Psychotraumatologie 2001; 2(2): 11
DOI: 10.1055/s-2001-15742
Originalarbeit
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Verschlossene Räume - traumatische Gefühle

Die Repräsentation des Traumas in der Kunst, am Beispiel des Frühwerkes des japanischen Malers On KawaraLocked Rooms -Traumatic Feelings:Jochen Peichl
  • Klinik für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin am Klinikum Nürnberg
Weitere Informationen
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Autor:

OA Dr. med. Jochen Peichl

Klinik für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin am Klinikum Nürnberg

Prof.-Nathan-Str. 1

90419 Nürnberg

Telefon: 0911-398-2890

Fax: 0911-398-2861

eMail: peichl@klinikum-nuernberg.de

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
15. August 2001 (online)

 
Inhaltsübersicht #

Zusammenfassung

Der Autor geht der Frage nach, wie sich klinische Zeichen der Traumatisierung im Leben eines Menschen in seinem künstlerischen Schaffen repräsentiert und wie die traumatische Erfahrung im Dialog mit dem Betrachter des Kunstwerkes sich diesem mitteilt. Nach einer Reihe von theoretischen Überlegungen zum Verhältnis von individueller Traumaerfahrung und künstlerischem Ausdruck auf dem Hintergrund eines psychoanalytischen Modells der Traumaverarbeitung, werden die abstrakten Hypothesen am Frühwerk des japanischen Malers On Kawara diskutiert.

An Hand eigener Assoziationen, Literaturzitaten und Kontextinformationen soll gezeigt werden, wie sich das Trauma der Kapitulation 1945 in Japan, der Schrecken der beiden Atombombenabwürfe in Hiroshima und Nagasaki in der 1953 - 54 gemalten Serie „Bathroom” widerspiegelt und durch On Kawara in atemberaubender Verdichtung bezeugt wird.

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Summary:

The author discusses the question of how the clinical symptoms of traumatisation in a man`s life is represented in his creative work and how the traumatic experience is transferred via the dialogue with the viewer of the painting. Subsequent to theoretical considerations regarding the interaction of individual traumatic experiences with creative impulses resulting in expression by works of art, the author discusses abstract hypotheses with regard to the early work of the Japanese painter On Kawara on the basis of a psychoanalytic model of traumatisation.

Using his own associations, quotations in literature and context information, the author shows how the trauma of surrender after the war 1945 in Japan and of the nuclear disasters of Hiroshima and Nagasaki is reflected in the „Bathroom” series of 1953 - 54 and the trauma is expressed by On Kawara in a awesome concentration.

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1. Vom Ursprung der Bilder

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Abbildung 1: On Kawara, Bathroom Blatt 1

On Kawaras Bilder, um die es in diesem Aufsatz gehen soll, sind in der Gestaltauffassung des Expressionismus, genauer im Stile des Surrealismus gemalt. Gosztonyi schreibt über surrealistische Malerei:

„Indem er (der Künstler J.P.) nämlich das Motiv gestaltet, entfremdet er es seiner Wirklichkeit. Das Sujet - die Person, die Landschaft, der Gegenstand - verliert dabei seine naturgemäße sinnliche Erscheinungsweise und erscheint im Bild zwar wiedererkennbar, doch der anschaulichen Wirklichkeit nicht mehr voll entsprechend. Denn bei Expressionismus dominiert in der Gestaltung nicht das sinnliche, sondern das seelische Erlebnis” [1] p. 56).

Dem subjektiven Erlebnis der persönlichen Intuition ausgesetzt, konnten Künstler schon weit vor Ausbruch der Katastrophe des 1.Weltkriegs die in Europa sich anbahnende Bedrohung erspüren und in ihren Werken gestalten. Erwähnt sei hier nur die Nähe der deutschen Expressionisten zur Psychoanalyse Sigmund Freuds und der Philosophie Friedrich Nietzsches, die sich nicht nur in der bildenden Kunst, sondern auch in der Literatur niederschlug. Noch einmal Gosztonyi: „Darum herrschen in den expressionistischen Werken seelische Werte oder innere Zustände vor, wobei im Bild die anschauliche Wirklichkeit eine mitunter völlige Umgestaltung, nicht selten eine Deformation erfährt. Nicht das Dargestellte steht dabei im Vordergrund, sondern das Erlebnis-Moment” (ebenda p. 57). In der expressionistischen Malerei vergegenständlichen sich die inneren und äußeren Katastrophen eines Menschen in seiner Lebensumwelt und obwohl dieser Ausdruck zeitgebunden erscheint, so ist er doch ein Verweis auf das Bedrohtsein insgesamt, dieses „nicht in der Welt sein” aus der wir jeden Moment fallen können. In diesen Werken ist das Bewusste, die Wahrnehmung der sinnlichen Welt und das Unbewusste, das Erahnen der „Urerfahrung”, des „Urwissens” wie Klee das einmal nannte, verbunden. Paul Klee schreibt:

„Alle Kunst ist Erinnerung an das Uralte, Dunkle, von dem Fragmente im Künstler immer noch leben” (ebenda p. 210).

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2. Traumadefinition

Wie ist nun dieses Trauma beschaffen, dieses individuelle oder kollektive Trauma, dem der Künstler sich ausgesetzt fühlt und dem er in einem schöpferischen Prozess eine äußere bildhafte Gestaltung verleiht?

Das Konzept vom Verlustes der Erinnerung war immer schon das zentrale Merkmal von Traumatisierung und wurde in den Arbeiten von Janet im Formbegriff der Amnesie, der Dissoziation oder bei Freud in seiner Theorie der Verdrängung beschrieben. Der Ort der Verdrängung, der Ort der Amnesie ist der Raum, in dem all die Dinge aufbewahrt sind, die aufgrund ihrer traumatischen Schrecklichkeit und schwindelerregenden Konfrontation mit heftigsten Gefühlen uns den Boden zu entziehen drohen - das Unbewusste. Dieser lebensrettende Mechanismus der Abspaltung hat seinen Preis: Amnesie und Verdrängung des Traumas halten Traumata in uns oder auch in einer ganzen Gesellschaft lebendig - im Untergrund verborgen, aber nicht minder virulent. Je stärker in einer Gesellschaft die Traumatisierung auf das Individuum oder die ganze soziale Gruppe einwirkt und diese mit einer verrückten Realität, einer traumatischen Unbegreiflichkeit konfrontiert, um so wahrscheinlicher ist das Auftreten traumabedingten Gedächtnisverlustes, zusammen mit dem Verlust sprachlicher Ausdrucksfähigkeit - das Vermächtnis der Abwesenheit.

Es bedarf aber auch eines großen Kraftaufwandes, diese sprachlosen inneren Bilder an ihrem Ort der Verbannung zu belassen, da persönliche Verletzbarkeit und Schuldgefühle immer wieder zu dem Punkt zurückführen, der eigentlich aus der Kommunikation ausgeschlossen sein sollte. Exkommuniziert hat dies Lorenzer einmal genannt. Diese Traumata, die versteckt unter einer Decke von Zwang zum Funktionieren im Lebensalltag, Angst vor sozialer Diskriminierung durch andere versteckt sind, diese Erinnerungen sind da, wenn sie auch scheinbar nicht da sind, auf alle Fälle sind sie wirksam und werden, wie die deutsche und jüdische Geschichte zeigt, transgenerativ weitergegeben.

Fischer und Riedesser definieren Trauma wie folgt:

„Psychische Traumatisierung lässt sich definieren als vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt” [2].

Ein Mensch oder eine größere soziale Gruppe erlebt in einem extrem bedrohlichen Einzelereignis oder über längere Zeit eine Diskrepanz zwischen dem, was ihm von außen zugefügt wird und dem, was die Ressourcen der eigenen Person, der Gruppe bereitstellen, um sich effektiv zu verteidigen, die Traumatisierung abzuwehren. Es kommt wie im Tierreich zu einem Zustand des freezing, d. h. zu einem Zustand des Todstellens, in dem eine geregelte Kampf- oder Fluchtreaktion abgebrochen und gelähmt ist.

In diesem Zustand hilflosen Ausgeliefertseins, depressiver Erschütterung zerbricht ein Stück Vertrauen in uns selbst und in die Welt, wie man sie bisher kannte; für viele nach Extremtraumatisierung wie KZ, Folter, Krieg wird die Welt ein unsicherer Ort, der sie ängstigt und in dem sie sich nicht mehr geborgen, angenommen und aufgehoben fühlen.

Um diese innere Blockierung zu verlassen, einen eigenen Stand-Ort, einen eigenen Flucht-Punkt zu finden, ist es notwendig, sich mit dem Trauma auseinander zusetzen, um die angefangene Bewegung von Flucht oder Kampf erfolgreich zu Ende zu führen. Hier hilft vor allem das künstlerische Schaffen, die symbolische Ebene in Psychotherapie und bildender Kunst.

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3. Die Darstellung von Trauma in der Kunst

Wenn wir Traumatisierung als eine unterbrochene Handlung des Instinktverhaltens oder auch als Blockierung von Informationsverarbeitung in einer vitalen Bedrohungs- und Herausforderungssituation begreifen, so könnten wir die Aufgabe des Künstlers darin sehen, diese Handlungsblockierung darzustellen, die bruchstückhaften Traumaerinnerungen zu repräsentieren und sie in einem möglichen nächsten Schritt in einem künstlerischen-therapeutischen Prozess zu einer Synthese zu bringen. Da der Mensch als Augenwesen überwiegend über den Sinneskanal des Visuellen die Welt rezipiert, aber auch die traumatische Situation erlebt und verinnerlicht, kommt der bildenden Kunst bei der Traumaverarbeitung eine besondere Bedeutung zu. So erfahren wir in der klinischen Arbeit mit Traumatisierten immer wieder, dass durch Malen und plastisches Gestalten Traumatisierungen ihren Ausdruck finden, die über Möglichkeit verbaler Mitteilung weit hinausgehen: sozusagen Spurensuche im Bereich vergessener Erfahrung. Die Traumatisierung als Geschichte zu erzählen ist nach einem erreichten Akt der Symbolisierung die letzte Form der Traumadarstellung und signalisiert schon den Beginn ihrer Verarbeitung. Es sind die Metaphern und die Bilder, die uns mit dem Unaussprechlichen konfrontieren und die die Vorlagen, die Schnittmuster für die Erzählungen bilden, mit wem wir die Traumatisierung in einen narrativen Text, in unsere Lebensgeschichte verwandeln.

Wir wissen, dass unterschiedliche Menschen auf eine vergleichbar einheitliche Traumatisierung sehr unterschiedlich reagieren und dementsprechend auch verschieden leiden. Das Trauma-Ereignis als einmaliger oder wiederholter, kumulativer Prozess einer Art Reizüberflutung und die daran anschließende innerpsychische Verarbeitung dieses „vitalen Diskrepanzerlebnisses” (Fischer und Riedesser) führt zu dem, was wir Trauma-Erlebnis nennen, die mehr oder weniger konkrete Repräsentation der Traumatisierung im Gedächtnis und die Folgen für die weitere Selbst- und Weltbeziehung. Kernelemente jeglicher Traumatisierung sind das Gefühl absoluter Hilflosigkeit und des Überwältigtseins mit seiner Schwächung des Ich und einer Regression auf eine kindliche Erlebensweise. Des weiteren Betäubung der Affekte, innere und äußere Erstarrung und Spaltungsvorgänge in der Persönlichkeit des Opfers. Über längere Sicht geht nun die innerpsychische Beschäftigung mit dem Traumaerlebnis in Folgezustände über, wie sie in der ICD-Diagnose posttraumatischen Belastungsstörung beschrieben werden (Trauma-Folgen).

Um das Trauma darzustellen, kann sich der Künstler nun verschiedenster Elemente dieses oben genannten psychologischen Entwicklungsprozesses bedienen und sie in seinem Kunstwerk in gestalterischer Form akkumulieren.

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a. Das Traumaereignis

Die sinnlich überwältigenste Form der Traumadarstellung ist die künstlerische Reproduktion des Traumaereignisses als solches, das heißt, eine (hyper)-realistische Wiedergabe des Trauma-Szenarios, mit dem Ziel, dem Rezipienten selbst bei der Betrachtung des Bildes ein Gefühl eigener Traumatisierung zu vermitteln. Der Künstler überlässt hier dem Betrachter völlig die individuelle Weiterverarbeitung und gibt, durch eine konkordante Identifikation mit dem Opfer, diesen Gefühlszustand ungefiltert, zum Teil dramatisch verdichtet, an den Betrachter weiter. Der Betrachter kann sich so als Opfer der Gewalttätigkeit des Künstlers fühlen.

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b. Die Verarbeitung des Traumas zum Traumaerlebnis

Die innere Verarbeitung des Traumaereignisses vollzieht sich entlang der Verarbeitungskapazität der prämorbiden Persönlichkeit im Bewussten wie im Unbewussten Bereich anhand gestufter Schritte. Durch die massive Reizüberflutung und das dadurch ausgelöste Gefühl absoluter Ohnmacht und Hilflosigkeit kommt es zu einer Schwächung der identitätserhaltenden Funktionen des Ich. Die Situation der Traumatisierung schränkt die Ich-Fähigkeit zur Realitätsprüfung ein, eine Funktion, die über die Möglichkeit der Trennung zwischen Phantasie und Wahrnehmung die Anpassung an die Umwelt erst ermöglicht. Im Trauma scheinen unbewusste Phantasien der frühen Kindheit unmittelbar wahr zu werden; diese Wiederbelebung infantiler Angstphantasien verwischt die Grenze zwischen Phantasie und Realität und bietet Raum für künstlerische Gestaltung. Zum Verlust der räumlichen kommt der Verlust der zeitlichen Orientierung als Ausdruck einer Ich-Schwächung und dieser Ausdruck findet sich in vielen Bildern traumatischer Darstellungen. Durch diesen Verlust innerer und äußerer, zeitlicher und räumlicher Orientierung gezwungen, verliert das Ich des Traumatisierten immer mehr an Widerstandskraft gegen das „Unermessliche”, „Unbenennbare”, „Überwältigende”. Die von außen kommende, zum Leben notwendige libidinöse, sinnlichen Besetzung, die narzisstischen Gratifikation durch andere, bricht in sich zusammen: Der Mensch, sein Ich ist geschwächt und existentiell bedroht, Gefühle von Depersonalisation, Derealisation verstärken sich - er beginnt sich nicht mehr zu spüren, sich aufzulösen und schwerelos zu werden.

Ein Versuch, diesen Prozess der „Frakturierung” aktiv aufzuhalten, ist der Abwehrmechanismus der (Affekt)-Isolierung: Isolierung heißt ohne Affekt einfach funktionieren zu können, die Affekte abzuspalten, um im traumatischen Raum noch handeln zu können - automatisiert und roboterhaft. Diese Ich-Veränderung, Ich-Betäubung bewirkt aber ein Gefühl des Unwirklichen, des traumartigen Schwebens, wie es für den Schockzustand der traumatischen Realität typisch ist. Diese Schwebezustände finden sich in den Werken vieler Künstler des Expressionismus wieder, vor allem in Bildern des Surrealismus.

Am Ende dieser innerpsychischen Traumaverarbeitung steht ein sehr komplexer Mechanismus: die Übernahme der Normen und Wertevorstellungen des Täters, mit dem zur eigenen Rettung eine Art „frühe Liebesbeziehung” eingegangen wird - das was wir in der Psychoanalyse die Identifikation mit dem Aggressor nennen. Diese Relation zwischen dem hilflosen Opfer selbst und dem übermächtigen Täter, der in der Lage ist, uns seinen moralischen wie körperlichen Willen aufzudrängen, nennen wir aus struktureller Sicht den traumatischen Komplex (traumatisches Introjekt), wir meinen damit einen Vorstellungsinhalt, in dem die Traumaerinnerungen und die Traumaaffekte verschmolzen sind. Dieser Traumakomplex muss aus der allgemeinen Psyche abgespalten und vom restlichen Erleben isoliert werden (Ferenczi [3] nannte das 1933 „ein totes Ich-Stück”), um das Überleben der traumatisierten Person zu sichern. Dies gelingt nur über den Vorgang der Depersonalisation, z. T. auch der Dissoziation, Abspaltung, der Amnesie. Die Persönlichkeit des Opfers zerfällt oft in eine beobachtende Instanz, die hellwach alles registriert, schreckhaft getrieben bis hin zur Paranoia und dem Verlustes der Körperlichkeit, der Preisgabe des Körpers, der oftmals so behandelt wird, wie sich ehemals der Täter dem Opfer gegenüber verhielt: Er wird geschlagen, zerschnitten, gequält, gehasst, die Nahrung wird entzogen - im Akte der Zerstörung, der Einschreibung der Gewaltzeichen gewinnt der schwerelose Körper wieder Struktur und Form.

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c. Darstellung der Langzeitfolgen der Traumatisierung

Viele der oben beschriebenen veränderten Ich-Zustände und affektiven Stimmungslagen geraten nun im Sinne der Chronifizierung in eine Verhärtung und Verfestigung. Es sind vor allem Gefühle der immer wiederkehrenden panikartigen Angst und Hilflosigkeit, der Betäubung oder Erstarrung, die viele Traumatisierte schildern. Neben Vermeidung und Übererregung finden wir vor allem Dissoziation, d. h. Wirklichkeitssprünge, Kontinuitätsbrüche sowohl im zeitlichen wie räumlichen Erleben. Dabei kehren in diesen dissoziativen Zuständen alte Bilderwelten zurück, Bilder die normalerweise notdürftig in Verdrängung gehalten werden und Amnesien darstellen, d. h. nicht bewusst erinnerbar sind.

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4. Traumakunst

Um die Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis zu überwinden, macht sich der Künstler nun auf die Suche nach einer Darstellung dieser inneren Prozesse, die er entweder über Identifikation mit dem traumatisierten Anderen oder durch Spurensuche in sich selbst erfährt.

„Der verbale Bericht traumatischer Situationen markiert, zusammen mit der Fähigkeit, eine kohärente und emotional resonante Geschichte der traumatischen Vorfälle zu erzählen, den letzten Schritt in der Traumaverarbeitung. Jedoch ist auch klar, dass eine indirekte Repräsentation des Traumas durch Metaphern und Bilder, wie sie dem bildnerischen Ausdruck entspricht, das traumatischem Erinnern näher ist als formal ausgearbeitetes Schreiben es je kann. Bilder stehen der rechten Gehirnhemisphäre näher, von der angenommen wird, dass sie traumatische Erinnerungen speichern kann, die der linkshemisphärischen, verbalen Repräsentation noch nicht zugänglich sind” [4] p.19).

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Abbildung 2: On Kawara, Bathroom Blatt 8

Für Dori Laub und Daniel Podell sind die Gefühle von Abwesenheit und Leere, von Zerrissenheit und dem Verlust der Repräsentation die konstituierenden Momente traumatischer Erfahrung, die, so meinen die Autoren, sich aufgrund des Zusammenbruchs des empathischen Vertrauens in eine äußere Bindung sich verheerend auf unsere innere Beziehungswelt auswirkt. Dabei kommt es zu einem inneren Verlust der „wichtigen Anderen” (significant others) in uns selbst, zu einer Auslöschung einer primären empathischen Bindung an bedeutende Bezugspersonern der Kindheit, die uns zeitlebens Selbstvertrauen und Selbstkohärenz vermitteln. Das Versagen dieser empathischen Bindung beschreibt Dori Laub folgendermaßen: „Der Besetzungsabzug bzw. das Scheitern der empathischen Verbindung zur Zeit des Traumas ist das stärkste Merkmal schwerer Traumatisierung. Der Henker beachtet das Opfer nicht, das um sein Leben fleht, und die empathische Bindung ist zerschnitten oder ausgelöscht. Die Folge dieser Auslöschung ist die Unfähigkeit, eine empathische Beziehung zu sich selbst aufrecht zu erhalten. Das Versagen der empathischen Bindung führt zum Gefühl von Abwesenheit, Abriss und Zerbrechen, zum Verlust der Repräsentation, zu Unfähigkeit, das Trauma zu erfassen und zu erinnern, zum Verlust der Kohärenz. Der Erfahrung der Überlebenden fehlen Struktur und Repräsentation - die Fähigkeit, sich und anderen die eigene Geschichte zu erzählen [5] p. 862).

Für diesen Verlust des Sprechens, der Repräsentation schlägt Laub und Podell [6] 1995 den Begriff des „leeren Kreises” (empthy circle) vor. Traumakunst, so schreiben sie,versucht nun diesen „leeren Kreis”, d. h. die Abwesenheit von Beziehung, Kommunikation und Empathie, im Kunstwerk zu repräsentieren, sie stellen also in der Abwesenheit das Kernstück traumatischer Erfahrung dar. Der Künstler schafft durch seine imaginative Fähigkeit einen „sicheren Ort”, an dem sich der Gestaltende und der Betrachter begegnen können. So ist Traumakunst, wie Laub und Podell sagen, immer dialogisch angelegt, künstlerisches Schaffen immer auf einen gedachten, nicht anwesenden Dritten hin bezogen, der so im Werk selbst virtuell anwesend ist. Künstler und Betrachter sind über das Bild aufeinander bezogen und die bezeugenden Gegenwart des Betrachters wirkt auf den Künstler zurück. Das unterbrochene Band zu seinem „inneren Anderen” wird im künstlerischen Tun durch den Bezug zum vorgestellten Rezipienten geheilt, einem Betrachter, der bereit ist, die Schrecklichkeit des Bildausdruckes zu bezeugen und empathisch zu erfühlen. Der Künstler sucht Mitfühlung, nicht Betroffenheit, ein empathisches Zeugnis für das, was er aus sich selbst heraus gestaltet. Dazu ist Distanz nötig, d. h. Traumakunst darf selbst niemals so traumatisierend sein, dass der Betrachter selbst sich traumatisiert abwendet, um sich zu schützen und einer Selbstdestruktion zu entgehen.

Lassen Sie mich noch einmal Fischer zitieren: „Mit dem Publikum als einem „äußeren Anderen”, der den sprachlosen Schrecken des Traumas wissen und bezeugen kann, kann der Künstler den eigenen inneren Dialog mit seinem „internen Anderen” wiederaufnehmen, der einst durch seine individuelle traumatische Erfahrung oder die traumatische Erfahrung derjenigen sozialen Gruppe oder Kultur, welcher der Künstler zugehört, unterbrochen wurde. Dieses wohlwollende Arbeitsbündnis mit dem Rezipienten ist - genau wie in der Psychotherapie - der beste Weg, das Trauma effektiv zu überwinden und die traumatische Erfahrung in dreifachem Sinne des Wortes „aufzuheben” [4] p. 20).

Somit kann Kunst das Trauma bildlich repräsentieren, aber nicht benennen, was verständlich macht, warum viele Künstler eine große Scheu besitzen, ihr Kunstwerk zu erklären und zu verwörtern.

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5. On Kawaras Badezimmerserie 1953 - 1954

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Abbildung 3: On Kawara, Bathroom Blatt 11

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a. Die implizite Werkanalyse

Die Serie „The Bathroom” besteht aus 28 Bleistiftzeichnungen auf weißem Papier, zumeist in der Größe 24,8 x 36,4 cm. Zum Teil sind die Umrissformen der Bilder unregelmäßig und vollziehen so die Dehnung, Stauchung und Faltung des Raumes in ihrer äußeren Grenze zur Umwelt hin nach. Der Zyklus scheint vom 1. bis 22. Bild ein repetitives Thema unterschiedlichster Anordnung und Ausgestaltung, Verformung und Zerteilung der Figuren zu wiederholen (siehe Abbildung 1 bis 5), die 6 Arbeiten ab dem 23. bis 28. Bild beinhalten eine deutliche Veränderung der Motivausgestaltung, aber auch des Interieurs (siehe Abbildung 6 bis 8). Soweit an der Signatur zu erkennen, sind die Arbeiten 1 bis 24 ausnahmsweise aus dem Jahre 1953. Ab da sind die Blätter 24 - 28 aus dem Jahr 1954 mit der Ausnahme des Blattes 25, welches die Bildunterschrift von 1953 trägt.

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Abbildung 4: On Kawara, Bathroom Blatt 16

Jean-Christophe Ammann schrieb 1994 in einem Ausstellungskatalog zur Ausstellung von Bildern von On Kawara im Museum für Moderne Kunst in Frankfurt am Main:

„Das Badezimmer als solches besteht aus einem gekachelten Raum, aus einer fast immer mit Wasser gefüllten, ebenfalls gekachelten Wanne, bevölkert von Frauen und Männern, bzw. dem, was von ihnen übrig geblieben ist: Körperteile, Arm- und Beinstümpfe, lebendige Gesichter, bei starker weiblicher Dominanz und des öfteren in Verbindung mit Blut. Die Assoziation mit Gliederpuppen, mit insekten-ähnlichen, behaarten Wesen, die sich zum Schluss in fast ungegenständliche Bestandteile und Bruchteile auflösen, relativiert in keinem Moment das existenzielle Grauen, die von Pocken übersäte Haut, die Mutation ins androgyne und die peinvolle Schwangerschaft ins Ungewisse. Ein jedes dieser 28 Badezimmer, ausgehend von einem Prototypischen, ist ein Ort des Grauens. Gleich einem Guckkasten observiert der Künstler das Ungeheure, das er selbst generiert. Mit der Veränderung des Raumes, den er aus den Fugen hebt, verändert er die fassungslos dieser manipulierten Gewalt ausgesetzten menschlichen Wesen, verfügt beliebig über ihre Zerstückelung, lässt sie bis zum Exzess die Absurdität ihres Traumas durchspielen. On Kawara führt Regie über sein eigenes Trauma: Er beschreibt es mit der obsessiven Akribie eines Betroffenen, den die entfernte Schockwelle ins Epizentrum der Katastrophe zurückführt” [7] p. 11).

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Abbildung 5: On Kawara, Bathroom Blatt 22

Ergänzend zu dieser beeindruckenden Verwörterung der Bilder möchte ich auf das helle Licht der dem Betrachter gegenüberliegenden Stirnwand des Badezimmers aufmerksam machen, welches ihre größte Helligkeit in den Bildern 1 (siehe Abbildung 1), 2 und 3 besitzt, dann abflaut und manchmal wieder etwas aufleuchtet. Die in vielen Bildern vorhandene Lichtquelle in einer der Ecken scheint nicht zu funktionieren, auf alle Fälle gibt es keine Schattenbildung, die darauf hinweisen könnte. Die Frauenfiguren mit ihren großen Nasen (Langnasen ist eine Bezeichnung Menschen aus dem Westen) und langen, im Nacken zusammengefassten Haaren sind übersät mit Pockennarben, häufig schwanger dargestellt, manchmal androgyn mit Penis, aber in ihrer Physiognomie nicht typisch japanisch. Auch die Männertorsi mit Brüsten wirken vom Gesichtsschnitt eher westlich als asiatisch. Neben dem immer wiederkehrenden Motiv einer Badewanne, manchmal mit Blut gefüllt, manchmal leer, findet sich häufig ein viereckiger Spiegel, der blind erscheint und nichts zeigt. Auf einigen Bildern breitet sich Schimmel in den Ecken des Badezimmers aus, auf anderen sehen wir Blut verspritzt auf dem Boden oder Würmer, die sich ungehemmt vermehren. Die Figuren sind pockennarbig und auf eine ekelhafte Weise beharrt.

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Abbildung 6: On Kawara, Bathroom Blatt 23

Ab dem 23. Bild (siehe Abbildung 6) ändert sich die Szenerie. War der Raum bis dahin immer mehr in Unordnung und Verbiegung und Faltung geraten, so ähnelt dieses 23. Bild wieder dem ersten, ein geordneter Raum, geordnete Winkelstrukturen, ebenfalls wie im ersten Bild die Badewanne rechts, jetzt aber eine Kugellampe, die in der Mitte von der Decke hängt und aufgrund der Helligkeit dahinter wohl auch Licht verbreitet und ein Haufen von Puppen-ähnlichen Gestalten, die keine Geschlechtsunterschiede mehr erkennen lassen. In den folgenden Bildern beginnt der Raum schwerelos zu werden, die Gegenstände, die Lampen und Spiegel lösen sich von den Wänden, fliegen zusammen mit den „menschlichen” Teilkörpern, die sich immer mehr in Bruchstücke auflösen und bald keine Köpfe oder Gesichter mehr erkennen lassen durch den Raum. Im letzten Bild lassen nur einige Figuren Beziehung zu einem menschlichen Torso erahnen, die meisten Körper sind zylindrisch oder rund zerstückelt, der Raum in steter schwebender Bewegung.

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b. Der Kontext: Japan zwischen Hiroshima und Ende des Koreakrieges

Als die Atombomben über Hiroshima und Nagasaki im August 1945 explodierten, war On Kawara gerade 13 Jahre alt. 8 Jahre später malte er die eben gezeigten Bilder. Nach der verheerenden Verwüstung, die die Bombe „Little Boy” und „Fat man” über Hiroshima und Nagasaki brachten, glaubten die erzkonservativen Traditionalisten innerhalb des japanischen Militärrates immer noch Bedingungen bezüglich einer Kapitulation stellen zu können. Im Kabinett konnte in Tokio keine Einigung hergestellt werden und es wurde, unter Bruch aller bisherigen Sitten, der Tenno gebeten, eine persönliche Entscheidung zu treffen. Obwohl die Amerikaner der Nicht-Antastung der Souverinitätsrechte des „Gottkaisers” nicht zustimmten, entschloss sich der Tenno zur Kapitulation auch unter Verlust seiner Souveränität. Die Rede an sein Volk wurde auf eine Schallplatte gepresst und über Radio Tokio ausgestrahlt, Prinzen des Tenno flogen mit dieser Platte zu den kämpfenden Truppen im Pazifik. So hörten die Bevölkerung Japans und die Soldaten in den Kriegsgefangenenlagern erstmalig die Stimme ihres Gottkaisers. Er gestand die Niederlage ein und forderte sein Volk auf, „das Untragbare zu ertragen” [8] p.76). Viele Leute verstanden den Tenno zunächst kaum, da seine elegante Hofsprache (und seine hohe Stimme) von den meisten Menschen nicht verstanden werden konnte.

Am 2. September 1945 wurde die Kapitulationsurkunde unterzeichnet. Ein paar Tage später landeten US-Truppen in Südkorea, russische Truppen marschierten in Nordkorea ein. Amerika wurde Besatzungsmacht in Japan und errichtete sofort eine strenge Zensur, vor allem über die Berichterstattung der Folgen von Hiroshima und Nagasaki.

Offiziell hatte die Besatzungsmacht Amerika bereits am 9. September 1945 die Weisung ausgegeben, es dürfe nichts über die Atombombe und ihre Wirkung in Schrift und Bild berichtet werden. Als dennoch immer wieder Fotografen und Filmleute auftauchten, um das Unglaubliche und Nicht- Fassbare in Bildern festzuhalten, wurde am 19. Oktober noch einmal ein besonderes Fotografieverbot erlassen. Aufnahmen, die aus dieser Zeit stammten, wurden heimlich gedreht. Jahrelang blieb die Weltöffentlichkeit uninformiert darüber, was in Hiroshima und Nagasaki wirklich geschah, dass weiterhin Menschen unter den Folgen der Radioaktivität litten und verstarben. Besonders die Frage der gesundheitlichen Veränderung durch Atomschäden wurde zur Irreführung der Öffentlichkeit missbraucht und immer wieder behauptet, es gäbe keine Schäden, vor allem keine Erbschäden, Sterilität und Fehlgeburten. Robert Jungk [9] schreibt im Vorwort zu John Herseys Buch: Hiroshima 6. August 1945, 8 Uhr 15:

„Dabei werden Behauptungen, dass kommende Generationen nicht unter Atomschäden leiden müssen, in Hiroshima für jeden, der Augen und Ohren hat, durch die Existenz der „Hibakushanisie” widerlegt, dass sind die Söhne und Töchter von Atomopfern, die nun ihrerseits an Krebs und anderen Krankheiten leiden. Im Gegensatz zu ihren Eltern, die ihre Leiden lange zu verbergen trachteten, tritt die Mehrheit dieser zweiten Generation von Betroffenen deutlich und offen für ihren Anspruch auf besondere Behandlung auf. Natürlich gibt es auch solche Mädchen und Männer, die ihre „makelhafte Abstammung” möglichst zu verheimlichen suchen, sei es, um Ehepartner zu finden, sei es, um ihre Kinder vor Diskriminierung zu schützen” (p. 13 - 14).

Am 15. August 1950 wollte Nordkorea am Tag der Kapitulation Japans vor 5 Jahren eine Nationalversammlung in Seoul einberufen und überschritt mit seiner Armee den 38. Breitengrad. Im Westen kam es zu panikartigen Reaktionen vor allem in Europa und USA, die Angst vor einer weltumspannenden, kommunistischen Offensive breitete sich aus. Ab 6. November 1950 griffen auch die Chinesen in den Konflikt ein, so dass am 30. November Truman China mit der Atombombe drohte. Am 16. November kam es zum nationalen Notstand in den USA, Friedensverhandlungen begannen erst ab 1. Juli 1951. Ein Friedensvertrag zwischen USA und Japan wurde am 28. April 1952 geschlossen, daraufhin wurden 200.000 Inhaftierte entlassen und Amnestie für alle Kriegsverbrecher in Japan ausgerufen. USA war nicht mehr Besatzungsmacht, sondern jetzt Schutzmacht.

Am 23. April 1952 wurde ein Atombombentest in der Wüste Nevada live im Fernsehen übertragen, am 23. Juni 1952 kam es zu den schwersten Luftangriffen auf den Norden Koreas, am 4. November wurde Eisenhower Präsident der USA. Nachdem die Verhandlungen Anfang Juni 1953 gescheitert war, einigte man sich am 27. Juli 1953 auf eine Waffenruhe und eine Grenzziehung am 38. Breitengrad. Dieser Koreakrieg hatte 25 119 US-Soldaten das Leben gekostet, 94 000 Soldaten der UNO und 1,34 Mio. Soldaten der verbündeten Kommunisten.

In Japan selbst kam es nach der Unabhängigkeiterklärung am 28. April 1952 an und nach den Maifeiertagen zu massiven Demonstrationen mit z. T. 5000 Polizisten im Einsatz. Amerikanische Autos wurden verbrannt, Hunderte von Menschen verletzt und arrestiert, die Regierung erwog antikommunistische Maßnahmen. In diesem Monat massive Unruhe unter den Studenten Tokios; die Polizei war über die Zunahme extrem linker Aktivisten beunruhigt - Arbeitstreiks wurden befürchtet. Am 7. Juni 1952 rieft die Gewerkschaft zum Arbeitskampf auf, dem sich 3,5 Mio. Menschen anschlossen. Zu dieser Zeit immer wieder beunruhigende Nachrichten aus Korea, wo die Feindlichkeiten nicht abflauten. Im Juni und Juli Studentendemonstrationen und Straßenschlachten mit der Polizei, Molotow-Cocktails flogen, der kommunistischen Partei Japans wurde aufrührerisches Verhalten vorgeworfen.

Am 5. August 1952 wurden medizinische Befunde der ersten Atombombenexplosion bei einer internationalen Konferenz erstmalig veröffentlicht - die Zeitungen berichteten in großer Aufmachung darüber. Obwohl die Amerikaner, aber auch England weiter versuchten Informationen über die Folgen der Atombombe zu unterdrücken, wurden weitere Befunde über Atombombenopfer am 16.10. bei einer internationalen Ärztekonferenz vorgestellt.

Am 23. Oktober 1952 sendete Dr. Albert Einstein einen Entschuldigungsbrief an Japan, nachdem er die Bilder der Atombombenopfer gesehen hatte. Ab 12.11. erste Wasserstoffbombentests der USA, denen weitere Tests folgen. Ende November flauten die Studentenunruhen ab. Im Januar 1953 wurde ein extra Geheimdienst gegen kommunistische Umtriebe gegründet, der amerikanische US-Kongressabgeordnete Cole plädierte für den Einsatz der Atombomben in Korea, um einen Weltkrieg zu verhindern. Die erste Fernsehübertragung in Japan wurde am 2. Februar 1953 ausgestrahlt.

Am 7. März 1953 titelte eine große Tokioter Zeitung: „Fehlgeburten, Totgeburten hoch im Verhältnis zum Aufenthaltsnähe zum Epizentrum der Atombombe”. In einer anderen Zeitung war am 11. April zu lesen, dass die Suizidrate von Studenten in den letzten 5 Jahren um 400 % gestiegen seien.

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6. Über die Bildern On Kawaras: Versuch einer empathischen Zeugenschaft

Vorab sei erwähnt, dass autobiographische Hinweise auf den Künstler On Kawara so gut wie unbekannt sind. Er gilt als Autodidakt in der Malerei und fiel 1952 erstmals mit der gezeigten Serie. „The Bathroom” auf.

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Abbildung 7: On Kawara, Bathroom Blatt 24

Er gilt als leitendes Mitglied der Schule der grotesken Kunst (school of grotesque Art), welche die Tokioter Kunstszene ab 1950 dominierte. Erste Umweltskulpturen in Tokio 1953, dann zwischen 1959 und 1965 Reisen nach Mexiko, USA, Europa, 1965 ließ er sich in New York nieder. 1966 das erste „date-painting” (die Darstellung des Datums, an dem das Bild gemalt wurde, auf einem monochromen Hintergrund).

Durch Fragen von Journalisten zu seinem Werk erschreckt, legte er sich selbst eine gewisse Isolation in der Kunstszene auf, die er bis heute pflegt. Er entzieht sich bis heute total den Verpflichtungen aber auch dem Vermarktungsdruck des modernen Kunstbetriebes, er gibt keine Interviews, erscheint auf keinen Vernissagen; es gibt keine Fotos von ihm, keine Biographie ist bekannt, nur die Anzahl der Lebenstage, nicht sein genaues Geburtsdatum. Er ist der große Unbekannte oder wie er selbst sagt „I am not existing”. Interessant ist, dass das Wort „On” für seinen Vornamen aus 3 japanischen Schriftzeichen zusammengesetzt ist. Das erste, das wie ein „J” aussieht, bedeutet Wasser, das zweite wie ein „W” mit einem Strich drüber bedeutet Mann in einem abgeschlossenen Raum oder Gefängnis und das dritte, das untere bedeutet Nahrung, so dass das Wort „On” auch übersetzt werden kann mit: „Einem Gefangenen Wasser und Nahrung bringen”.

Was sich in seinem Werk widerspiegelt, so meinen einige Kunstkritiker, ist das Thema: Zeit - die Unerbittlichkeit der Zeit, die vergeht, vergeht hin bis zum Tod; sie habe etwas traumatisches, ja bedrohliches in sich. Das Leben ist nur ein kurzer Moment, eine kurze Unterbrechung in diesem unermesslichen Strom der Zeit. Seine date-paintings stellten in ihrer Einfachheit und Schlichtheit eine faszinierende Form der Darstellung des Phänomens Zeit vor.

Im Vergleich zu der Realisierung von Konzeptkunst der letzten Jahre (siehe z. B. die Postkarten, die Telegramme) und der minimalistischen Reduktion des Hauptwerkes in den Datumsbildern seit 1966, überrascht die figürliche Vielfalt der Zeichnungen und Gemälde aus der Zeit zwischen 1952 und 1956, dem Frühwerk des Malers, welches er in Japan zurücklies und einem Museum in Tokyo schenkte. „Als On Kawara 1958 Japan definitiv verließ, schenkt er den größten Teil seines Werkes dem Nationalmuseum of Modern Art in Tokio. Diese großzügige Schenkung lässt sich in etwa aus der folgenden Perspektive erklären: Das Werk, das hier in Frankfurt erstmals fast vollständig gezeigt wird, muss als existentielle Aufarbeitung der Nachkriegsgeschichte Japans schlechthin gesehen und gedeutet werden” [7] p. 9).

Die Nachkriegsgeneration der japanischen Künstler waren für alle Stimuli aus dem Ausland hochsensibel. On Kawara kritisierte in einer Reihe von Aufsätzen auf der einen Seite die japanischen Modernisten, die blindlings einem westlichen Modernismus folgten, aber auch die dogmatischen Unterstützer eines sozialistischen Realismus. Von Anfang an wandte On Kawara sich gegen den normalen Strom japanischer Nachkriegskunst. Er hatte wenig Geduld mit seinen Zeitgenossen und er beantwortete Fragen zu seinem Oeuvre und zur Malerei im Allgemeinen häufig schroff und nichtssagend. Kawara hielt alle menschlichen Wesen für opportunistisch und unterstellte seinen Kollegen und Kritikern einen Mangel an kritischem Verstand. (Siehe dazu [10]).

On Kawara wurde 1933 in Karija, einer Kleinstadt in der Nähe von Nagoia geboren, weit entfernt von den Orten Atombomben Abwürfe. Ob er durch die Luftangriffe der Amerikaner oder durch andere Kriegseinwirkungen traumatisiert wurde, ist unbekannt. Des weiteren ist nicht bekannt, ob er oder Angehörige seiner Familie sich in der Nähe der Atombombenstädte Hiroshima oder Nagasaki aufgehalten haben. Wie hoch der persönliche Erlebensanteil der Traumatisierung in den Bildern ist, muss offen bleiben, die Pathographie des Künstlers in Bezug auf sein Werk bleibt somit leer.

Der psychoanalytischen Tradition folgend versuche ich mich nun über die Analyse meiner Gegenübertragungsgefühle, meiner aufsteigenden Bilder und Erinnerungen, meiner Einfälle und Befindlichkeiten der unbewusste Botschaft dieser Bilder zu nähern, über die uns On Kawara wenig hinterlassen hat. Diese Bilder haben mich bis heute sehr beeindruckt und in mir etwas zum Klingen gebracht - auch über unserer beiden kulturellen Unterschiede hinweg. Mit der Bereitschaft zur empathischen Zeugenschaft, zur Teilnahme an einem Prozess der Selbstentäußerung, aber auch der eigenen Selbstheilung, versuche ich, dem mir fremden Menschen On Kawara näher zu kommen.

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a. Der Raum

Der Verstehensprozess erschließt sich etwas leichter, wenn man weiß, dass On Kawara, der sich selbst als einen intellektuellen Künstler bezeichnen würde, sich wie viele seiner Malerkollegen im Tokio der 50. Jahre intensiv mit dem Existentialismus und vor allem mit Jean-Paul Sartre beschäftigt hatte. Diese Richtung in der Philosophie des 20. Jhr., die die existentielle Grunderfahrung des Menschen wie Leid, Angst, Krankheit, Tod, die Erfahrung von der Sinnlosigkeit des Daseins reflektierte, war vielerorts, in Europa wie in Japan ein Reflex auf die Leichenberge des I. und II. Weltkrieges. Martin Heideggers Buch „Sein und Zeit” war in Japan gut bekannt, viele Künstler hatten Paris als das Mekka der Kunstwelt besucht und waren mit vielen Eindrücken über Lebensstil, Philosophie und künstlerischem Schaffen nach Japan zurückgekehrt.

Dieser hermetisch abgeschlossene und weiß gekachelte Badezimmerraum mit seinen androgynen Menschenwesen lässt an Jean-Paul Sartres Theaterstück „Hinter verschlossenen Türen” denken, welches am 27. Mai 1944 in Paris zur Uraufführung kam. In diesem Stück bringt Sartre die existenzialistische Hölle, die radikale Verneinung jeglicher menschlicher Freiheit auf die Bühne. Diese Hölle ist eine Hotelzimmer, die Türen verschlossen ohne Fenster und Spiegel, ohne eine Möglichkeit der Flucht. In diesem Raum befinden sich 3 Menschen, 2 Frauen, Ines und Estelle, und der Mann Garcin nach ihrem Tode. Alle haben ein selbstverpfuschtes Leben hinter sich, die Schuld am Tod eines Menschen ist ihnen gemeinsam. Ihre wechselseitigen Quälereien kommen aus der Hoffnungslosigkeit, keine Zukunft mehr zu haben und die eigene Scham über das verpfuschte Leben nie mehr korrigieren zu können. Sie werden auf ewig aufeinander angewiesen sein und die ständige beobachtende und eifersüchtige Anwesenheit des dritten wird jeden Versuch einer liebenden Zweierbeziehung unterbinden.

Die Badezimmerserie von On Kawara ist eine Fortführung der Idee Sartres, die er in „Bei geschlossenen Türen” auf die Bühne brachte. Die 2 Frauen und der Mann, wo jeder „die Hölle des anderen ist”, sind in diesem weißen sterilen/verseuchten Raum ersetzt durch verstümmelte menschliche Wesen, die je länger sie sich miteinander in Beziehung setzen, zerfallen, atomisieren und in technoide Bruchstücke sich auflösen. Es ist ein sadistisches Spiel, blutig und grausam, ein Ort existenzieller Einsamkeit und Grausamkeit, ohne Fluchtmöglichkeit, wie bei Sartre. Am Ende einer sich immer wiederholenden Selbstzerfleischung und gnadenlosen Verurteilung durch die andere sagt Ines: „Nun, Garcin? Jetzt sind wir also nackt wie die Würmer; sind Sie sich jetzt klarer geworden” [11] p. 29). Diese Würmer hatten in einem der Bilder On Kawaras den Boden übersät (siehe Abbildung 3, weiter vorne im Artikel).

On Kawara gibt Zeugnis von der Traumatisierung, von den verschlossenen Räumen und den traumatischen Gefühlen und zwingt uns, sich mit dem zu beschäftigen, was wir am liebsten ausgegrenzt, verschlossen, weit weg jenseits unseres Horizonts verbannen möchten. Er nimmt den Dialog mit uns auf, lässt uns hineinblicken in das Nichtsagbare in uns, aber auch in seinen eigenen Innenraum, in die Beziehungen der inneren traumatisierten Welten. Aber ist der Künstler nicht auch der Heiler? Er ist es doch, der uns den Dialog anbietet, sich mit ihm gemeinsam mit Dingen zu beschäftigen, die uns ja gerade erschrecken, so dass wir noch einmal hinsehen müssen, obwohl es uns vielleicht drängt, uns von den Bildern abzuwenden - und sie als ekelhaft aus unserem Gedächtnis zu verbannen.

„Sich wehren gegen die Reduktion der Welt auf ein überwältigendes Gefühl” [12] p. 176) schreibt Reemtsma über die Zeit seiner Geiselhaft in einem Kellerraum, gelang nur über die Vergegenwärtigung diese Gefühls im Schreiben, über die Erschaffung eines Ortes außerhalb. Auch der Vorgang des Malens ist für den Künstler dieser Ort außerhalb des Gefühls und gleichzeitig in einer dialogischen Wendung zu uns das Angebot, auch unsere Gefühle der Verletzung an diesen Ort außerhalb von uns selbst zu verlagern - die Bilder eine Art Container, ein Tresor. Was ist das für ein Ort, an den uns On Kawara führt?

Ein namenloser Ort, ein Un-Ort, an dem wir keine Wahlmöglichkeiten haben. Und dies, so schreibt Reemtsma, ist auch das schlimmste im Moment der totalen Abhängigkeit von denen, die uns von außen kontrollieren, die die gesamte Macht über uns haben, die Macht, uns in diesem Raum hin und her zu schütteln, die Wände zu formen, zu biegen, zu verdrehen und uns in immer wieder kleinere Bruchstücke durch den Raum fliegen zu lassen. Die Menschen oder die Dinge dieses Raums haben keine Wahl, sie sind abhängig.

Ich muss an das von Daniel Liebeskind erbaute „Neue Jüdische Museum Berlin” denken: geneigte Böden, fallende Wände, verschobene Perspektiven und einsehbare, aber nicht betretbare Leerräume „the void” genannt, erzeugen eine bedrückende und groteke Stimmung. Liebeskind hat das Unheimliche in Szene gesetzt, auch zu verstehen als die betongewordene Wiederkehr des Verdrängten. „The void” steht wie die Metapher des „leeren Kreises” bei Dori Laub [5] p. 863) und der Badezimmerraum bei On Kawaras für das dem Zugriff Entzogene, das Verschwundene, das Abwesende, das noch zu Vergegenwärtigende. Laub schreibt: „ Der „leere Kreis” ist nicht wirklich leer, sondern enthält etwas, das nicht gewusst oder psychisch repräsentiert werden darf- Leerstellen in der Struktur der Seele” (ebenda).

Nichts tun können, keine Wahl haben, völlig abhängig sein, ein Wurm, der über den Boden kriecht und befürchten muss, zerquetscht zu werden. Dieses ist der Tiefpunkt, vermischt mit Todesangst - die traumatische Zeit vergeht wie in Zeitlupe. Der Punkt Null des Menschseins in Anbetracht der absoluten Ohnmacht.

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b. Der gelebte Raum

In einer Untersuchung über die „gelebte Zeit” stellt der Psychiater Eugène Minkowski heraus, dass nicht nur die innerlich erlebte Dauer von Zeit erlebbar ist und sich sozusagen vor uns entfaltet, sondern dass auch der Raum für die Entfaltung unseres Lebens unentbehrlich ist ( siehe dazu [13] ).

Anomalien des Raumerlebens wurden bei psychopathologischen Zuständen verschiedener Krankheitsbilder beschrieben. Neben Veränderung durch exogene Psychosen wie Vergiftungen oder Drogen ist hier vor allem an das veränderte Raumerleben bei Schizophrenen, bei Depressiven oder Wahnhaften zu denken, aber auch bei den uns allen bekannten Zuständen der Ermüdung, kurz vor dem Einschlafen oder im Traum.

On Kawaras Raum ist eine Begegnung mit der existentiellen Situation des Menschen in dieser Welt. Der Künstler zeigt eine sukzessive Zerstörung dieses Raumes und seiner Objekte, d. h. die oben von Laub beschriebene Zerstörung der Beziehung zu unseren „Inneren Anderen” durch ein Trauma, unseren lebenswichtigen Erfahrungsraum der Beziehung, bis zurück zu dem Urraum des Menschen, den Aufenthalt im Raum des Uterus. Die Räumlichkeit des Leibes zerfällt in leblose mechanistische und technoide Bruchstücke, parallel dazu bäumt sich der Raum auf, entfaltet sich und schrumpft, quillt über den Bildrand hinaus, verbiegt die Linienumrisse und bezieht in seinem Kampf, einem epileptischen Anfall gleich, die Umwelt des Bildes, d. h. den Raum des Betrachters selbst mit ein. Die menschlichen Formen im Raum bleiben beziehungslos zueinander, berühren sich nicht, sehen sich nicht an, aber nehmen auch keinen Kontakt zum Bildbetrachter auf. Ein Gefühl des Einsseins mit sich selbst zerfällt ähnlich wie in der Regression der Traumatisierung durch Gefühle absoluter Hilflosigkeit und Überwältigtsein.

Auf der Ebene der psychotischen Organisation der Persönlichkeit ist der Patient bedroht durch den Zerfall der körperlichen Ganzheit eines kohärenten Körperselbst. Diese körperlichen Selbstentfremdungserlebnisse (traumatogene Depersonalisation, Derealisation, Dissoziation) werden häufig durch autoaggressive Handlungen, wie Schneiden, Brennen, Haare ausreißen usw. abgemildert. Dieses Körperagieren kann nach Küchenhoff [14] nicht mehr als Ausdruck einer aus der realen Interaktion abgespaltenen Beziehungsinszenierung verstanden werden, sondern er beschreibt folgende Lesart: „...:durch das intensive Behandeln (das wie ein Misshandeln erscheint) soll eine Markierung gesetzt werden, eine spürbare Grenze eingeführt werden - der Schnitt in die Haut, das Brennen der Haut mit Zigaretten etc. soll eine Einschreibung erzwingen, ist die konkretistische Inszenierung einer Einschreibung. Das Körpersymptom kann nicht als signifikant gedeutet werden, der auf andere verweist, vielmehr soll durch diese Setzung überhaupt die Lesbarkeit der Welt wiederhergestellt werden” (S. 31). Die Narbe, die bleibt, ist somit ein Verweis auf die Selbst-Geschichtlichkeit [15], eine Beschwörungen gelebter Zeit, als letztem Halt vor einem Sturz in ein Nichts ohne Zeit und Raum. Nach diesem letzten Punkt kommt die Selbst-Zerstückelung - die Ausmerzung des als lebensunwert gefühlten Lebens.

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c. Das Schweigen und die Stille

Zwischen 1945 - 52 sorgte die amerikanische Besatzungsmacht mit einer strengen Zensur in Wort- und Bildmedien dafür, die Erinnerungen an die Ereignisse von Hiroshima und Nagasaki in der japanischen Bevölkerung zu verdrängen. Am 17. August 1952, einige Monate nach dem Inkrafttreten des Friedensvertrages mit den USA, brachte Japans größte Illustrierte „Asahi Graph” einen Sondernummer mit den bisher unter Verschluss gehaltenen Fotos von den ersten Stunden nach der Atombombenkatastrophe heraus. „ Es handelte sich um technisch unvollkommene, oft unscharfe und verkratzte Aufnahmen, die unmittelbar nach dem Bombenabwurf gemacht worden waren. Dennoch war der Eindruck, den diese Höllenbilder machten, ungeheuer. Sie lösten in Japan einen Welle des Entsetzens und Sympathie für die Opfer des „Pikadon” aus. Nun erschienen in schneller Folge Artikel, Augenzeugenberichte, Romane und Filme über dies Thema” [16] p. 267).

Aber nicht nur die Erinnerungen an Hiroshima und Nagasaki standen in Japan auf dem Index, auch die Auseinandersetzung mit der Kriegsverbrechern der Japanischen Arme, die Massenvergewaltigungen in Korea und die Todesfabriken der „Einheit 731” in der Mandschurei. „Diese berüchtigte Sondereinheit hat mit biologischen und chemischen Substanzen, die der bakteriellen Kriegsführung dienen sollten, jahrelang Menschenversuche an Tausenden von Gefangenen vorgenommen. Die Amerikaner hatten die Ergebnisse dieser Forschungen jedoch als militärisch relevant eingestuft und konfisziert und sich überdies um die weitere wissenschaftliche Kooperation der beteiligten Forscher bemüht. Aus diesem Grund wurden diese Verbrechen in Zusammenhang mit dem Tokyoter Kriegsverbrecherprozess nicht aufgegriffen und auch in den Jahren danach auf Weisung der Besatzungsbehörden geheimgehalten” [17] p.198).

Bis heute herrscht darüber Schweigen in Japan - keine Entschuldigung an Korea.

Im Auftrag des Magazins „The NEW YORKER” war es dem amerikanische Kriegskorrespondent John Hersey im Mai 1946 gegen erheblichen Widerstand von Seiten der amerikanischen Besatzungsbehörden gelungen, nach Hiroshima zu reisen, um über das Ausmaß des Atombombenabwurfs vom 6. August 1945 zu recherchieren. Seine Reportage, die als Buch vorliegt, wurde von der Journalistenschule der New Yorker Universität zur „Reportage des Jahrhunderts” erklärt. Trotz aller Schwierigkeiten gelang es Hersey, 6 Überlebende des 6. August 1945 zu interviewen. In den Augen der gesunden und normalen Japaner, die den August 1945 überlebten, waren die Menschen in Hiroshima eine eigene Kaste der Gebrandmarkten, der „Hibakusha”. „Hi” heißt Leiden, „baku” bedeutet Bombe, „sha”: Mensch - über sie zu reden war in den Augen der Japaner peinlich. Es dauerte mehrere Jahrzehnte, ehe diesen Menschen staatliche Hilfe zuteil wurde, sie eine Entschädigung erhielten - auch eine Form des großen Schweigens.

Zu dem Thema „Ein Blitz ohne Donner” heißt es in dem Buch von Hersey [18]:

„Man hörte nichts von einem Flugzeug. Der Morgen war still, der Ort kühl und angenehm. Da zerriss ein grauenvoller Lichtblitz den Himmel. Tanimoto erinnert sich genau, dass der Blitz von Osten nach Westen ging, von der Stadt nach den Bergen. Es war sozusagen ein flammendes Stück Sonne.(...) Da nun sein Gesicht an dem Stein lag, sah er nicht, was sich ereignete. Er spürte einen plötzlichen Druck, und dann regnete es Holzsplitter und Holzstücke und Bruchstücke von Ziegeln über ihm. Er hörte kein Getöse” (p. 34). Fast keiner der Einwohner von Hiroshima erinnert sich, ein Geräusch von der Bombe vernommen zu haben. Aber ein Fischer in seinem Sampan auf dem Binnenmeer bei Tsuzu sah den Lichtblitz und hörte eine furchtbare Explosion. Er befand sich etwa 20 Meilen von Hiroshima entfernt. Im Auge des Typoons ist es still.

Zu der Stille heißt es:

„Als Tanimoto, immer noch das Becken in der Hand, den Park erreichte, war dieser schon gedrängt voll, und es war nicht leicht, die Toten von den Lebenden zu unterscheiden; denn die meisten lagen still, mit offenen Augen da. Pater Kleinsorger, dem Ausländer, war das Schweigen im Heim am Flusse, wo Hunderte schauerlich Verwundeter gemeinsam litten, eines der grauenvollsten und furchtbarsten Erlebnisse seines ganzen Lebens. Die Verletzten waren still; keiner weinte, geschweige denn schrie vor Schmerzen; keiner beklagte sich; von keinem der Sterbenden hörte man einen Laut. Nicht einmal die Kinder weinten und nur sehr wenige Menschen sprachen. Und als Pater Kleinsorger einigen, deren Gesicht durch eine Stichflamme fast ausgelöscht war, Wasser reichte, nahmen sie ihren Teil, erhoben sich ein wenig und verbeugten sich dankend vor ihm”. [18]p. 90 - 91)

Wir blicken in einen gekachelten Raum, keine Türe, kein Fenster. Eine tote Lichtquelle ist zu sehen, und vor uns an der Stirnwand spiegelt sich helles Licht in dem Weiß der Kacheln, vielleicht ein Blitzlicht eines Fotoapparates, eines Scheinwerfer, der Lichtblitz der Bombe? Man blickt in einen hell erleuchteten Raum, die Gegenstände und menschlichen Wesen werfen keine Schatten. Wir, die Zuschauer, sind wir auch die Täter dieses Szenarios? Haben wir dieses menschliche Chaos angerichtet und blicken, wie in die Dunkelzelle eines Folterkellers durch einen Türspion auf unser Werk - unser inneres Auschwitz? Vor uns die Opfer, die Zeichnung wie ein Foto, von einem Lichtblitz erhellt, der etwas verborgenes, tief drin verborgenes, aufleuchten lässt. Eine Momentaufnahme, Protokoll eines Verbrechens.

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d. Der Verlust der Form

Am Morgen des 9. August, 2 Minuten nach 11 Uhr, fiel die zweite Atombombe auf Nagasaki.

Als Fräulein Sasaki ca. 5 Wochen nach dem Abwurf der Atombombe in ein anderes Spital verlegt wurde, gibt sie zu Protokoll:

„Von den Dingen, die sie sah, ließ ihr eines besonders kalte Schauer über den Rücken laufen. Über allem, über den Trümmern der ganzen Stadt, im Rinnstein, längs der Flussufer, auf Ziegel- und Blechdächern, auf verkohlten Baumstämmen, über allem lag eine Decke von frischen, lebhaften, saftigen, optimistischem Grün - es wuchs sogar aus den Fundamenten zerstörter Häuser empor. Schon verbarg das Unkraut die Asche, und wilde Blumen blühten aus dem Skelett der Stadt. Die Bombe hatte die unterirdischen Organe der Pflanzen nicht nur verschont - sie hatte ihr Wachstum angeregt. Überall sah man die spitzen Yuccablätter, Gänsefuß, Schwertlilien, Bohnen mit beharrten Früchten, Portulak und Sesam und Heidekorn und Fieberkraut... Man hat den Eindruck, als wäre zugleich mit der Bombe eine Ladung Sennessamen mit abgeworfen worden.” [18] p.148 - 149).

Mit der Badezimmerserie unterschied sich On Kawara sehr von der bildlichen Raumauffassung seinen Kollegen in Japan der 50-er Jahre. Diese ikonographischen Bilder wurden häufig von europäischen oder japanischen Betrachtern unmittelbar mit den Bilder der Atombombenangriffe oder des Holocaust des 2. Weltkriegs assoziiert.

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Abbildung 8: On Kawara, Bathroom Blatt 28

Die Bombardierungen von Hiroshima und Nagasaki und die Konzentrationslager wie Auschwitz/Birkenau waren Vorzeichen für ein Zeitalter, in denen der menschliche Tod des einzelnen nichts galt - die Zeit geriet aus den Fugen und mit ihr der Raum. Obwohl die Pocken in Japan zu dieser Zeit ansteckend waren, sind in Verbindung mit Hiroshima die Gestalten im Badezimmer mit deren gesprenkelten Haut Erinnerungen an die furchtbaren kelloiden Hautveränderungen der Bombenopfer, die uns von vielen Bilder vertraut sind.

Dieses Gefühl von „visuellem Schwindel” beim Betrachten der Bilder machte auf mich einen tieferen Eindruck, Kawaras Kraft und Fähigkeit, den Raum darzustellen, überwältigte mich. Um On Kawaras Vision von Zeit und Raum, der aus den Fugen geht darzustellen, platziert er die Objekte und die menschlichen Figuren wie in einem Container, der Raum wird eingedrückt, gedreht, gestaucht, gefaltet entlang unsichtbaren Achsen. Auch die Ecken des Malgrundes sind abgeschnitten, als ob das Gesetz der Rechtwinkligkeit, der verlässlichen Form völlig außer Kraft gesetzt werden sollten. Es ist ein Beispiel der extremsten Form der Darstellung und Vernichtung des Raumes.

Und die Erzählgeschichte der 28 Bilder: Sie beginnt mit der Vergegenständlichung des menschlichen Körpers, geht über zur Fragmentierung von Körperteilen, dann zu Wucherung und Vermehrung dieser Fragmente und endet mit einer Verwandlung in nichts mehr als Unrat, Abfall, Teile-Lager mechanischer Roboter.

In dem Motiv des geschlossenen Raums und seiner Unentrinnbarkeit scheint mir aber noch ein weiteres Motiv versteckt zu sein. Um diese Frage zu beantworten greife ich auf einen Aufsatz von On Kawara vom Juli 1956 zurück, wo er einen ziemlich seltenen Beschreibung seiner inneren Bilder von sich als Künstler preisgibt. Er berichtet dort von einem Traum, in dem er mit einer „großen Menge einer enormen träge-schwammigen weißen Masse” zusammenstieß. Diese Masse dehnte sich plötzlich aus und blockierte sein Wahrnehmungsfeld: „... als wenn ich am Fuß eines unglaublich, unendlich hohen Gebäudes stünde.” Aber diese großen Massen waren zuerst „nichts als Bakterien”. Am Ende wundert sich Kawara: „Wenn Quantität ein bestimmtes Ausmaß erreicht, bedeutet dies nicht notwendigerweise auch ebenfalls einen Wechsel in der Qualität?” (Zitiert nach [10] p. 61).

Es geht also um wuchernde Vermehrungen: die Bakterienmassen in seinem Traum, um Pockennarben auf der Haut in der Figuren in der Badezimmerserie, um sich ausbreitende Schimmelpilze an der Wand, um Würmer am Boden aber auch um Schwangerschaft und Missgeburt. Dies alles repräsentiert Infektion, Krankheit und Wirkung von atomarer Verstrahlung. Auch in früheren Bildern wie „Der denkende Mann” oder „Die Ereignisse im Lagerhaus” ( siehe dazu [19] ) findet sich das Thema der Wucherungen. Der Körper des denkenden Mannes ist bedeckt mit schlimm aussehenden Hautinfektionen, Ulzera und Beulen, die Wand, der Tisch und der Boden und die Frau des Schlachters scheint mit Pilzen verunreinigt. Unhehemmtes, explosionsartiges Wachstum an einem Ort der sterilen Reinheit, der rituellen Sauberkeit. Entgrenzte Proliferation scheint eine einzigartige Qualitätsveränderung hervor zubringen, die jenseits eines kritischen Punkt in eine Katastrophe führt - ich muss an die kritische Masse von Plutonium denken, die erreicht werden muss, damit die Atomreaktion in Gang kommt. Für mich repräsentiert das gekachelte Badezimmer die Unschuldigkeit und gleichzeitig die Krankheit, die Form, die über alle Grenzen wächst und sich selbst zerstört.

Noch einmal Reemtsma [12]:

„Ich kann wahrscheinlich niemandem plausibel machen, der nicht ähnliches erlebt hat, dass das wirklich Furchtbare die absolute Hilflosigkeit, das Ausgeliefertsein ist. Es wird damit ein Stück Menschsein negiert, das im Tode erhalten bleibt, weil man es vor dem Tod über das Sterben hinaus phantasieren kann. Wer sein Testament macht, verfügt über den Tod hinaus, er ist, jedenfalls in seiner antizipierten Phantasie, über den Tod hinaus „da”. Wer vollständig ohnmächtig ist, ist bei lebendigem Leibe nicht mehr „da”. (S.95).

Das ist es: dass die Menschen, die in diesem Bild völliger Abhängigkeit und Hilflosigkeit in einen Raum gepfercht sind, eigentlich nicht mehr da sind - dass sie sich auflösen, dass sie zerfallen, ihre Form verlieren und dort, wo das Trauma das Grauen in seiner Quantität ein Maß erreicht, dass ein Qualitätssprung einsetzt, dass dort das Schreckliche sich in etwas verwandelt, was die Züge des Menschlichen verliert: Die Figuren ab dem 23. Bild erscheinen wie Puppen, wie ein Reparaturlager einer Puppenfabrik, ein Ersatzteillager, aus denen Puppen und Roboter sich zusammensetzen lassen, aber keine Menschen. Der Schrecken von Hiroshima und Nagasaki, aber auch der Holocaust hatte die Menschheit an einen Endpunkt gebracht, der den Menschen als solches in seiner Existenz in Frage stellte.

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e. Der Verlust der menschlichen Identität

Zur Schilderung der Menschen und ihres Leidens erinnere ich mich an folgende Stelle in Herseys Report:

„Am anderen Ufer, auf einer höher gelegenen Landzunge, hob er die schleimigen, lebenden Körper heraus und trug sie die Böschung hinauf, aus dem Bereich der Flut. Dabei musste er sich fortwährend sagen: „Das sind menschliche Wesen” [18] p. 106). Oder an anderer Stelle heißt es über die Opfer des ersten großen Experiments bei der Verwendung der Atomenergie: „Als er ins Gesträuch eingedrungen war, sah er, dass es an die 20 Mann waren, alle in dem gleichen grauenvollen Zustand: Ihre Gesichter waren vollkommen verbrannt, die Augenhöhlen leer, die geschmolzenen Augäpfel waren über die Wangen herabgeronnen (sie mussten, als die Bombe fiel, das Gesicht aufwärts gewandt haben; vielleicht gehörten sie zur Luftabwehrmannschaft). Ihr Mund war nur noch eine verschwollene, eitrige Wunde; sie waren nicht imstande, die Lippen so weit zu öffnen, dass man den Schnabel der Teekanne hätte einführen können” (ebenda p.117).

Im Exposé zu dem Film „Hiroshima mon amour” bekennt Marguerite Duras [20] 1964, dass es unmöglich sei von Hiroshima zu sprechen. Alles was man tun könne, sei, darüber zu sprechen, wie unmöglich es ist, über Hiroshima zu sprechen. Das Wissen um Hiroshima sei dabei von vornherein eine beispielhafte Selbsttäuschung des menschlichen Geistes.

Schon die „normalen” Luftangriffe der Amerikaner auf Japan hatten enormen Schaden anrichtet. Tokio z. B. wurde am 10. März 1945 von über 300 B 29-Bombern angegriffen, es wurden 1 700 Tonnen Bomben abgeworfen, 40 % der Stadt völlig zerstört. 100 000 Menschen starben, 1 Million war wohnungslos. Insgesamt haben 120 japanische Städte mehr oder weniger heftig unter diesen Luftattacken gelitten, aber außer Hiroshima und Nagasaki wurden sie alle mit konventionellen Waffen angegriffen. John Whittier Tread [21] schreibt in der Einführung zu seinem Buch „Writing ground zero. Japanese literature and the atomic bomb”: „Der Terror von Hiroshima und Nagasaki besteht nicht nur aus der Anzahl der Toten. Die Bombardierung von Japan und auch von Europa tötete Hunderttausende von Menschen. Was aber heute für unsere Betrachtung der gegenwärtigen Zivilisation in Rechnung gestellt werden muss ist, dass die Menschen dieser 2 Städte damals wie heute gezwungen wurden in einem Kompromisszustand zu leben, der sowohl Leben als auch Tod zur gleichen Zeit bedeutet und dieses Schicksal ist eine Konsequenz der bloßen Tatsache, dass sie einen wohlerwogenen und methodischen, menschlichen Plan überlegt hatten, sie auszulöschen” (p. 8).

Kurihara Sadako [22] verglich Hiroshima mit Auschwitz und schrieb, dass beide die mechanisierte Form der Dehumanisierung von Zivilisation bedeuten: „Die Menschheit hörte, auf Menschheit zu sein und wurde vollständig zu einer Maschine” (S.10). Es ist einfacher, Menschen mit dem Mittel der Gaskammern oder der bodenfernen Zündung von Atombomben zu töten als in einer direkten Konfrontation zwischen Tätern und Opfern. Das Schlimme am Genozid, so schreibt ein Poet aus Hiroshima ist nicht, dass eine riesige Anzahl von Menschen auf einmal getötet wurde, sondern, dass während des Sterbens es nicht länger die Möglichkeit auf einen individuellen, privaten Tod gab - dass auch hier die Privatsphäre aufgehoben war, der Tod quasi veröffentlicht. Das Leiden in den Bildern On Kawaras in diesen Badezimmerzellen hat nichts privates mehr, es ist öffentlich, quasi steril und maschinell in gekachelten Wänden - obwohl doch das Badezimmer der Ort der privaten Intimität, des Rückzugs in einen Schambereich darstellt.

Dieser japanische Holocaust reduziert auch die Menschen von Hiroshima und Nagasaki auf Objekte, auf Nummern, ausgeliefert einer Maschinerie des Sterbens. Der Gebrauch der Atomwaffen repräsentiert den Endpunkt dieser Entwicklung. Früher konnte im Kampf Person gegen Person entscheiden, lasse ich den anderen leben oder töte ich ihn. Die Erfahrungen des zweiten Weltkriegs sagen etwas ganz anderes: Wir können nun uns gegenseitig töten auf eine sehr ähnliche Weise wie wir Würmer mit Pestiziden eliminieren - Zykon B wurde primär von der deutschen Pharmaindustrie als Insektizid entwickelt.

Amerika war für Japan sowohl das Land der „Eroberer” und gleichzeitig der „Befreier”. Denn mit ihnen kamen auch die Möglichkeit von demokratischen Freiheiten und rationaler Autonomie. Zum Teil wurden die Greuel von Hiroshima und Nagasaki auch begrüßt, weil sie den Krieg beendeten und auch ein Ende der japanischen Militärherrschaft setzt. Diese Ambivalenz zeigt sich auch in vielen intellektuellen, schriftstellerisch wie malerischen Verarbeitungsformen durch die Japaner.

On Kawaras Bilderserien spiegelt auch das erneute Bedrohtsein Japans in der Zeit des Koreakrieges wieder. Mehrfach hatten amerikanischen Politiker den Einsatz von Atomwaffen gegen die Kommunistischen Invasoren aus dem Norden in Korea gefordert, vor allem als die Friedensverhandlungen stagnierten. Die Amerikaner brachten immer besser wirksamere Atombomben vor der Haustüre Japans zur Explosion. Am 23.4.1952 titelt eine große Japanischen Tageszeitung: „Blitze der größten Atombomen-Explosion aus 200 km Entfernung beobachtet”. Dies in einer Zeit, in der Japan langsam begann, über die Katastrophen der eigenen Geschichte zusprechen- mit einem Krieg vor der Haustüre, der in Gefahr stand, in einen III. Weltkrieg zu münden. Am 12. November 1952 heißt es in der Zeitung: „Orangefarbene Pilzwolken; U.S. Matrose berichtet über erfolgreichen Wasserstoffbomben-Test”. Der zweite Akte der Zerstörungskatastrophe hatte begonnen, und On Kawara begann zu malen.

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7. Zeichen der Traumaverarbeitung im Werke On Kawaras

Den Vorgang der Traumatisierung kann man sich als eine existenzielle Bedrohung des Ich vorstellen, mit dem zentralen Gefühl von Hilflosigkeit und Überwältigung, mit der darausfolgenden Betäubung der Gefühle, ihrer Erstarrung und einer Spaltung der Persönlichkeit in einen beobachtenden Teil und einer Projektion des Hasses, welcher eigentlich dem Täter gelten sollte, auf den eigenen Körper. Dieser unbewusste Vorgang der Traumaverarbeitung, vom Traumaereignis zum Traumaerlebnis und den daraus resultierenden längerfristigen Folgen für die durch das Trauma induzierten unbewussten Phantasien, lässt sich anhand der Bilder On Kawaras gut verfolgen. Die durch die Reizüberflutung entstehende Überwältigung und Einschränkung der Realitätsprüfung, d. h. der geminderten Fähigkeit Phantasie, Traum und Realität voneinander zu trennen, wird durch die formale Struktur der Bildgetaltung, den Rückgriff auf die Malweise des Surrealismus ausgedrückt. Die für das Trauma typischen Verluste der räumlichen und zeitlichen Orientierung finden sich in der bedrohlichen Auffaltung und Biegung des Raumes, dem Verlust der Orientierung eines eindeutigen Oben und Unten und der Auflösung des Bildformates bis hin zur Überschreitung der Bildgrenze zum Beobachterraum. Der Verlust der zeitlichen Orientierung scheint mir in der exzessiven Vermehrung, der ungehemmten Proliferation deutlich zu werden, die in sich keine strukturierte Ordnung mehr beinhaltet, sondern sich sprunghaft darstellt, mit einer verwirrenden Fülle von Gegenständen und Teilobjekten, die auftauchen und wieder verschwinden. Durch das Ausgeliefertsein an die traumatisierende Umwelt oder auch den Täter verliert das Opfer eine von außen kommende stabilisierende narzisstische Besetzung, bis hin zum Verlust der Form und der Identität.

Amati [23] schreibt:

„Der Gefangene kämpft darum, weiterhin äußere und innere Realität unterscheiden zu können, um zu verhindern, dass das Ganze zu einem schrecklichen Alptraum wird. Hier entscheidet sich, ob man als Person überlebt oder in einen Zustand totaler Verwirrung fällt” (p. 235).

Dieser hermetisch abgeschlossene Raum, wie er sich auch in der Lebenskatastrophe des Sartre Einakters „Hinter verschlossenen Türen” darstellt, der in seiner Unausweichlichkeit die Auflösung der menschlichen Subjektivität fordert, stellt sich bei On Kawara in der Auflösung der Restbestände menschlicher Kultur in geometrische Körper und Zylinder dar, bis hin zu einem technoiden Ersatzteillager, das sich auch in einer Werkhalle zur Konstruktion menschlicher Roboter denken ließe. Die von Traumatisierten beschriebene Depersonalisation, Derealisation entwickelt sich in diesem Raum hin zu einer Teile-Welt menschlicher Ersatzstücke. Betrachtet man nun das Trauma nicht nur unter dem Gesichtswinkel der Analyse der unbewußten Phantasie, sondern lässt auch die ökonomischen und strukturellen Seiten der Konfliktverarbeitung zu, dann scheint der Abwehrmechanismus der Isolierung, der aus ökonomischen Gesichtspunkten eine aktive Ich-Leistung zur Rettung eines Stück Realitätssinns eingesetzt wird, sich in dem Bild ebenfalls wiederfinden: Die Restpersonen scheinen affektfrei „irgendwie” zu funktionieren, das ganze wirkt unwirklich, traumartig, wie in eine Traumrealität verloren.

Dieser Raum, dieser Un-Ort eines grauenhaften Zustandes repräsentiert aus einer anderen Sicht das „traumatische Objekt”, d. h. die Übernahme der Sichtweise des Täters, seiner Verinnerlichung , die Identifikation mit dem Aggressor. Sie gilt also den traumatisierenden Aspekten des Täters (seine Gebote und Verbote, seine Normen und Werte) und sie zielt auf eine Wiederherstellung einer lebensnotwenig erachteten Beziehung zu ihm. Da der zentrale Angriffspunkt das Ich-Ideal es Opfers ist, kann sich das vom Täter propagierte Feindbild als Selbstbild festsetzen und gerät in Konflikt mit den ursprünglichen Werten. Dieses „traumatische Introjekt” legt häufig abgespalten in der Psyche des Menschen Zeugnis ab für die Traumatisierung und muss, wie etwas Fremdes, etwas „Eingefrorenes”, wie etwas „Totes” abgekapselt werden, um nicht die Restpersönlichkeit zu überfluten, zu überwuchern wie Pilze und Würmer. Diese Identifikation mit dem Aggressor, der die Bomben „little boy” und „fat man” in seinen Flugzeugen über Japan abgeworfen hatte, galt die Identifikation der jungen japanischen Generation nach 1945. Es war eine psychisch hoch aufgeladene Situation in Japan, als die USA 1952 der Unabhängigkeit des Landes zustimmten, militärisch präsent blieben, Atombomben zur Explosion brachten und mit deren Einsatz in Korea drohten. Gleichzeitig zeigten die ersten Fernsehbilder, Zeitungen und Reportagen die Vernichtung von Hiroshima und Nagasaki.

On Kawara lässt uns einen Blick auf dieses traumatische Introjekt werfen, eröffnet uns für einen Moment die Türe zu diesen unbewussten Vorgängen und in einer Blitzlichtaufnahme begreifen wir die Schrecklichkeit des Beziehungserlebens auf dem Boden massiver Traumatisierung, wie sie in Japan, aber auch in Auschwitz und an anderen Orten durch die Apokalypse des Krieges den Betroffenen angetan wurde. Was er in der Kriegszeit erlebt haben mag, wissen wir nicht - die Bilder lassen etwas erahnen.

Dieses Zimmer ist das abgespaltene traumatische Introjekt, es ist eine Momentaufnahme des Zustands derer, die Hersey in seinem Hiroshimabericht beschrieben hatte. On Kawaras Vermutung, dass ab einem bestimmten Grad von Quantität sich die Qualität ändert, ist eine Aussage, die gerade auf die Traumatisierung zutrifft. Sind die individuellen Bewältigungsmöglichkeiten einer Bedrohungssituation aufgebraucht, so kommt es zu der oben beschriebenen Gefahr der Destrukturierung unseres psychischen Systems und in deren Folge zum Verlust jeglicher menschlicher Beziehungserfahrung. Das gleiche gilt für Hiroshima, aber auch für die Erfahrung in Auschwitz.

„Im Zentrum der Holocaust-Erfahrung steht der Zusammenbruch des empathischen Prozesses. Die kommunikative Dyade zwischen dem Selbst und seinen guten inneren Objekten bricht auseinander, was absolute innere Einsamkeit und äußere Trostlosigkeit zur Folge hat. Die traumatische Realität zerstört den empathischen Schutzschild, den das verinnerlichte Primärobjekt bildet, und destruiert das Vertrauen auf die kontinuierliche Präsenz guter Objekte und die Erwartbarkeit mitmenschlicher Empathie, nämlich dass andere die grundlegenden Bedürfnisse anerkennen und auf sie eingehen. Im Trauma verstummt das innere gute Objekt als empathischer Vermittler zwischen Selbst und Umwelt”[24] p. 821)

Dieser Verlust des empathischen inneren Anderen, wie Dori Laub schreibt, zerstört die Fähigkeit, das Trauma zu erzählen und sich zu erinnern. Erst in der Gegenwart eines empathischen Zuhörers können die Fragmente über die Vermittlung der Kunst zu einem Narrativ vereint werden und durch die empathische Zeugenschaft des Betrachters, wird das traumatische Ereignis re-externalisiert. Diese Bilder zu betrachten, nicht vor ihnen auszuweichen, ist das mindeste, was wir für die tun können, die bereit waren, uns dieses Grauen mitzuteilen.

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Literatur:

  • 1 Gosztonyi A. Der Mensch in der modernen Malerei. C.H. Beck München; 1970
  • 2 Fischer G, Riedesser P. Lehrbuch der Traumatologie. Reinhardt, UTB für Wissenschaft, 2. Aufl München, Basel; 1999
  • 3 Ferenczi S. Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind. Schriften zur Psychoanalyse Bd. II 1933: 303-313
  • 4 Fischer G. Psychotraumatologie, Kunst und Geschichte. Städt. Museum für Kunst und Design in Nürnberg Nürnberg; In: Katalog der Austellung: Unvollendete Vergangenheit: Verarbeitung des 2.Weltkriegs in der bildenden Kunst in Deutschland und den Niederlanden 2000
  • 5 Laub D. Der Kampf um die Erzählbarkeit des Traumas.  Psyche. 2000;  9/10 860-894
  • 6 Laub D, Podell D. Art and trauma.  Int J Psycho-Anal. 1995;  76 991-1005
  • 7 Ammann J -Ch. On Kawara 1952 - 56, Tokyo. Ausstellungskatalog der Frankfurter Ausstellung im Museum für Moderne Kunst 1994
  • 8 Schwentker W. Hiroshima und Nagasaki. Die Zerstörung der Städte und die Formen der Erinnerung in Japan.  Wissenschaft und Frieden. 1995;  2 75-79
  • 9 Jungk R. Die verdrängte Warnung. Philo Verlagsgesellschaft Berlin; In: Hersey J. Hiroshima 6. August 1945. 8 Uhr 15 1999
  • 10 Yokoyama T. At the Junction of Time and Space. On Kawara in the 1950 s. Parco Co. LTD Tokyo; In: On Kawara 1952 - 1956 Tokyo 1991
  • 11 Sartre J P. Geschlossene Gesellschaft. Rowohlt Reinbek bei Hamburg; 2000
  • 12 Reemtsma J Ph. Im Keller. Hamburger Edition Hamburg; 1997
  • 13 Gosztonyi A. Der Raum. Verlag Karl Alber Freiburg/München; 1976 Band 1 und 2
  • 14 Küchenhoff J. Die Lesbarkeit des Körpers - Psychoanalytische Zugänge zur Somatisierung und Selbstverletztung.  Psychoanalyse -Texte zur Sozialforschung. 2000;  6 17-36
  • 15 Stern D. Die Lebenserfahrung des Säuglings. Klett-Cotta Stuttgart; 1992
  • 16 Jungk R. Strahlen aus der Asche. Scherz Bern-Stuttgart-Wien; 1959
  • 17 Conrad S. Auf der Suche nach der verlorenen Nation. Geschichtsschreibung in Westdeutschland und Japan 1945 - 1960. Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen; 1999
  • 18 Hersey J. Hiroshima-6. August 1945, 8 Uhr 15. Philo Verlagsgesellschaft Berlin; 1999
  • 19 On Kawara 1952 - 1956 Tokyo. Parco Co LTD Tokyo, Japan; 1991
  • 20 Duras M. Hiroshima mon amour. Edition Suhrkamp Stuttgart; 1964
  • 21 Treat Whittier J. Writing Ground Zero. Japanese Literature and the Atomiv Bomb. The Universityof Chicago Press Chicago, London; 1995
  • 22 Sadako K. zitiert in : Whittier Treat J. Waiting Ground zero. Japanese Literature and the Atomic Bomb. The University of Chicago Press Chicago; 1995: 10
  • 23 Amati S. Reflektionen über die Folter.  Psyche. 1977;  31 128-245
  • 24 Bohleber D. Die Entwicklung der Traumatheorie in der Psychoanalyse.  Psyche. 2000;  9/10 797-839
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Autor:

OA Dr. med. Jochen Peichl

Klinik für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin am Klinikum Nürnberg

Prof.-Nathan-Str. 1

90419 Nürnberg

Telefon: 0911-398-2890

Fax: 0911-398-2861

eMail: peichl@klinikum-nuernberg.de

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Literatur:

  • 1 Gosztonyi A. Der Mensch in der modernen Malerei. C.H. Beck München; 1970
  • 2 Fischer G, Riedesser P. Lehrbuch der Traumatologie. Reinhardt, UTB für Wissenschaft, 2. Aufl München, Basel; 1999
  • 3 Ferenczi S. Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind. Schriften zur Psychoanalyse Bd. II 1933: 303-313
  • 4 Fischer G. Psychotraumatologie, Kunst und Geschichte. Städt. Museum für Kunst und Design in Nürnberg Nürnberg; In: Katalog der Austellung: Unvollendete Vergangenheit: Verarbeitung des 2.Weltkriegs in der bildenden Kunst in Deutschland und den Niederlanden 2000
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  • 10 Yokoyama T. At the Junction of Time and Space. On Kawara in the 1950 s. Parco Co. LTD Tokyo; In: On Kawara 1952 - 1956 Tokyo 1991
  • 11 Sartre J P. Geschlossene Gesellschaft. Rowohlt Reinbek bei Hamburg; 2000
  • 12 Reemtsma J Ph. Im Keller. Hamburger Edition Hamburg; 1997
  • 13 Gosztonyi A. Der Raum. Verlag Karl Alber Freiburg/München; 1976 Band 1 und 2
  • 14 Küchenhoff J. Die Lesbarkeit des Körpers - Psychoanalytische Zugänge zur Somatisierung und Selbstverletztung.  Psychoanalyse -Texte zur Sozialforschung. 2000;  6 17-36
  • 15 Stern D. Die Lebenserfahrung des Säuglings. Klett-Cotta Stuttgart; 1992
  • 16 Jungk R. Strahlen aus der Asche. Scherz Bern-Stuttgart-Wien; 1959
  • 17 Conrad S. Auf der Suche nach der verlorenen Nation. Geschichtsschreibung in Westdeutschland und Japan 1945 - 1960. Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen; 1999
  • 18 Hersey J. Hiroshima-6. August 1945, 8 Uhr 15. Philo Verlagsgesellschaft Berlin; 1999
  • 19 On Kawara 1952 - 1956 Tokyo. Parco Co LTD Tokyo, Japan; 1991
  • 20 Duras M. Hiroshima mon amour. Edition Suhrkamp Stuttgart; 1964
  • 21 Treat Whittier J. Writing Ground Zero. Japanese Literature and the Atomiv Bomb. The Universityof Chicago Press Chicago, London; 1995
  • 22 Sadako K. zitiert in : Whittier Treat J. Waiting Ground zero. Japanese Literature and the Atomic Bomb. The University of Chicago Press Chicago; 1995: 10
  • 23 Amati S. Reflektionen über die Folter.  Psyche. 1977;  31 128-245
  • 24 Bohleber D. Die Entwicklung der Traumatheorie in der Psychoanalyse.  Psyche. 2000;  9/10 797-839
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Autor:

OA Dr. med. Jochen Peichl

Klinik für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin am Klinikum Nürnberg

Prof.-Nathan-Str. 1

90419 Nürnberg

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Abbildung 1: On Kawara, Bathroom Blatt 1

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Abbildung 2: On Kawara, Bathroom Blatt 8

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Abbildung 3: On Kawara, Bathroom Blatt 11

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Abbildung 4: On Kawara, Bathroom Blatt 16

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Abbildung 5: On Kawara, Bathroom Blatt 22

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Abbildung 6: On Kawara, Bathroom Blatt 23

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Abbildung 7: On Kawara, Bathroom Blatt 24

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Abbildung 8: On Kawara, Bathroom Blatt 28