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DOI: 10.1055/s-2001-14098
Metformin und Anästhesie - wie hoch ist das Risiko einer Laktatazidose?
Publication History
Publication Date:
31 December 2001 (online)
Frage: In den letzten Jahren hat die Substanz Metformin wieder eine zunehmende Bedeutung in der Behandlung des Diabetes mellitus gewonnen. Dies bringt für den Anästhesiologen nicht unerhebliche Probleme, da vor Allgemeinanästhesie nach meinen Informationen eine dreitägige Karenz eingehalten werden soll. Im Rahmen kleinerer Eingriffe wie Abrasiones, Probeexzisionen o.ä. bedeutet dies oft eine unverhältnismäßige Verlängerung des stationären Aufenthaltes, der auch den operativ tätigen Kollegen schwer zu vermitteln ist. Umgekehrt wird praktisch kein Patient eingewiesen, bei dem der vorbehandelnde Arzt das Metformin rechtzeitig abgesetzt hat, da die Anästhesie als Kontraindikation wenig bekannt ist. meine Fragen lauten: 1. Wie hoch ist das tatsächliche Risiko, im Gefolge einer Narkose eine Laktatazidose zu erleiden?
2. Lässt sich das Risiko einer Laktatazidose allen in der Anästhesie verwendeten Medikamenten gleichmäßig zuordnen oder gibt es hier möglicherweise einen Unterschied beispielsweise zwischen einer Inhalationsnarkose und einer TIVA?
Antwort: Diese Frage gibt mir Gelegenheit, einer in der Medizin inzwischen weit verbreiteten Fehlmeinung entgegenzutreten, die nicht nur von einem zum anderen Lehrbuch abgeschrieben, sondern auch von Diabetologen landauf landab mit schulmeisterlicher Selbstgewissheit vertreten wird: Die deutlich erhöhte Rate von Laktatazidosen bei Anwendung des inzwischen nicht mehr im Handel befindlichen Biguanids Phenformin wird in einem Analogschluss auch dem Metformin angelastet. Entsprechend ist auch noch die Liste der Kontraindikationen von Metformin begründet. Im Folgenden will ich in der notwendigen Kürze darlegen, dass Metformin ganz andere pharmakodynamische Eigenschaften besitzt als Phenformin und dass die verfügbaren Daten dafür sprechen, dass die (extrem niedrige) Rate von Laktatazidosen bei Typ-2-Diabetikern mit Metformin-Therapie nicht höher liegt als die von Typ-2-Diabetikern, die nicht mit Metformin behandelt werden.
Die Leber ist quantitativ das wichtigste Organ für Glukoseproduktion und Laktat-Clearance. Im Nüchternzustand wird Pyruvat und damit auch Laktat in die Glukoneogenese eingeschleust. Dieser Prozess läuft teilweise über einen Anstieg der Aktivität des mitochondrialen Enzyms Pyruvat-Carboxylase. Im postprandialen Zustand wird das hepatische Laktat überwiegend durch Oxidation von Pyruvat in Acetyl-Coenzym A entfernt. Die Geschwindigkeit dieser Reaktion wird durch die Aktivität des mitochondrialen Enzymkomplexes Pyruvat-Dehydrogenase gesteuert. Phenformin besitzt eine Reihe von physiko-chemischen und biochemischen Eigenschaften, die dem Metformin nicht zukommen: Es besitzt eine lange lipophile Seitenkette, die eine Bindung an Mitochondrien-Membranen bewirkt und damit das Elektronentransportsystem auf der Ebene der Zellmembran hemmt. Metformin ist weit weniger lipophil und bindet damit auch kaum an die Mitochondrien-Membran; es hemmt nicht die oxidative Phosphorilierung, es beeinflusst weder Laktat-Turnover noch die Oxidation von Laktat.
Metformin wird als unverändertes Molekül in der Niere ausgeschieden, während Phenformin durch die Leber extrahiert und metabolisiert wird. Phenformin hemmt Aufnahme und Oxidation von Laktat in der Leber und steigert die Laktatproduktion im Bereich des Dünndarms. Ursache ist u. a. die Bindung von Phenformin an die Mitochondrienmembran, wodurch der Transport der Redox-Potentiale, wie z.B. NADH, gehemmt wird. Durch diesen Effekt werden die beiden wesentlichen Stoffwechselwege des Laktats, nämlich die Glukoneogenese und die Oxidation, gehemmt. Der glukosesenkende und der laktatstimulierende Effekt von Phenformin ist mit dessen Wirkung auf die Mitochondrien-Funktion verbunden.
Für die Praxis wichtiger sind nun aber die klinischen Daten. Die Häufigkeit von Laktatazidosen unter Metformin-Therapie wurde in mehreren Ländern anhand von großen Bevölkerungsgruppen bestimmt. Diese betrug in Schweden in den Jahren 1987 bis 1991 2,4 Fälle pro 100 000 Personenjahre und in früheren Studien in Frankreich, Schweden und der Schweiz zwischen 1 und 15 Fällen pro 100 000 Personenjahre. Die Gruppe von Brown und Mitarbeitern [1] untersuchte dann aber aus einem immensen Datensatz aus der Vor-Metformin-Ära in den USA, d. h. vor Mai 1995, Typ-2- Diabetiker, die keine Metformin-Therapie bekamen. Aus dem Datensatz von 41.000 Personenjahren fanden sich bei Typ-2-Diabetikern nach sorgfältiger Analyse 4 sichere und 3 weitere fragliche Fälle von Laktatazidose entsprechend einer Rate von 16,9 Fällen pro 100.000 Personenjahren. Es ist sogar anzunehmen, dass es sich hierbei um eine falsch niedrige Zahl handelt, weil ja die Laktatazidose nicht in allen Krankenblättern notiert und durch Laboruntersuchungen verifiziert wird.
Noch viel eindrucksvoller ist die Studie von Lalau und Race [2]. In dieser größten Fallsammlung von Metformin-behandelten Patienten mit Laktatazidose wurden genaue Analysen durchgeführt. Dabei zeigte sich überraschenderweise, dass weder der arterielle Laktatspiegel noch die Höhe der Plasmakonzentration von Metformin mit der Mortalität unter Laktatazidose korrelierten. Vielmehr waren die Todesfälle bei diesen Patienten mit anderen hypoxischen Erkrankungen oder zugrundeliegenden Gesundheitsstörungen verbunden. Zum Beispiel sind über die Hälfte der Patienten mit arteriellen Laktatspiegeln von 4 bis 14 mmol/l verstorben, während alle 4 Fälle mit dem astronomisch hohen Laktatspiegel von über 34 mmol/l überlebt haben. Zur Erklärung dieser zunächst unverständlichen Daten möchte ich an dieser Stelle einige Grundlagen zur Pathophysiologie der Laktatazidose vergegenwärtigen. Die Laktatazidose wird traditionell in einen Typ A und einen Typ B unterteilt. Der Typ A wird durch eine Gewebshypoxie, der Typ B durch eine Überproduktion von Milchsäure und/oder eine gestörte Laktatexkretion im aeroben Zustand verursacht. Im klassischen Sinne ist die Biguanid-induzierte Laktatazidose in den Typ B einzuordnen. Eine Laktatazidose unter Metformin-Therapie wird daher im Analogschluss der Metformin-Therapie angelastet. Es hat sich aber gezeigt, dass eine reine Laktatazidose vom Typ B extrem selten ist und bei Laktatazidose unter Metformin-Therapie fast immer eine lebensbedrohliche Leber-, Nieren- oder Herzerkrankung vorliegt.
Die Analyse der o. g. Serie von Patienten mit Laktatazidose legt nahe, dass nicht das Ausmaß der Laktaterhöhung oder der Metformin-Akkumulation, sondern vielmehr die Schwere der zugrundeliegenden Krankheit die Prognose der Patienten bestimmt. Es scheint sogar so zu sein, dass bei einem bestimmten arteriellen Laktatspiegel eine höhere Plasmakonzentration von Metformin mit einer besseren Prognose verbunden ist. Tatsächlich konnte nachgewiesen werden, dass Metformin bei Patienten mit arteriellen Erkrankungen den peripheren Blutfluss verbessert [3] [4] . In diesem Kontext möchte ich hier auch die Ergebnisse der United Kingdom Prospective Diabetes Study (UKPDS) erwähnen, die bei Typ 2-Diabetikern einen signifikanten Vorteil der Metformin-Therapie gegenüber Insulin und Sulfonylharnstoffen bezüglich der überwiegend kardiovasculär bedingten Komplikationen gezeigt hat.
Konkret gibt es zu den beiden o. g. Leserfragen keine Daten, die eine Gefahr oder Unbedenklichkeit des bisher geübten Vorgehens in der Anaesthesiologie und operativen Medizin bei Metformin-behandelten Diabetikern anzeigen würden. Aus den oben erwähnten und anderen Daten aus der verfügbaren Weltliteratur würde ich aber den Schluss ziehen, dass es außer den nicht erlaubten Analogschlüssen zum Phenformin keine wissenschaftlichen Belege dafür gibt, um die Warnhinweise im Beipackzettel und die umfangreichen in der Sekundär- und Tertiär-Literatur angegeben Caveats zum Mortalitätsrisiko unter Metformintherapie zu rechtfertigen.
Literatur
- 1 Brown J B, Pedula K, Barzilay J. et al . Lactic acidosis rates in type 2 diabetes. Diabetes Care. 1998; 21 1659-1663
- 2 Lalau J -D, Race J -M. Lactic acidosis in metformin-treated patients. Prognostic valus of arterial lactate levels and plasma metformin concentrations. Drug Safety. 1999; 20 377-384
- 3 Montanari G. et al . Treatment with low dose metform in patients with peripheral vascular disease. Pharmacol Res. 1992; 25 63-73
- 4 Sirtori C R. et al . Metformin improves peripheral vascular flow in nonhyperlipid-emic patients with arterial disease. J Cardiovasc Pharmacol. 1984; 6 914-923
Prof. Dr. med. W. A. Scherbaum
Deutsches Diabetes Forschungsinstitut an der
Heinrich-Heine-Universität
Auf’m Hennekamp
65
40225 Düsseldorf
URL: http://www.ddfi.de