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DOI: 10.1055/s-2000-9057
Quarz und Lungentumoren - Daten und Fakten des Pathologen[1]
Prof. Dr. K.-M. Müller
Direktor des Instituts für Pathologie an den Berufsgenossenschaftlichen Kliniken Bergmannsheil Klinik der Ruhr-Universität Bochum
Bürkle-de-la-Camp-Platz 1
D-44789 Bochum
eMail: patho-bhl@ruhr-uni-bochum.de
URL: http://www.ruhr-uni-bochum.de/bergmannsheil/patho
Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
31. Dezember 2000 (online)
Einleitung
Obwohl Lungenkrebserkrankungen bei beruflich Quarzstaub-Exponierten als eigene Berufskrankheit in der gültigen Berufskrankheiten-Verordnung nicht existieren, wurden beim Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften in der Zeit von 1978 - 1997 insgesamt 255 Verfahren als „Lungenkrebs in Verbindung mit Silikose” über die BK-Ziffer 4101 bzw. 4102 als Berufskrankheiten registriert. Nach der Häufigkeitsstatistik handelt es sich somit um die dritthäufigste beruflich assoziierte Lungenkrebserkrankung nach den asbestassoziierten bösartigen Lungentumoren und Lungentumoren als Folge vergleichsweise erhöhter beruflicher Expositionen gegenüber ionisierenden Strahlen als Folge der Tätigkeit im Uranerzbergbau der WISMUT.
Diese Daten zeigen eindeutig, dass das hier zur Diskussion stehende Thema nicht neu ist. Besonders im Fachgebiet der Pathologie gibt es umfangreiche Arbeiten und Übersichten zur Frage der kausalen und formalen Pathogenese von Lungentumoren in Assoziation mit dem großen Spektrum der als Pneumokoniosen zusammengefaßten staubbedingten Lungenerkrankungen [[15], [18], [24], [25]].
Drei für das Thema bedeutsame Fragestellungen berühren das Fachgebiet der Pathologie:
-
Gibt es für quarzassoziierte Lungentumoren ein spezifisches morphologisches Substrat?
-
Welchen Beitrag zur Hypothese quarzinduzierter Lungentumoren liefern experimentelle Befunde?
-
Worauf basiert Rang 3 (n = 255) für quarzassoziierte „bronchogene Tumoren” in der Gruppe von 7529 „beruflich verursachten” Krebserkrankungen bei den von 1978 - 1997 als Berufskrankheiten anerkannten Tumoren des broncho-pulmonalen Systems?
Pathologisch-anatomische Befunde bei Lungentumoren und Staublungenerkrankungen
In umfangreichen Untersuchungen über viele Jahre im Institut für Pathologie an den Kliniken Bergmannsheil wurden Befunde an bösartigen Lungentumoren in Verbindung mit pneumokoniotischen Lungenveränderungen, teils unter dem Bild sogenannter „silikotischer Narbenkarzinome” mit broncho-pulmonalen Tumoren ohne nennenswerte Pneumokoniosen verglichen. Die Auswertungen haben ergeben, dass es bezüglich der röntgenologisch und makroskopisch fassbaren Lokalisationen (Topographie) keine signifikanten Unterschiede gibt (Abb. [1]).
Zwar sind größere silikotische Schwielen und bösartige Tumoren bei ehemaligen Bergleuten bevorzugt in den Lungenobergeschossen entwickelt, dies trifft aber auch für die bösartigen bronchopulmonalen Neoplasien ohne erhöhte, meist beruflich bedingte chronische Staubbelastung der Lunge zu [[1], [9], [15], [18], [24] [25] [26] [27]].
Auch die Auswertung mikroskopischer Tumorbefunde nach den führenden Wachstumsmustern entsprechend den Vorgaben der WHO-Klassifikation - revidierte Fassung von 1999 [[28]] - hat keine reproduzierbaren Befunde bezüglich einer sicheren kausalen Verknüpfung zwischen pulmonalen Quarz- bzw. Mischstaub-Inkorporation und bestimmten histomorphologischen Wachstumsmustern bösartiger Lungentumoren ergeben. Es werden als führende histologische Wachstumsmuster sowohl plattenepithelial und drüsig als auch kleinzellig differenzierte Tumoren diagnostiziert.
Problematisch im Einzelfall ist - besonders auch unter versicherungsmedizinischen Gesichtspunkten - die Bewertung charakteristischer sekundärer Tumorvernarbungen mit Staubinkorporationen bei meist peripher in den Lungen lokalisierten Adenokarzinomen [[6]].
In diesem Zusammenhang ist auszuführen, dass nach neuen molekularbiologischen Befunden die Einteilung bösartiger Lungentumoren nach histologischen und zytologischen Befunden nur noch als sehr grober Parameter zur Beschreibung der Tumorbiologie zu werten ist. Mit dem Verfahren der comparativen genomischen Hybridisierung (CGH) lassen sich fast individuell unterschiedliche genetische Anomalien in bösartigen Tumoren der Lunge aufzeigen. Innerhalb desselben Tumors eines Patienten sind bei lichtmikroskopisch herdförmig unterschiedlichen Strukturen variable genetische Defekte bei gezielter Untersuchung verschiedener Regionen aufzuzeigen (Abb. [2]).
Die gerade für bösartige Lungentumoren ungewöhnlich große Heterogenität lässt sich heute zunehmend besser fassen, wenn neue Methoden zur Charakterisierung gestörter interzellulärer Kontakte, variabler Muster der Stromakomponenten und Neovaskularisation, unterschiedliche immunologische Phänomene sowie der komplexe Bereich der Metastasierung berücksichtigt werden [[23]] (Abb. [3]).
Nach allen zu diesen Fragen der Tumorbiologie vorliegenden Ergebnissen der letzten Jahre gibt es keinen spezifischen Befund, der als Beweis für eine quarzbedingte Tumorentwicklung beim Menschen eingesetzt werden könnte.
#Morphologie und Ursachenspektrum
Nach unseren heutigen Kenntnissen vollzieht sich die Entwicklung eines bösartigen Tumors über Latenzphasen bis zu mehreren Jahren [[10]].
Der genaue Zeitpunkt der primären Tumorrealisation, vielfach im Bereich von Krebsvorstadien (Präneoplasien), lässt sich retrograd in der Regel nicht genauso festlegen. Deshalb ist auch eine zeitliche konkrete Zuordnung krebsauslösender Noxen zur Tumorentstehung nicht möglich.
Weiterhin ist bei Fragen der kausalen Verknüpfung von experimentell belegten krebsauslösenden Substanzen für Lungentumoren nachdrücklich hervorzuheben, dass im Regelfall ein vielfältiges Spektrum kanzerogener Substanzen als kombinierte - teils auch summierend oder potenzierend - wirksame Faktoren diskutiert werden müssen. Hauptursache der Lungenkrebsentwicklung ist und bleibt das chronische Zigarettenrauchen. 85 % der „Silikotiker” mit Lungenkrebs sind oder waren starke Raucher [[13], [29]].
Zusammenfassend ist weder nach den Befunden der makroskopischen und mikroskopischen Morphologie noch nach den jüngsten Ergebnissen durch Einsatz z. B. immunhistochemischer oder molekularbiologischer Untersuchungsverfahren ein spezifisches Merkmalspektrum aufzuzeigen, das eine sichere kausale Verknüpfung zwischen erhöhter chronischer Quarz-Inkorporation in den Lungen und der Entwicklung bösartiger bronchopulmonaler Tumoren unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten des Fachgebietes der Pathologie reproduzierbar ermöglicht oder gar mit Sicherheit ableiten läßt [[23]].
#Beitrag experimenteller Befunde zur Hypothese der quarz-induzierten Entwicklung von Lungentumoren
Der Nestor deutscher Pneumopathologen bis vor 30 Jahren, Herr Prof. Dr. Willi Giese, führte in einem Übersichtsartikel der „Klinischen Wochenschrift” mit dem Thema Silizium, Silikate, Silikose am 8. Juni 1940 u. a. aus:
„Wenn man neuere Veröffentlichungen über Silikose liest, dann muß man den Eindruck gewinnen, als ob das Problem der Wirkungsweise eines fibroseerzeugenden Staubes bereits völlig geklärt wäre” [[12]].
Die letzten 50 Jahre haben auch dem Fachgebiet der Pathologie eine Fülle neuer Methoden an die Hand gegeben, die wesentlich zur Erweiterung unserer Kenntnisse über sehr komplexe Reaktionsmuster der Lungen auf inhalierte Fremdsubstanzen geführt haben.
Bezüglich der zahlreichen, kaum mehr überschaubaren Ergebnisse wird auf die Übersichtsarbeiten von Davis und Gemsa [[2]], Donaldson und Borm [[4]], Gibbs und Wagner [[11]], Goldsmith et al. [[13], [14]], Mossman und Churg [[22]], Finkelstein [[5]] und Könn et al. [[18]] verwiesen.
Die aus zahlreichen Arbeiten und tierexperimentellen Studien abzuleitenden wesentlichen pathologisch-anatomischen Befunde zur kausalen und formalen Pathogenese lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:
-
Überlastung der physiologischen Lungen-Clearance durch partikuläre Fremdsubstanzen.
-
Abhängigkeit der Formen und Grade der Reaktionsmuster von Art und Zusammensetzung - Größe, Form, Biobeständigkeit - der Staubpartikel (Abb. [4]).
-
Entzündungsreaktionen mit erheblicher Aktivierung, Vermehrung und Zerstörung von Zellen des Monozyten-Makrophagensystems und Zellzerstörung. Freisetzung einer großen, bis heute sicher noch nicht vollständig bekannten Palette von Entzündungsmediatoren und Faktoren (z. B. TNFα, Interleukine, PDGF etc.). Beteiligung des Immunsystems über eine Aktivierung des lymphatischen Zellsystems. Aktivierung der Mesenchymzellen mit Faserentwicklung und progredienter Fibrose (Abb. [5])
-
Bei quarzreichen Staubinkorporationen Entwicklung relativ charakteristischer hyalinschwieliger Granulome mit Konfluenz zu schwieligen Vernarbungen.
-
Sekundäre Nekrosen, Verkalkungen, Verknöcherungen und atypische Vaskularisationsmuster im Bereich von Schwielen der Lungen, Pleura und Lymphknoten.
Chronisch progrediente Prozesse der Pneumokoniosen sind entscheidend von der variablen Zusammensetzung inhalierter Stäube abhängig. Quarzkristalle sind für Makrophagen zytotoxisch. Aus untergehenden Makrophagen werden primär phagozytierte, nicht abbaubare Fremdkörper erneut freigesetzt und unterhalten über einen „Recycling-Prozess” einen Circulus vitiosus der entzündlichen Reaktion mit Makrophagenaktivierung und Mediatorfreisetzung, die bei unzureichender Elimination der Staubpartikel bis zur Fibrosierung führen kann [[2]].
Die in Präparaten ehemaliger Bergleute für uns täglich nachvollziehbaren Befunde der „Staublungenveränderungen” sind bei demselben Patienten innerhalb der Lungen bezüglich Aktualität, Ausmaß und Aktivität durchaus variabel entwickelt (Abb. [6]).
Makrophagen, Entzündungszellen und Bindegewebszellen gehören nicht zu den Stamm- oder Vorläuferzellen bösartiger Lungentumoren. Nach dem derzeit gültigen Konzept vollzieht sich die Tumorrealisation über mehrere Schritte mit der Entwicklung variabler genetischer Anomalien im Bereich von Stamm- oder Reservezellen von Epithelzellen. Dies gilt für das Konzept der Histogenese von Plattenepithel- und Adenokarzinomen der Lungen und muß auch für die Tumoren der heute als neuroendokrine Karzinome (in der Lunge besonders das kleinzellige und großzellige neuroendokrine Karzinom) zusammengefaßten Lungentumoren abgeleitet werden.
Beim Menschen sind in Tumorzellen keine gespeicherten Fremdsubstanzen, also bei „Silikotikern” auch kein Quarz licht- und elektronenmikroskopisch nachweisbar. Quarz als „direktes” Kanzerogen kann aus umfangreichen morphologischen Befunden beim Menschen nicht wissenschaftlich begründet abgeleitet werden.
Wie bei nahezu allen anderen, als Kanzerogene für die Entwicklung von bösaratigen Lungentumoren geführten Noxen kann aus den Befunden aber der Weg zur Tumorrealisation grundsätzlich auch für Quarz über einen chronischen Entzündungsprozess mit Mediatorfreisetzung aus Entzündungszellen und daraus abzuleitender Schädigung der genetischen Informationen bis zur unkontrollierten autonomen Tumorzelle diskutiert werden.
#Tierexperimentelle Befunde
Die Ergebnisse über die Induktion bösartiger Lungentumoren nach Inhalation oder Instillation von Quarz in das tracheo-bronchiale System von Laboratoriumstieren sind teilweise widersprüchlich und speziesabhängig. So können bei Ratten und ausgewählten Mäusestämmen Tumoren induziert werden, während dies bei Hamstern und Mäusen anderer Stämme nicht gelingt.
Die vorwiegend mikroskopisch, immunhistochemisch, elektronenoptisch und morphometrisch zu erhebenden Befunde zur formalen Pathogenese quarzinduzierter Reaktionsmuster sind den Bildern beim Menschen durchaus vergleichbar. Gut korrelieren entzündliche Fremdkörperreaktionen, Makrophagenaktivierung und Zytokin-Expression. Die Entwicklung von Lungentumoren nach Quarz-Exposition bei verschiedenen Tier-Spezies ist aber nicht oder nur sehr bedingt auf die Humanpathologie übertragbar [[8]].
Die häufigen histologischen Tumorformen beim Menschen, wie Plattenepithelkarzinome und kleinzellige Karzinome sind im Tierexperiment i. d. R. nicht nachvollziehbar. Allein bei den histogenetischen Ableitungen für die Realisation humaner Adenokarzinome sind bedingt mögliche Ähnlichkeiten aufzuzeigen (Lit.-Übersicht s. [[7]]).
In diesem Zusammenhang muß darauf hingewiesen werden, dass auch nach Tierversuchen etwa 80 % des in den Lungen verabreichten „initialen” Quarzes nicht in der Lunge verbleibt. Über das bronchiale Reinigungssystem und die Lymphdrainage erfolgt auch bei Tierexperimenten eine erhebliche Schadstoff-Elimination. Nur etwa 20 % verbleiben im Lungengewebe.
Bezüglich der Bewertung der toxischen Potenz von kristallinem Quarz - abgeleitet aus der besonderen Oberflächenchemie - dürfen Umhüllungen der partikulären Fremdkörper mit Schleimsubstanzen und alveolären Surfactant nicht unberücksichtigt bleiben [[2]].
#Silikose und Krebs
Die Diskussion zu kausal-pathogenetischen Verknüpfungen zwischen quarzinduzierten Pneumokoniosen (= Silikosen) und der Entwicklung bösartiger Lungentumoren ist bei weitem nicht neu. Die diesbezüglichen Arbeiten im pathogenetisch-anatomischen Schrifttum sind in Handbuchbeiträgen von Könn et al. zusammenfassend referiert worden [[18]].
Neu belebt wird das Thema durch die 1997 erfolgte Empfehlung der International Agency for Research on Cancer (IARC) und der Weltgesundheitsorganisation (WHO): „kristalline Silikate nach Inhalation in Form von Quarz oder Kristobalit bei beruflichen Ursachen als kanzerogen für Menschen (Gruppe 1) zu bewerten” (Der Stoff ist krebserregend. Die Expositionsumstände führen zu einer Exposition, die für den Menschen krebserregend ist.) Amorphes Silizium wird als nicht kanzerogen für Menschen klassifiziert (Gruppe 3; Der Stoff ist in Bezug auf seine krebserzeugende Wirkung beim Menschen nicht klassifizierbar) [[16]].
Folgende Kriterien haben unter Berücksichtigung - durchaus auch widersprüchlicher - experimenteller und epidemiologisch erhobener Befunde zu dieser Bewertung der internationalen Arbeitsgruppe zur Evaluierung kanzerogener Risiken beim Menschen geführt.
Bei der Einordnung von kristallinen Silikaten bei der Gruppe 1 unter den kanzerogenen Schadstoffen für Menschen wurden u. a. berücksichtigt:
-
Es liegen „ausreichend” Beweise beim Menschen für die Kanzerogenität von inhalierten kristallinen Silikaten in Form von Quarz und Kristobalit bei beruflichen Ursachen vor.
-
Tierexperimentell gibt es „ausreichende” Hinweise für eine Kanzerogenität von Quarz und Kristobalit.
-
Es gibt nur ungenügende Beweise für eine Kanzerogenität von amorphem Silizium und synthetischen anorganischen Silikaten beim Menschen.
Zusammenfassend betont aber die Arbeitsgruppe der IARC, dass eine Kanzerogentität von Quarz nicht unter allen industriellen Umständen beobachtet wurde. Die Kanzerogenität kann abhängig sein von relativ spezifischen Charakteristika der kristallinen Silikate oder von externen Faktoren, die zur Beeinflussung seiner biologischen Aktivität oder Verteilung seiner variablen Struktur führen [[16]].
Relevant für die in Deutschland überwiegende Gruppe staub-exponierter Personen im Kohlenbergbau des Ruhrgebietes wird von der Expertengruppe der IARC ausdrücklich hervorgehoben, dass
„keine ausreichenden Beweise für eine Kanzerogenität von Kohlenstaub beim Menschen und keine diesbezüglichen Beweise in Tierexperimenten vorliegen”.
Kohlenstaub wird also nicht als kanzerogen beim Menschen in die Gruppe 3 eingeordnet (der Stoff ist in Bezug auf seine krebserzeugende Wirkung beim Menschen nicht klassifizierbar). Aus epidemiologischen oder tierexperimentellen Untersuchungen ergeben sich danach keine adäquaten Hinweise auf eine krebserzeugende Wirkung beim Menschen.
Bislang gibt es keine übereinstimmenden Untersuchungsergebnisse über eine Assoziation von Stäuben aus Kohlengruben und bösartigen Tumoren. Es sind keine Beziehungen zwischen Expositionszeiten, röntgenographischen Befunden und möglichen Brückenbefunden abzuleiten.
Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist eine deutliche Reduktion der in vitro meßbaren Zytotoxizität von Quarz bei Anwesenheit von Kohlenstaub [[16]].
Von der Senatskommission zur Prüfung gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe der Deutschen Forschungsgemeinschaft wurde kristallines Siliziumdioxid (Quarz, Cristobalit, Tridymit) 1999 in der MAK-Liste erstmals in die Kategorie 1 der krebserregenden Arbeitsstoffe eingeordnet. Die Kategorie 1 umfasst Stoffe, die beim Menschen Krebs erzeugen und bei denen davon auszugeben ist, dass sie einen nennenswerten Beitrag zum Krebsrisiko leisten. Epidemiologische Untersuchungen geben hinreichende Anhaltspunkte für einen Zusammenhang zwischen einer Exposition beim Menschen und dem Auftreten von Krebs. Andernfalls können epidemiologische Daten durch Informationen zum Wirkungsmechanismus beim Menschen gestützt werden [[3]].
Bezüglich neuer epidemiologischer Befunde zum Lungenkrebsrisiko durch berufliche Staubexposition wird auf die umfangreiche Übersicht von Jöckel et al. verwiesen [[17]]. Besonders unter Berücksichtigung der Arbeiten von Morfeld et al. [[19] [20] [21]] wird bei der Auswertung der Ergebnisse von Kohorten- und Fall-Kontrollstudien - mit einer Diskussion um Selektionseffekte 1998 von den Autoren wörtlich ausgeführt: „Insgesamt sind die vorliegenden Daten vereinbar mit der Hypothese eines erhöhten Lungenkrebsrisikos von quarzstaubexponierten Beschäftigten”.
#Fazit aus der täglichen Praxis
Die Knüpfung von Kausalketten zwischen „Quarz und Krebs” ist unter versicherungsmedizinischen Aspekten bisher nur über die Hilfshypothese des Begriffes eines sog. „silikotischen Narbenkarzinoms” möglich. Hierzu ist unter Berücksichtigung der aktuellen wissenschaftlich fundierten Untersuchungsergebnissen im Fachgebiet der Pathologie auszuführen:
-
Nach unserem heutigen Kenntnisstand zur Tumorrealisation ist der Begriff „silikotisches Narbenkarzinom” grundsätzlich als falsch bzw. obsolet aus der medizinischen Terminologie zu streichen. Aus einer quarzbedingten hyalinschwieligen Narbe oder einer Mischstaubschwiele mit z. B. zentraler Nekrose, Erweichungen und Verkalkungen kann sich nach unseren heutigen Kenntnissen und nach wissenschaftlich akzeptierten Befunden der Grundlagenfächer ein bösartiger Tumor nicht entwickeln. Die für eine Tumorrealisation notwendigen Strukturen von bronchialen oder alveolären Epithelzellen sind in derartigen vielfältig regressiv veränderten Lungennarben nicht vorhanden. Ein Beleg für die gesicherte Tumorentwicklung aus einer silikosebedingten Narbe ist zu keinem Zeitpunkt erbracht worden.
-
Die Hilfshypothese der Bewertung einer vorbestehenden Pneumokoniose im Sinne einer wesentlichen Teilursache bei der Entwicklung eines bösartigen Lungentumors kann nur über eine enge räumliche Beziehung zwischen Tumorentwicklung aus noch vitalem teilungsfähigen broncho-pulmonalen Gewebe und eindeutigen silikosebedingten Granulomen bzw. Narben in Lungengewebe und parabronchialen Lymphknoten abgeleitet werden. Es ist aber auch zu dieser Hypothese bis heute nicht gelungen, pathologisch-anatomisch reproduzierbare Befunde von regelrechten anatomischen Befunden über z. B. Präneoplasien im Bereich von silikotischen Granulomen oder Narben bis zur Krebsrealisation aufzuzeigen.
-
Die Festlegung einer sicheren räumlichen Beziehung von vorbestehenden silikotischen Herden und dem Ort der Tumorentwicklung muß in vielen Fällen spekulativ bleiben, da zum Zeitpunkt der Tumordiagnose in Operations- und Obduktionsgut der primäre Ausgangspunkt des Tumors auch pathologisch nicht mehr sicher zu bestimmen ist.
-
Indirekte kausale Verknüpfungen zwischen Lungenkrebserkrankungen und vorbestehenden Pneumokoniosen unter dem Aspekt versicherungsmedizinisch relevanter Fragestellungen ergeben sich heute nicht selten über folgende Gesichtspunkte: Durch vorbestehende silikotische narbige Lungenveränderungen kann das Tumorleiden nur mit zeitlicher Verzögerung diagnostiziert und eine vergleichsweise frühzeitige Therapie verzögert werden, oder die Folgen einer vorbestehenden Pneumokoniose beeinflussen Behandlungsmaßnahmen wie z. B. eine Operation, den postoperativen Krankheitsverlauf oder die Möglichkeit zur Durchführung einer intensiven Tumortherapie.
Diese und andere Gesichtspunkte gehen bei der pauschalen Erfassung von sog. „silikotischen Lungenkrebserkrankungen” als dritthäufigste berufsbedingte Lungenkrebserkrankung als „statistische Werte” ein. Diese Zahl ist aber keineswegs ein wissenschaftlich relevanter Befund zur Stützung der Hypothese einer generell erhöhten Kanzerogenität von Quarz, besonders auch im Vergleich zu zahlreichen anderen wesentlich besser dokumentierten Krebsnoxen.
#Zusammenfassung
Aus dem Fachgebiet der Pathologie und unter Berücksichtigung eines umfangreichen Obduktionsgutes verstorbener ehemaliger Bergleute sind folgende Gesichtspunkte von Bedeutung:
Für die Diskussion gestellte, quarzassoziiert entstandene Lungenkrebserkrankungen gibt es kein makroskopisches, mikroskopisches, elektronenmikroskopisches oder molekularbiologisch fassbares spezifisches Bild.
Experimentelle Befunde über die quarzassoziierte pulmonale Neubildungen sind speziesabhängig induzierbar. Die histologischen und zytologischen Wachstumsmuster der Tumoren aus Tierexperimenten sind den häufigsten nach histologisch-phänotypischen Gesichtspunkten einzuteilenden bösartigen Neubildungen beim Menschen mit und ohne Quarzstaublungenerkrankungen nicht vergleichbar.
Eine Kausalkette zwischen epidemiologisch-statistisch gesicherten, vergleichsweise deutlich erhöhten Expositionen gegenüber Quarz und bösartigen Neubildungen des bronchopulmonalen Systems sind nur über die Hilfshypothese der wahrscheinlichen Tumorentwicklung im Bereich vorbestehender hyalinschwieliger silikoseinduzierter Lungen- oder Lymphknotennarben möglich.
Bei der relativ hohen Zahl von zusammenfassend ausgewiesenen und in den Jahren von 1978 - 1997 als Berufskrankheiten entschädigten sog. „silikotischen Narbenkarzinomen” gehen auch Gesichtspunkte unter versicherungsmedizinischen Aspekten ein, die zur Stützung der Hypothese quarz-induzierter bronchopulmonaler Erkrankungen beim Menschen unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten nicht herangezogen werden können.
Die weiterhin kontrovers geführte Diskussion zur Hypothese eines erhöhten Lungenkrebsrisikos nach vergleichsweise hohen Expositionen gegenüber quarzhaltigen Stäuben - nicht Mischstaubexpositionen bei ehemaligen Bergleuten des Ruhrgebietes - läßt sich zur Zeit allein durch - wenn auch widersprüchliche - epidemiologische Daten zur Risikoerhöhung stützen.
#Literatur
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- 17 Jöckel K H, Brüske-Hohlfeld I, Wichmann H-E. Lungenkrebsrisiko durch berufliche Exposition. Landsberg; Ecomed 1998
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- 25 Müller K-M, Riepert Th. Tumorausbreitung in Lungen mit vorbestehender Anthrako-Silikose. Atemw Lungenkrkh. 1985; 11 247-250
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- 29 Wiethege Th, Müller K-M. Rauchen, Radon, Asbest und Quarz - Morphologie der Kombinationseffekte am Arbeitsplatz. Atemw Lungenkrkh. 1999; 25 309-314
1 Nach einem Vortrag im Rahmen des Arbeitsmedizinischen Kolloquiums Kanzerogenität von Quarz - eine Standortbestimmung in der Klinik für Berufskrankheiten der Berufsgenossenschaft der keramischen und Glasindustrie, Bad Reichenhall, 1999
Prof. Dr. K.-M. Müller
Direktor des Instituts für Pathologie an den Berufsgenossenschaftlichen Kliniken Bergmannsheil Klinik der Ruhr-Universität Bochum
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D-44789 Bochum
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Literatur
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15 Hartung W.
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- 17 Jöckel K H, Brüske-Hohlfeld I, Wichmann H-E. Lungenkrebsrisiko durch berufliche Exposition. Landsberg; Ecomed 1998
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18 Könn G, Schejbal V, Oellig W-P.
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19 Morfeld P, Lampert K, Ziegler H, Stegmaier C, Dhom G, Piekarski C.
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1 Nach einem Vortrag im Rahmen des Arbeitsmedizinischen Kolloquiums Kanzerogenität von Quarz - eine Standortbestimmung in der Klinik für Berufskrankheiten der Berufsgenossenschaft der keramischen und Glasindustrie, Bad Reichenhall, 1999
Prof. Dr. K.-M. Müller
Direktor des Instituts für Pathologie an den Berufsgenossenschaftlichen Kliniken Bergmannsheil Klinik der Ruhr-Universität Bochum
Bürkle-de-la-Camp-Platz 1
D-44789 Bochum
eMail: patho-bhl@ruhr-uni-bochum.de
URL: http://www.ruhr-uni-bochum.de/bergmannsheil/patho