Dtsch Med Wochenschr 2000; 125(28/29): 851
DOI: 10.1055/s-2000-7021
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Leitlinien, Empfehlungen und Positionen

H.-W Hense
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Publication Date:
31 December 2000 (online)

In keinem Bereich der Inneren Medizin hat sich in den vergangenen Jahren die Zahl der klinischen Studienergebnisse derart exponentiell vermehrt wie bei den Herz-Kreislauf-Krankheiten. Die über die letzten Jahre kumulierte große Zahl klinischer Studien zum Thema und die zum Teil nur für Experten auf Anhieb verständlichen Unterschiede in Studienanlage und in den Resultaten hat viele Ärzte verwirrt. Es mag widersinnig klingen, aber aus dem kontinuierlichen Anwachsen wissenschaftlicher Informationen entsteht nicht direkt und unmittelbar auch ein Zugewinn an ärztlichem Wissen. Dazu ist es nötig, die Flut neuer Evidenzen kontinuierlich zu sichten, zu bewerten und einzuordnen.

Leitlinien, Empfehlungen oder auch Positionspapiere verfolgen dieses Ziel. Evidenzbasierte Klinische Leitlinien eröffnen hier eine neue Perspektive, die allerdings von mancher Seite noch mit Skepsis betrachtet wird. Sie basieren auf einigen wesentlichen Komponenten und auf den Prinzipien von Transparenz und Explizität. Grundsätzlich wird zu ihrer Erstellung systematisch die jeweils beste, aktuell verfügbare wissenschaftliche Evidenz gesucht, bewertet und aufgearbeitet. Evidenzbasierte Leitlinien benennen explizit die Validität der Grundlagen, auf denen Einschätzungen getroffen und Empfehlungen ausgesprochen werden. Sie besitzen Transparenz bezüglich der Auswahlkriterien für die Produzenten oder Autoren der Leitlinie, sie benennen den Kreis potenzieller Anwender und berücksichtigen Aspekte von Praktikabilität und Implementierung ([1]).

Viele Leitlinien zu einzelnen Risikofaktoren oder zur umfassenden Primär- und Sekundärprävention der KHK liegen inzwischen vor, einige bereits in revidierten Versionen. Sie wurden von nationalen und internationalen Gremien und Gruppierungen erstellt. Nicht alle orientierten sich bisher an den Anforderungen für evidenzbasierte Leitlinien, wenngleich deutlich erkennbar wird, dass die in neuerer Zeit erstellten Dokumente vermehrt evidenzbasierte Elemente aufgenommen haben. Zu ihnen zählen die Empfehlungen zur Prävention der Koronaren Herzkrankheit in der Klinischen Praxis, die 1998 von der Second Joint Task Force of European and other Societies on Coronary Prevention publiziert wurden ([2]). Bedauerlich ist allerdings, dass diese Materialien bisher nicht in deutscher Sprache zum weitflächigen Einsatz verfügbar sind.

Diesem Mangel könnte nun ein Positionspapier der International Task Force for Prevention of Coronary Heart Disease begegnen, das in dieser Ausgabe der DMW (ab S. 881) erscheint. Es ist dies die deutschsprachige Zusammenfassung eines umfangreicheren Dokumentes, das im englischsprachigen Original bereits 1998 publiziert wurde und seither auch im Internet einsehbar ist ([3]). Die Task Force ist eine internationale Organisation mit dem primären Ziel, wissenschaftliche Evidenz in klinische Praxis umzusetzen (www.chd-taskforce.com/history), war aber nicht an der Erstellung der Europäischen Empfehlungen beteiligt. Vielleicht nicht ganz überraschend setzt das Positionspapier auch andere Schwerpunkte, die kritisch zu sehen sind. In Anbetracht des Platzes, der Bedeutung und Behandlungsdetails von Hyperlipidämien in Text und Tabellen eingeräumt wird, fällt die Darstellung zum Beispiel für die Hypertonie nahezu spärlich aus. Begründungen werden dafür nicht gegeben und sind auf der Basis neuer Evidenz zum attributablen Risiko für die deutsche Bevölkerung auch nicht ableitbar (4). Die selektive Berücksichtigung wissenschaftlicher Evidenz ist im Original explizit gemacht, wird aber in der deutschsprachigen Kurzfassung nicht deutlich, da man hier weitestgehend auf Evidenzbelege und gänzlich auf Literaturangaben verzichtet hat. Andererseits ist die Berücksichtigung des HDL-Cholesterins bei der Bestimmung des Globalrisikos im Vergleich zu den Europäischen Empfehlungen eindeutig positiv hervorzuheben, da hierfür gute Evidenzen vorliegen.

Leitlinien, Empfehlungen und Positionspapiere haben den Auftrag, die Qualität einer effektiven und kostenbewussten Primär- und Sekundärprävention der KHK wissenschaftlich zu begründen. Es ist deshalb zu fordern, dass sie sich weitgehend auf dieselbe Evidenzbasis beziehen und sich primär in solchen Aspekten unterscheiden, die nationale, lokale oder systemspezifische Elemente und Implementierungsfaktoren betreffen. Priorisierungen bestimmter Bereiche ohne explizite Begründung sollten vermieden werden. Eine engere Anlehnung an das Konzept der evidenzbasierten Leitlinien wird diese Anforderungen am besten sicherstellen können.

Literatur

  • 1 Shekelle P G, Woolf S H, Eccles M, Grimshaw J. Developing guidelines.  Brit Med J. 1999;  318 593-596
  • 2 Prevention of Coronary Heart Disease in Clinical Practiceet . Recommendations of the Second Joint Task Force of European and other Societies on Coronary Prevention.  Eur Heart J. 1998;  19 434-1504
  • 3 International Task Force for Prevention of Coronary Heart Diseaseet . Coronary Heart Disease: Reducing the Risk. The scientific backgriound for primary and secondary prevention of coronary heart disease. A worldwide view.  Nutr Metab Cardiovasc Dis. 1998;  8 205-271
  • 5 Keil U, Liese A D, Hense H W, Filipiak B, Döring A, Stieber J, Löwel H. Classical risk factors and their impact on incident non-fatal and fatal myocardial infarction and all-cause mortality in southern Germany. Results from the MONICA Augsburg cohort study 1984-1992.  Eur Heart J. 1998;  19 1197-1207

Korrespondenz

Prof. Dr. med. Hans-Werner Hense

Institut für Epidemiologie und Sozialmedizin Klinische Epidemiologie der Universität

Domagkstr. 3

48129 Münster

Fax: 0251/8355300

Email: hense@uni-muenster.de