondere Herausforderung dar, wie im Einführungsvortrag von Prof. Dr. Franz Petermann deutlich wurde.
Im nachfolgenden Vortrag von Dr. Stephan Mühlig (Bremen) wurden „Grundlagen und Trends der Patientenschulung” fokussiert. Dabei zeigte sich, dass insbesondere die Verbesserung der Compliance als zentrales Ziel von Patientenschulung anzusehen ist, zumal die Kosten unzureichender Compliance enorm sind (nach Expertenberechnungen 1998 für Deutschland 10,5 Milliarden DM direkte Kosten - bezieht man die indirekten Kosten mit ein, verdoppelt sich dieser Betrag). Gegenwärtig zeichnet sich ab, dass moderne Schulungsprogramme für chronisch kranke Patienten verhaltenspsychologisch und interdisziplinär orientiert sein sollten, da besonders die verhaltenspsychologischen Elemente (Einübung neuer Verhaltensweisen) dazu geeignet erscheinen, eine andauernde Verhaltensmodifikation zu erreichen. Die Standardisierung von Patientenschulungsprogrammen ist ein wichtiger Trend in der weiteren Entwicklung.
Mit dem Vortrag „Schmerzbewältigung - ein weitgefasster Schulungsansatz?” stellte Prof. Dr. Wolf Dieter Gerber (Kiel) ein neu entwickeltes Patientenschulungsprogramm zur Schmerzbewältigung bei Migränepatienten vor. An diesem Ansatz wurde deutlich, wie unmittelbar sich grundlegende wissenschaftliche Ergebnisse aus den Neurowissenschaften in verhaltenspsychologische Konzeptionen der Patientenschulung umsetzen lassen. An klinischen Beispielen konnte gezeigt werden, wie sich durch verhaltenspsychologische Methoden das Spektrum der Patientenschulung erweitern lässt.
Im Vortrag von Dr. Inge Ehlebracht-König (Bad Eilsen) zum Thema „Indikationsbezogene Patientenschulung am Beispiel der Spondylitis ankylosans” wurde deutlich, dass die überregionale Zusammenarbeit in Patientenschulungsarbeitskreisen die Entwicklung von standardisierten Patientenschulungsprogrammen befruchten kann. Exemplarisch wurde der modulare Aufbau des Patientenschulungsprogramms vorgestellt. Die Module beinhalten sowohl informations- als auch verhaltensorientierte Elemente zum Krankheitsbild, zur Krankengymnastik, zu Schmerzbewältigung, medikamentöser und operativer Behandlung, alltagsgerechtem Verhalten und zur Krankheitsbewältigung. Diese Module werden von verschiedenen Berufsgruppen durchgeführt, was dem interdisziplinären Anspruch an moderne Patientenschulungsprogramme entspricht.
Im letzten Vortrag des ersten Tages stellte Prof. Dr. Jürgen Bengel (Freiburg) „Strategien zur Evaluation der Patientenschulung” vor. Vor dem Hintergrund der Diskussion um Qualitätssicherung im Gesundheitswesen wird deutlich, dass es künftig generell abzuwägen gilt, ob man die Effektivität bereits standardisierter Patientenschulungsprogramme in weiteren Studien absichern oder sich der Fokus der Qualitätssicherung auf Möglichkeiten der Implementation verschieben sollte. Damit würde das Augenmerk der Qualitätssicherung mehr auf die Prozessqualität gerichtet.
Am zweiten Symposiumstag wurden zweimal vier Workshops zu verschiedenen Themen angeboten: Im Workshop „Evaluation und Gesundheitsökonomie” (Moderation: Dr. Inge Ehlebracht-König, Dr. Christian Krauth) wurden verschiedene Aspekte vorgestellt, die bei der Evaluation von Patientenschulungsprogrammen berücksichtigt werden sollten. Dabei wurde neben Studiendesign, Patientenauswahl und der Erfassung der spezifischen Schulungseffekte ein Schwerpunkt auf die gesundheitsökonomische Evaluation gelegt. Zunächst wurden ein indikationsbezogenes Schulungsprogramm für Fibromyalgie-Patienten mit daran anknüpfenden Fragestellungen vorgestellt und verschiedene gesundheitsökonomische Evaluationsstrategien kurz umrissen. Anhand eines vorgegebenen Szenarios erarbeiteten die Workshopteilnehmer interaktiv einzelne Themen, die die praktische Umsetzung der Evaluation betreffen.
Der Workshop „Indikation zur Patientenschulung” (Moderation: Dr. Norbert Krischke, Priv.-Doz. Dr. Wilfried Mau) betonte, dass eine Patientenschulung bei allen chronischen Erkrankungen angezeigt ist, die ein komplexes, langfristiges Krankheitsmanagement von den Betroffenen, einschließlich medikamentöser, instrumenteller, physikalischer und psychologischer Maßnahmen, verlangen. Hierbei spielen die persönlichen Voraussetzungen wie Bildung, Dauer und Ausprägung der Erkrankung sowie das soziale Umfeld eine wichtige Rolle. Tritt eine chronische Erkrankung unerwartet, zum Beispiel nach einer Krebsbehandlung oder infolge chronisch entzündlicher Prozesse auf, so sind die Schulungsmaßnahmen an die Krankheitsprozesse der Patienten und der medizinischen Therapie anzupassen. In diesem Workshop berichteten die Teilnehmer über typische Defizite der Patienten hinsichtlich Krankheitsverständnis, Krankheitsmanagement und Compliance bei chronischen Krankheiten. Am Beispiel von Asthma, Neurodermitis und chronischer Polyarthritis wurde am Ende des Workshops gezeigt, wie standardisierte, modulare Schulungsprogramme gestaltet werden können. Optimalerweise sind dafür Informationsbedürfnisse der Patienten, die nötige Übungsroutine im Umgang mit den Therapieanforderungen und Maßnahmen zur Krankheitsbewältigung miteinander zu verbinden.
Im Workshop „Psychologische Beiträge zur Patientenschulung” (Dr. Stephan Mühlig, Prof. Dr. Franz Petermann) wurde festgestellt, dass alle vorliegenden Programme trotz ihrer Erfolge unter der Heranziehung grundlagenwissenschaftlicher Ergebnisse noch optimierbar sind. Insbesondere wurde betont, dass die klinische Psychologie effektive Erweiterungen/Verbesserungen beisteuern kann. Dabei wurden verschiedene Aspekte besonders intensiv diskutiert wie
relevante psychologische Faktoren bei Leitung von Schulungsgruppen, die Steigerung der Schulungsmotivation, die gezielte Bearbeitung von Non-Compliance-Problemen, subjektive Krankheitskonzepte als Ausgangspunkt der Schulung, Möglichkeiten zur Verbesserung der Interozeption und die Nutzung eines multimethodalen Zugangs sowie der Möglichkeiten neuer Medien (selbstgesteuertes Lernen am PC).
In einem weiteren Workshop zum Thema „Mediatorentrainings - ein neuer Zugang zur Patientenschulung” (Priv.-Doz. Dr. Petra Warschburger, Dr. Gerhard Schmid-Ott) wurde deutlich, dass eine chronische Erkrankung nicht nur die Betroffenen, sondern auch deren Familien sehr stark belasten kann. Gerade bei jüngeren Kindern werden alle Aufgaben der alltäglichen Versorgung an die Eltern delegiert. Die Anforderungen, die ein solches Selbstmanagement an die Eltern stellt, kann viele Eltern belasten. Mediatorentrainings stellen hier einen Weg dar, um einerseits die Eltern in der Umsetzung der notwendigen Anwendungen zu unterstützen und sie andererseits emotional zu entlasten. Am Beispiel eines Trainingsprogramms für Eltern neurodermitiskranker Vorschulkinder (im Alter bis zu 7 Jahren) wurden die Techniken und Inhalte solcher Schulungsprogramme verdeutlicht.
Abschließend fand eine Podiumsdiskussion zum Thema „Perspektiven und Erfolge der Patientenschulung” mit den Vertretern verschiedener Professionen statt. Diese von der Pressestelle der Universität moderierte Diskussion verdeutlichte noch einmal den Facettenreichtum von Patientenschulung. Als Teilnehmer waren Prof. Dr. Karl-Christian Bergmann (Bad Lippspringe), Prof. Dr. Bernhard Dahme (Hamburg), Dr. Inge Ehlebracht-König (Bad Eilsen), Prof. Dr. Hermann Holzhüter (Bremen), Dr. Liecker (Hamburg), Dr. Stephan Mühlig (Bremen), Prof. Dr. Franz Petermann (Bremen), Dr. Timm Volmer (Hamburg) und Susanne Walia (Bonn) als Vertreterin der Deutschen Rheuma-Liga geladen.
In der Diskussion wurde einerseits die Bedeutung der zunehmenden Standardisierung von Patientenschulungsprogrammen betont, während aber andererseits davor gewarnt wurde, die individuellen Eigenarten des Patienten zu ignorieren. Einigkeit bestand darin, dass es weiterhin großer Anstrengung bedarf, die Qualität der Schulungsprogramme sicherzustellen, sei es durch Programm- oder auch durch Prozessevaluation. Insbesondere in der konsequenten Umsetzung von Patientenschulungsprogrammen in interdisziplinären Teams und in der weiteren Integration von verhaltenspsychologischen Bausteinen wurde ein noch nicht ausgeschöpftes Potential zur Verbesserung der Schulungsprogramme gesehen. Eine Fortführung des Themas, vor allem unter dem Blickwinkel, das Gemeinsame der verschiedenartigen Schulungsprogramme in den Blickpunkt zu rücken, wurde als Wunsch der Teilnehmer deutlich artikuliert.
Prof. Dr. Franz Petermann
Lehrstuhl für Klinische Psychologie der Universität Bremen
Direktor des Zentrums für Rehabilitationsforschung (ZRF)
Grazer Str. 6
28359 Bremen