Dtsch Med Wochenschr 2001; 126(14): 414
DOI: 10.1055/s-2001-12649
Fragen aus der Praxis
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© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Schadenersatz bei diagnostischem Fehler

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Publication Date:
31 December 2001 (online)

Frage: Ein Patient hat mich gefragt, ob er in seinem Fall den untersuchenden Urologen wegen Schmerzengeldes beanspruchen könnte.

Der Fall: Der Patient sucht wegen Schmerzen in der rechten Leiste seinen Hausarzt auf, der ihn umgehend einem Arzt für Urologie zuweist. Dieser untersucht den Patienten klinisch und mittels Doppler-Ultraschall und schließt daraufhin die durchaus in Erwägung gezogene Hodentorsion aus; die Behandlung erfolgt medikamentös. Da keine Änderung der Beschwerden eintrat, wurde der Patient der Urologischen Abteilung eines Krankenhauses zugewiesen. Bei der Hodenfreilegung zeigte sich eine fortgeschrittene Hodentorsion rechts mit beginnender Nekrose; der rechte Hoden wurde daraufhin entfernt.

Die angerufene Schlichtungskommission stellte anhand von Gutachten fest, dass ein diagnostischer Fehler vorliege, denn bei Verdacht auf Hodentorsion sei eine Freilegung zur Klärung der Diagnose unbedingt erforderlich. Die Verzögerung der Diagnosestellung gehe zu Lasten des erstuntersuchenden und -behandelnden Urologen.

Aufgrund dieses Bescheids ventiliert der Patient nun eine Schmerzensgeldforderung an den Urologen, da er sich in seiner Lebensqualität beeinträchtigt fühlt und, berechtigt oder nicht, fürchtet, von seinen Altersgenossen, der Patient ist Jahrgang 1979, gehänselt, sogar verlacht zu werden und vor allem von Mädchen und Frauen nicht mehr für voll genommen zu werden.

Gibt es in entsprechenden Fällen bereits Gerichtsurteile, die ich in diesem Fall dem Patienten gegenüber ins Feld führen könnte, unabhängig davon wie entschieden wurde?

Antwort: Patienten, die - wie dieser mit Hodentorsion - wegen vermuteter Behandlungsfehler mit Schadensfolge Haftungsansprüche gegen ihren Arzt stellen wollen, können entweder sich damit direkt an den Arzt und seine Haftpflichtversicherung wenden oder eine Schlichtungsstelle anrufen oder vor Gericht eine Zivilklage anstrengen.

Wir haben in dieser Zeitschrift [1] das Vorgehen bei Schlichtungsverfahren nach der Ordnung der Norddeutschen Schlichtungsstelle, die für neun Ärztekammerbereiche zuständig ist, erläutert. Im Wesentlichen wird dabei geprüft, ob das in Vorwurf geratene ärztliche Handeln medizinisch korrekt, oder ob es vermeidbar (d. h. schuldhaft) fehlerhaft war, und falls Fehler festgestellt werden: ob das fehlerhafte Vorgehen des Arztes Gesundheitsschäden verursacht hat. Die Verfahrensabläufe in den deutschen Schlichtungsstellen und Gutachterkommissionen weisen Unterschiede auf. Unsere Norddeutsche Schlichtungsstelle klärt in ihren Verfahren die Fehlerfrage wie auch ggf. die Kausalität, etliche andere Stellen klären nur die Fehlerfrage, ohne die Kausalitäts-Problematik zu bearbeiten. Alle Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen schließen ihre Verfahren mit einer Empfehlung oder einem gutachtlichen Votum ab, die aber die streitenden Parteien nicht binden [2].

Eine Evaluation unserer Schlichtungsergebnisse 6 Jahre nach Abschluss der Verfahren ergab folgendes: 1097 Verfahren des Jahres 1992 wurden geprüft, in 781 hatten wir die Haftungsansprüche als unbegründet, in 316 (31 %) als begründet bewertet. Unsere Empfehlung »Ansprüche unbegründet« ist von 11 % der betroffenen Patienten nicht akzeptiert worden, knapp die Hälfte (5 %) von ihnen erreichte durch Gerichtsurteil (1 %) oder Vergleich (4 %) eine Entschädigungszahlung. Auf unsere Empfehlung »Ansprüche begründet« folgte in 85 % dieser Fälle die von uns empfohlene Regulierung, ganz überwiegend durch Vergleich, nur in 3 % dieser Fälle durch Gerichtsurteil. 4 % der Betroffenen konnten von der Versicherung des Arztes keine Regulierung erreichen, knapp die Hälfte von ihnen auch vor Gericht nicht. 11 % der Patienten haben ihre Ansprüche - trotz unserer für sie günstigen Empfehlung - nicht weiter verfolgt. Diese Zahlen geben einen Anhalt dafür, welche Endergebnisse Patienten in etwa erwarten können, die ihre Haftungsansprüche in einem Schlichtungsverfahren vertreten. Soweit Statistiken von Gerichtsverfahren vorliegen, muss man annehmen, dass dort die Raten der für den Patienten positiven Entscheidungen geringer sind.

Zu Fehlervorwürfen im Zusammenhang mit Hodentorsionen ist aus unseren Erfahrungen [3] folgendes zu sagen: In den meisten hier bearbeiteten Fällen führten uncharakteristische Leisten-, Unterbauch-, seltener Genitalschmerzen den Patienten zum Hausarzt (oder Bereitschaftsdienstarzt), der Genitalerkrankungen selten, und allenfalls entzündliche, erwog, zunächst konservativ behandelte und erst verspätet den Urologen zuzog. Der vom anfragenden Kollegen genannte Patient ist jedoch von seinem Hausarzt - wie erforderlich - umgehend zum Urologen überwiesen worden, und der Urologe hat die Verzögerung der Hodenfreilegung zu verantworten.

Eine Hodentorsion lässt sich letztlich durch keine diagnostische Methode sicher ausschließen. Nach unseren Erfahrungen aus vielen diesbezüglichen Streitsachen ist daher zu fordern, bei unklaren Inguinal-/Unterbauch-/Skrotal-Beschwerden insbesondere junger Männer an Hodentorsion zu denken und, wenn diese sich nicht ausschließen lässt, die Hodenfreilegung vorzusehen, wegen des knappen Zeitrahmens für die Rettung des Organs: so rasch wie möglich.

Die in der Leseranfrage erwähnte Entscheidung einer Schlichtungskommission, wonach der Urologe in diesem Fall fehlerhaft vorgegangen sei, erscheint uns nach dem Gesagten begründet. Angaben zur Kausalität, d. h. darüber ob und ggfs. welche Gesundheitsschäden ursächlich auf die Verzögerung der Diagnosestellung zurückzuführen sind, fehlen.

Folgende obergerichtlichen Urteile, sämtlich abgedruckt in der Zeitschrift Versicherungsrecht, befassen sich mit der Problematik der Hodentorsion:

OLG Oldenburg; 12.01.1999; 5 U 154/98; VersR 1999, 848

OLG Oldenburg; 28.10.1997; 5 U 191/96; VersR 1999, 1284

OLG München; 23.05.1996; 24 U 616/95; VersR 1997, 831

OLG Oldenburg; 15.03.1994; 5 U 152/93; VersR 1995, 96

Die Urteilsbegründungen verdeutlichen, dass gerade bei Hodentorsionen der (grundsätzlich dem Patienten obliegende) Beweis der Kausalität eines festgestellten Diagnosefehlers für einen Hodenverlust sehr schwer zu führen ist. Wir empfehlen dem ratsuchenden Patienten, sich anwaltlich beraten zu lassen.

Literatur

  • 1 Scheppokat K D. Ärztliche Fehler.  Dtsch Med Wschr. 2000;  125 363-267
  • 2 Neumann G. Ärztliche Fehler (aus der Sicht der Kammerbereiche Baden-Württemberg, Leserbrief).  Dtsch Med Wschr. 2000;  125 1060
  • 3 Lachmund J. Aus der Fallsammlung der Norddeutschen Schlichtungsstelle: Hodentorsion - Probleme bei der Diagnosestellung.  Nieders Ärztebl. 1999;  5 22

Prof. Dr. K. D. Scheppokat
Dr. J. Lachmund
Ärztliche Mitglieder 
Rechtsanwalt J. Neu

Geschäftsführer Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen der norddeutschen Ärztekammern

Berliner Allee 30

30175 Hannover