Aktuelle Urol 2000; 31(2): 75-76
DOI: 10.1055/s-2000-8977
EDITORIAL
Georg Thieme Verlag Stuttgart ·New York

Aktuelle Aspekte der Neurostimulation

Update Aspects of NeurostimulationM. Hohenfellner1 , K. Matze2
  • 1Urologische Klinik und Poliklinik, Johannes Gutenberg-Universität Mainz
  • 2Chirurgische Klinik mit Poliklinik der Universität Erlangen-Nürnberg, Erlangen
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Publication Date:
31 December 2000 (online)

 

Die unterschiedlichen Funktionen der Harnblase als viskoelastisches Niederdruckreservoir während der Speicherphase und kontraktiles Organ der Miktionsphase, setzt ihre synerge Integration in die willkürliche und unwillkürliche Innervation des unteren Harntraktes voraus. Störungen der Funktion des unteren Harntraktes werden als primär oder neurogen qualifiziert. Die Ätiologie der primären Störungen ist unbekannt, wobei der neurogene Charakter einer als primär diagnostizierten Störung möglicherweise durch die Limitationen der Diagnostik nicht erkannt wird. Das Spektrum der Folgen von neurogenen Blasenfunktionsstörungen reicht von der Inkontinenz über rezidivierende Harnwegsinfekte, Harntransportstörungen bei vesikoureteralem Reflux oder ureterovesikaler Obstruktion mit rezidivierenden Pyelonephritiden bis hin zum chronisch postrenalen Nierenversagen. Dabei sind die urologischen Komplikationen bei Patienten mit einer Schädigung des unteren Motoneurons der Harnblase (sakral, infrasakral) weniger stark ausgeprägt als bei Patienten mit suprasakralen Läsionen.

Obwohl für den Patienten und seine persönliche Umgebung meist die Inkontinenz das vordergründige behandlungsbedürftige Symptom einer neurogenen Blase ist, steht aus medizinischer Sicht der Erhalt der Nierenfunktion an erster Stelle. Wichtigstes therapeutisches Ziel bei der Behandlung einer neurogenen Blase ist daher die Sicherung beziehungsweise Wiederherstellung der unbehinderten Drainage des oberen Harntrakts, wobei die konservative Therapie in der Regel das erste Mittel der Wahl ist. Bei Versagen der konservativen Therapie stehen zur funktionellen Restitutio des unteren Harntrakts unterschiedliche neurologische operative Techniken zur Verfügung.

Bei kompletten oder hochgradig inkompletten suprasakralen spinalen Läsionen mit resultierender Hyperreflexie des unteren Harntrakts kann die Funktion der Blase als Speicherorgan durch Unterbrechung der pathologischen sakralen Reflexbogen wiederhergestellt werden [[6], [7]]. Voraussetzung für einen solchen Eingriff, der in Form von sakralen Hinter- und/oder Vorderwurzelrhizotomien durchgeführt werden kann, ist die erhaltene strukturelle Integrität der Harnblase. In jedem Fall führt eine solche sakrale Blasendenervierung zum Verlust einer Restsensibilität bei inkompletten Läsionen sowie von Triggermöglichkeiten der Miktion, Erektion und Defäkation. Versuche mit subradikalen sakralen Deafferentationen (z. B. unilateral, oder Erhalt der Hinterwurzeln des S2-Segmentes), die auf den Erhalt von Reflexerektionen zielten, wurden aufgegeben, da die Hyperreflexie meist rezidivierte.

Die Entleerung einer Blase, die chirurgisch von einem hyperreflexiven in ein areflexives Reservoir verwandelt wurde, kann prinzipiell auf zwei unterschiedliche Arten erfolgen. Einfachste, sicherste und kostengünstigste Methode ist der saubere Einmalkatheterismus, der entweder via urethram oder über eine kontinente Vesikostomie durchgeführt werden kann. Alternative ist die Implantation eines sakralen Vorderwurzelstimulators zur telemetrisch induzierten Detrusorkontraktion [[1], [8], [11]]. Vorteilhaft ist hierbei die Vermeidung der urethralen Manipulation während des CIC mit ihrer assoziierten Morbidität. Dem stehen mehrere Nachteile gegenüber. Das Verfahren ist operativ und in seiner technischen Komplexität anspruchsvoll und daher, insbesondere auch unter den Aspekten der Wirtschaftlichkeit und der begrenzten Verfügbarkeit der Implantate, nur an wenigen ausgewählten Zentren durchzuführen. Weitere kritische Punkte sind die Beschränkung der sakralen Denervierung auf dorsale Rhizotomien mit dem Risiko der residualen/rezidivierenden Hyperreflexie, die Risiken von Implantatinfektion und technischen Defekten und schließlich die Systemimmanente Detrusor-Sphinkter Dyssynergie während der elektrisch induzierten Miktion. Letztere ist begründet in der simultanen Stimulation des parasympathischen unteren Motoneurons des Detrusors und der somatischen Pudendusefferenz, die auf sakralem Niveau gemeinsam in den sakralen Spinalnerven verlaufen. Trotz zahlreicher, teilweise vielversprechender experimenteller Ansätze [[2], [3], [10]] zur Lösung dieses Problems war eine relevante klinische Weiterentwicklung auf diesem Gebiet wegen des fehlenden Engagements der beteiligten Industrie nicht möglich.

Bei suprapontinen neurogenen oder primären Funktionsstörungen mit resultierender Hyperaktivität oder Hypokontraktilität der Harnblase kann die Neuromodulation indiziert sein. Ihr prinzipieller Wirkmechanismus beruht auf der Beeinflussung der Detrusorkontraktilität durch Elektrostimulation der Innervation des Kontinenzapparates. Dies kann in therapeutisch temporärer Form, wie der penilen bzw. klitoralen, vaginalen oder rektalen Elektrostimulation oder mittels eines permanenten Implantats chronischen sakralen Neuromodulation erfolgen. In jedem Fall werden zwei verschiedene spinale Reflexbogen aktiviert, die über eine Erregung des N. pudendus die Aktivierung der sympathischen Nn. hypogastrici bahnen (Pudendus-an-Hypogastricus Reflex) und das parasympathische Motoneuron der Harnblase hemmen (Pudendus-an-Pelvicus Reflex) und so zu einer Hemmung der Detrusorkontraktilität führen [[9]]. Indirekt kann die Neuromodulation somit bei Unterbrechung des Stimulationsstroms auch zur Auslösung des Miktionsreflexes verwendet werden. Eine so induzierte Detrusorkontraktion ist aus der Kombination einer überschießenden Reaktion zu Ungunsten hemmender β-adrenerger sympathischer Einflüsse auf den Detrusor und zu Gunsten stimulierender cholinerger parasympathischer Aktivitäten im Sinne eines „Rebound-Phänomens” zu erklären.

Die Standardtechnik der chronischen sacralen Neuromodulation besteht aus der Implantation eines subkutan im Hypogastrium gelegenen Stimulators, der eine sogenannte Quadelektrode ansteuert, die durch eines der dorsalen sakralen Foramina in den Canalis sacralis und damit in die Nähe eines sakralen Spinalnerven vorgeschoben wird. Wichtigstes Hilfsmittel zur Vermeidung nicht indizierter weil ineffektiver Implantate ist die perkutane Nervenstimulation im Sinne einer akuten und subchronischen sakralen Neuromodulation. Da in mehreren Patientenkollektiven die Effektivität der chronischen sakralen Neuromodulation nicht unbedingt die durch die präoperative Teststimulation projizierten Erwartungen erfüllte, wurde in einem Pilotprojekt die Standardtechnik der chronischen sakralen Neuromodulation weiterentwickelt. Diese modifizierte Technik erlaubt eine Exposition der sakralen Spinalnerven, die dann bilateral mit an den Nerven fixierten Manschetten-Elektroden stimuliert werden können [[4]]. Vorteilhafterweise erlaubt nunmehr eine neue 2-Kanal-Stimulatorgeneration eine elektrische Entkopplung der konnektierten Elektroden, so dass die ausgewählten Spinalnerven unabhängig voneinander mit unterschiedlichen Stromstärken stimuliert werden können.

Die im Fachgebiet der Urologie entwickelte Methode der sakralen Spinalnervstimulation findet mittlerweile auch bei der Behandlung von Stuhlinkontinenz Anwendung [[5]]. Insbesondere bei Formen der Inkontinenz, die durch eine reduzierte oder aufgehobene Funktion der quergestreiften externen analen Sphinktermuskulatur und der synergistisch wirkenden Beckenbodenmuskulatur bedingt sind - ohne dass ein morphologischer Defekt nachweisbar ist -, konnte das Verfahren bislang erfolgreich eingesetzt werden. Während verschiedene physiologische Wirkungsmechanismen dieser Form der Stimulation auf den unteren Harntrakt nachgewiesen sind, ist der zugrunde liegende physiologische Effekt bei der Behandlung der Stuhlinkontinenz letztlich noch nicht geklärt. Klinisch, manometrisch und elektromyographisch nachweisbar sind stimulationsinduzierte Kontraktionen des externen analen Sphinkters, die durch Erregung somatomotorischer Nervenfasern bedingt sind, und eine Steigerung der Willkürleistung dieser Muskeln. Es lässt sich spekulieren, ob die positive Wirkung der angewendeten chronischen Neurostimulation auf die Leistungsfähigkeit der quergestreiften Muskulatur durch eine stimulationbedingte Muskelfasertransformation bedingt ist. Niederfrequenzstimulation transformiert leicht ermüdbare sogenannte „fast-twitch” Typ-II-Muskelfasern in ermüdungsresistente „slow-twitch” Typ-I-Muskelfasern. Wenngleich auch der prozentuale Anteil der Typ-II-Muskelfasern beim Gesunden niedrig ist, so ist er nicht konstant und abhängig von der Beanspruchung. Präliminäre Untersuchungen mittels temporärer Kurzzeit-Spinalnervstimulation deuten darauf hin, dass die Stimulation nicht nur eine somatomotorische Wirkung hat, die zu qualitativ und quantitativen Verbesserung der Sphinkterfunktion führt, sondern dass möglicherweise auch die Interaktion zwischen proximalem Dickdarm und Sphinkter verändert wird, und diese Veränderung therapeutisch nutzbar sein könnte. Wenngleich auch die physiologische Wirkung der sakralen Spinalnervstimulation zum Teil noch hypothetisch ist, so bietet diese Technik doch einen neuen therapeutischen Weg für eine bestimmte Gruppe inkontinenter Patienten, deren Behandlung in der Vergangenheit oftmals konzeptionell unbefriedigend und von limitiertem Erfolg war.

Literatur

  • 1 Brindley G S. An implant to empty the bladder or close the urethra.  J Neurol Neurosurg Psych. 1977;  40 358-369
  • 2 Dahms S, Tanagho E. The impact of sacral root anatomy on selective electrical stimulation for bladder evacuation.  World J Urol. 1998;  16 322-328
  • 3 Grünewald V, Bhadra N, Creasey G, Mortimer J. Functional conditions of micturition induced by selective sacral anterior root stimulation: experimental results in a canine animal model.  World J Urol. 1998;  16 329-336
  • 4 Hohenfellner M, Schultz-Lampel D, Dahms S, Matzel K, Thüroff J W. Bilateral chronic sacral neuromodulation for treatment of lower urinary tract dysfunction.  J Urol. 1998;  160 821-824
  • 5 Matzel K E, Stadelmaier U, Hohenfellner M, Gall F P. Electrical stimulation of the sacral spinal nerves for treatment of fecal incontinence.  The Lancet. 1995;  346 1124-1127
  • 6 Meirowsky A M, Scheibert C D, Hinchey T R. Studies on the sacral reflex arc in paraplegia. I. Response of the bladder to surgical elimination of sacral nerve impulses by rhizotomy.  J Neurosurg. 1950;  7 33-38
  • 7 Meirowsky A M, Scheibert C D, Hinchey T R. Studies on the sacral reflex arc in paraplegia. II. Differential sacral neurotomy. An operative method.  J Neurosurg. 1950;  7 39-43
  • 8 Sauerwein D. Die operative Behandlung der spastischen Blasenlähmung bei Querschnittslähmung.  Urologe [A]. 1990;  29 196-203
  • 9 Schultz-Lampel D, Jiang C, Lindstrom S, Thüroff J W. Experimental results on mechanisms of action of electrical neuromodulation in chronic urinary retention.  World J Urol. 1998;  16 301-304
  • 10 Schumacher S, Bross S, Scheepe J, Seif C, Jünemann K, Alken P. Extradural cold block for selective neurostimulation of the bladder: development of a new technique.  J Urol. 1999;  16 950-954
  • 11 Tanagho E A, Schmidt R A. Electrical stimulation in the clinical management of the neurogenic bladder.  J Urol. 1988;  140 1331-1339

Dr. med. PD M. Hohenfellner

Urologische Klinik und Poliklinik Johannes Gutenberg-Universität

D-55101 Mainz

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