Dtsch Med Wochenschr 2001; 126(10): 285-286
DOI: 10.1055/s-2001-11741
Leserbriefe
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Evidence-biased Medicine - oder: Die trügerische Sicherheit der Evidenz

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Publication Date:
28 April 2004 (online)

Zuschrift Nr. 1

Zum Beitrag von Rogler und Schölmerich [2] im Sonderheft »Medizinisches Publizieren« möchte ich einen anderen Blickwinkel anbieten. Meine Prämissen sind konstruktivistische und gehen nicht von allgemeinen Idealen aus. In meiner Hypothese spielt Wahrheit, richtig und falsch keine absolute Rolle, sondern sind konstruierte bzw. verhandelte Definitionen.

Die Haupthypothese ist die folgende Annahme: Bei allem, was passiert, sind wir nur Beobachter. Hier, denke ich, scheiden sich die Geister. Wenn man davon ausgeht, dass der Beobachter neutral sein kann, kommt man zu dem Schluss von Rogler und Schölmerich [2]. Nun wird diese Position heute vielfach in Frage gestellt. Vor allem die Konstruktivisten (z. B. Watzlawick, v. Förster) gehen davon aus, dass wir wirklich immer Teil des beobachteten Systems sind. Damit ist es ausgeschlossen, dass wir alles sehen, und: Selbst wenn wir alles sehen, können wir dies nicht wissen. Damit geht es allerdings nicht mehr darum, ob es Wahrheit überhaupt gibt, sondern ob, wenn es sie gibt, wir diese erkennen können. Aus konstruktivistischer Sicht ist die Antwort natürlich nein. Daraus ergibt sich eine zweite Prämisse: Wenn Wahrheit nicht erkennbar ist, dann ist es auch ausgeschlossen, sich daran anzunähern. Ich behaupte daher, dass unsere Welt funktioniert, obwohl wir die Wahrheit nicht erkennen können. Meine Hypothese ist: Sie besteht nur aus Kommunikation. Was nicht kommuniziert wird, existiert nicht.

Seit Menschengedenken wird der Wahrheit nachgejagt unter der Annahme, dass wenn wir sie haben, unser Dasein besser sei. Auch dies ist natürlich ein Konstrukt und nicht beweisbar. Mein Credo ist: Werfen wir die Wahrheit als Absolutes weg! Suchen wir unsere optimale Wirklichkeit auszuverhandeln und dadurch unser Dasein zu verbessern!

Auch innerhalb unseres schulmedizinischen Systems haben wir uns Wahrheiten geschaffen, z. B Normwerte für Laborparameter. Das Wesen dieser Medizin ist aber, dass wir beim klinischen Agieren nicht Einzelpersonen behandeln, sondern nach Wahrscheinlichkeiten vorgehen. Daher glauben wir ja auch keinen Studien, bei denen eine 100 %-ige Erfolgsrate besteht. Aus meiner Sicht ist es ein ungeheurer Fortschritt, dass wir realiter aufgehört haben, fachlich (nicht menschlich) Einzelkrankheiten zu behandeln. Dadurch wäre der Patient jeder Willkür des Behandlers ausgesetzt. Stattdessen arbeiten wir mit Diagnosehypothesen und können aufgrund großen angesammelten Wissens Wahrscheinlichkeiten für den Erfolg einer Therapie angeben. Wir haben damit das alte Ursache-Wirkungs-Prinzip gedanklich verlassen.

Nichts anderes bietet aus meiner Sicht die EbM an. Sie hat Kriterien entwickelt (die weder richtig noch falsch sind), die sich derzeit als brauchbar herausgestellt haben und anhand derer Wahrscheinlichkeiten abgeleitet werden können. Wir haben als Hauptkriterien heute z. B. die Verlängerung der Überlebenszeit oder die Wiederaufnahme im Spital ausgemacht. Und natürlich sterben trotzdem Patienten am Herzinfarkt, weil wir das Einzelschicksal nicht voraussagen können.

Und dann ist da das Verhältnis Patient-Arzt, das vielen Faktoren unterliegt. Wer kennt nicht die Situation, dass Patienten ihre zentrale Krankheit negieren und dem Arzt ein anderes Problem präsentieren, das sie möglicherweise derzeit mehr stört oder das sie »produzieren«, um ihre bösartige Erkrankung verdrängen zu können. Der Arzt bekommt bei der Anamnese etwas präsentiert aus dem Blickwinkel des Patienten. Er ist ein Beobachter 2. Grades. (Wie im Fernsehen: Wenn ich eine Kriegsberichterstattung sehe, weiß ich dann etwas über den Krieg oder darüber, wie der Reporter ihn sieht?). Umgekehrt ist der Patient Beobachter 2. Grades, wenn ihn der Arzt über seine Krankheit aufklärt. Redet er über mich oder meine Krankheit, und was hat das mit mir zu tun? Eine Krankheit wird von jedem Patienten verschieden erlebt. Das Problem der Subjektivität ist nicht lösbar und braucht wahrscheinlich nicht gelöst werden, da es, sollte es Objektivität geben, diese nicht erkennbar ist. Poppers Behauptungen sind daher auch nur innerhalb seines Konstruktes relevant.

Zum Evidenzbegriff ist noch zu bemerken, dass nach dem Etymologischen Wörterbuch von Kluge (1) Evidenz nicht nur als Gewissheit, sondern auch als Deutlichkeit beschrieben wird, ein viel relativerer Begriff. Möglichst viel Wissen soll zusammengeführt werden, um die Wahrscheinlichkeit, dem Patienten zu helfen, zu erhöhen. Das schließt übrigens die Erfahrung des einzelnen Arztes ein. Nicht mehr ist EbM, aber auch nicht weniger. Wir müssen uns nicht mehr nur auf Einzelfallbeschreibungen verlassen.

Leitlinien sind nicht geeignet, allgemeingültige Aussagen zu treffen, sonst gäbe es nicht so viele. An Leitlinien kann man nur glauben, wenn man an ein allgemein gültiges »Richtig«, an Wahrheit glaubt. Hier muss auch mit der Phantasie aufgeräumt werden, dass wir in der Lage wären zu definieren, welche diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten von vornherein noch akzeptierbar sind. Aufgrund der EbM können wir nun Wissen zusammentragen und dann nachschauen, inwiefern dieser konstruierte Standard auch auf den Einzelpatienten anwendbar ist. Nach Wahrscheinlichkeit ist es z. B. am besten, dem Herzinsuffizienzpatienten die höchstmögliche Dosis ACE-Hemmer und ß-Blocker zu verabreichen. Die Evidence sagt, dass damit im Kollektiv die größte Erhöhung der Überlebensrate und die geringste Wiederaufnahmerate im Spital zu erzielen ist. Dass viele Patienten dies nicht aushalten, steht auf einem anderen Blatt. Die ärztliche Kunst besteht darin, die Evidenz auf den Einzelpatienten anzuwenden und zu optimieren. Was nicht mehr geht, ist, die Medikamente aus fachlichen Gründen abzulehnen. Das kann EbM leisten: Sie gibt mir als Arzt etwas in die Hand für meine Handlungen. Ich glaube, mehr Anspruch hat sie nicht. Ich sehe auch nicht, welches andere System derzeit vorhanden wäre, um unsere Entscheidungen für Diagnose, Therapie, aber auch für die Vergabe von Forschungsgeldern zu unterstützen.

Mir hilft gerade das Konzept der EbM, eingefahrene Gleise wieder verlassen zu können. Sie fordert eigentlich nur, dass man Studien macht (möglichst doppelblind randomisiert) und die eigene Hypothese hinterfragt. Wenn Gutachter meine Ideen ablehnen, hat das nichts mit EbM zu tun, sondern nur mit dem Gutachter, der nicht flexibel genug ist, sich meiner progressiven Idee anzuschließen. Dadurch, dass sie nicht von einem Ideal gesteuert ist, keine Objektivität vorspielt, sondern subjektive Kriterien zulässt, die durch Verhandlung wieder geändert werden können, lässt sie naturgemäß auch Neuerungen zu, was ja im alten (Eminenz-)System oft viel schwieriger war.

Literatur

  • 1 Kluge  F . Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 22. Aufl. W. de Gruyter, Berlin. 1989
  • 2 Rogler G, Schölmerich J. »Evidence-biased Medicine« - oder: Die trügerische Sicherheit der Evidenz.  Dtsch Med Wschr. 2000;  125 1122-1128

Prof. Dr. Prim. Univ. Kaspar Sertl

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