Psychotraumatologie 2001; 2(2): 13
DOI: 10.1055/s-2001-15744
Berichte aus der Praxis
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Integrierte Neuropsycho(trauma)-Therapie

Erfahrungsbericht über eine neue Behandlungsmethode für Kinder und Jugendliche im Koma oder anderen existentiellen Ausnahmesituationen in Folge Verletzung des zentralen Nervensystems nach Unfällen oder KrankheitenSabine Emmerich, Manfred Sauer
  • Universitäts Kinderklinik Freiburg
Further Information
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Autoren:

Dipl. Psych. Dipl. Paed. Sabine Emmerich

Goethestr. 16, 79 100 Freiburg

Email: KomaKinder@t-online.de

Prof. Dr. med. Manfred Sauer

Universitäts Kinderklinik

Mathildenstr. 1
79106 Freiburg

Email: sauer@kikli.ukl.uni-freiburg.de

Publication History

Publication Date:
15 August 2001 (online)

 
Table of Contents #

Zusammenfassung

Es wird ein Behandlungsmodell vorgestellt, von dem vor allem Patienten profitieren können, die nach schweren Hirnschäden ins Koma oder in andere existentiellen Ausnahmesituationen geraten sind.

Das Konzept basiert auf der systematischen Gestaltung der Beziehung vom Beginn der Intensivbehandlung an. Die Erfahrungen, auf denen der Bericht beruht, wurden in der Behandlung von insgesamt 45 neurologisch kranken Patienten gesammelt. Die Wirkung des Behandlungskonzeptes wird an einem Beispiel exemplarisch beschrieben.

Die theoretische Basis des Modells ist die Beziehung zwischen Organismus und Umwelt. Wenn ihre Einheit bedroht ist, mobilisiert der Körper Abwehr- und Notfall-Reaktionen. Ihr extremster Ausdruck ist das Koma.

Die anschließende Intensivbehandlung verläuft um so günstiger, je mehr sie Schutz vor erneuter Bedrohung bietet. Bedrohung ist auch beim Patienten im Koma erkennbar. Sie äußert sich in seinem vegetativen Verhalten und seinen emotionalen Reaktionen. Verhalten und Reaktionen im Sinne des Patienten zu deuten, ist eine der zentralen Aufgaben des Konzeptes. Der Algorithmus dieser Aufgabe ist an der systematischen Gestaltung der Beziehung orientiert und gilt für alle medizinischen, pflegerischen und therapeutischen Maßnahmen.

Das Konzept, dessen Setting die traditionelle Behandlung ergänzt, wurde von einem Neurologen und einer Psychotherapeutin entwickelt. Sie führten die Neuropsycho(trauma)-Therapie gemeinsam durch und moderierten gemeinsam die Interventionen des Behandlungsteams.

Die Angehörigen waren von Beginn an in die Moderation und Psychotrauma-Therapie ein bezogen.

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Integrated Neuropsychic (Trauma) Therapy
An empirical report

A form of treatment is described which will be beneficial to patients who have suffered severe brain damage and whose conditions is extremely serios.

The concept is based on a systematic structuring of the relationship between the patient and his/her environment from the beginning of the treatment. This report is based on the experience gained from the treatment of 45 neurologic patients. A case study is described in this report illustrating the results we achieved by this method.

The theoretical basis for this model is the relationship between the human organism and the environment. When its unity is threatened the body responds with a defensive and emergency reaction, the most extreme reaction is being coma.

The more the subsequent treatment can protect the patient from further threats the more successful will it be. Even in coma the patient is able to perceive a threat and responds with vegetative behaviour and an emotional reaction.

A primary function of the treatment is to interpret the behaviour and reaction of the patient from his/her point of view. The algorithm of this function is a systematic structuring of the relationship, and this applies to all medical, nursing and therapeutic measures.

A neurologist and a psychotherapist undertook the implementation of this concept which complemented the conventional medical treatment. They organised the neuropsycho(trauma) treatment together and guided the treatment team (moderation of all interventions). From the beginning the relatives of the patient were involved in discussions about the treatment and in psychotrauma therapy itself. The time scale is as follows:

The first 1 to 3 months of the coma are the most intensive period for structuring of relationship; the following 2 to 3 years must be used for rehabilitating the patient and for integration in everyday life at home, and during the following 1 to 2 years the patient must become orientated towards a gradual transition to normality.

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Vorbemerkungen:

Das Anliegen dieses Berichtes ist, Professionals in der Intensivmedizin und neurologischen Rehabilitation, aber auch betroffene Patienten und deren Angehörige auf ein neues Behandlungskonzept aufmerksam zu machen. In diesem Konzept werden die modernen Erkenntnisse der neurologischen Intensivmedizin und Rehabilitation und der Psycho(traumato)logie so miteinander verknüpft, dass sich auch den Schwerstverletzten nach Koma Entwicklungschancen eröffnen, die eine vollwertige Rückkehr in das Leben ermöglichen.

KOMA: (gr.: tiefer Schlaf). Medizinisch: Begriff für den Zustand der Bewusstlosigkeit mit Verlust der Reagibilität auf verbale und averbale Stimuli. Die Responsibilität dagegen bleibt erhalten.

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Einleitung:

Jährlich verunglücken in Deutschland etwa 50 000 Kinder und Jugendliche. 13 000 von ihnen erleiden schwerste Verletzungen, meist an Schädel und Hirn, und das hat schwerwiegende Folgen für die Rehabilitation. Denn ein solcher Unfall verletzt nicht nur die Körper, sondern auch die Seelen (Psychotrauma) der Opfer wie auch ihrer Angehörigen.

Vor 8 Jahren entwickelten deshalb die Autoren, Sabine Emmerich als klinische Psychologin und Psychotherapeutin und Manfred Sauer als Neurologe und Kinderarzt gemeinsam die Integrierte Neuropsycho(trauma)-Therapie für Patienten und deren Angehörige.

INTEGRIERTE NEURO(PSYCHO)TRAUMA THERAPIE: Im Zentrum der Behandlung steht die Beziehung zwischen Organismus und Umwelt und ihre Aufrechterhaltung als Einheit des Überlebens. Das Konzept schließt die integrierte Moderation der Interaktionen des Behandlungsteams mit ein.

Im Folgenden werden an einem praktischen Beispiel die theoretischen Prinzipien des Modells skizziert:

Beispiel: Sandra war 12 Jahre alt, als sie beim Tauchen in Italien verunglückte. Aufgrund eines Herzstillstandes im Verlaufe des Unfalls erlitt sie schwere Hirnschäden, so das man ihr kaum eine Chance gab, sich wieder zu erholen.

Der Vater erinnert sich: „Nach einer Woche und etlichen Versuchen, sie aufzuwecken, war klar, dass Sandras komatöser Zustand ernst war und nicht schnell mit dem Erwachen zu rechnen war. Diese Befürchtung hatten wir im übrigen schon am 3. Tag, an dem wir ein winziges Augenzwinkern von Sandra wahrnahmen. Unser Hinweis an den Oberarzt wurde nach einer Untersuchung mit der Taschenlampe folgendermaßen kommentiert: „ There is a total demage in her brain”. Für uns brach eine Welt zusammen. Mir kommen heute noch die Tränen, wenn ich über diesen Satz nachdenke. Ich werde die anschließenden Tage nie vergessen, an denen wir abends weinend das Krankenhaus verlassen haben, und auf den marmornen Stufen am Ausgang sitzend darüber nachdachten, ob es für Sandra nicht doch besser gewesen wäre, wenn sie gestorben wäre.”

Im Wachkoma liegend kam sie auf die Intensivstation der heimatnahen Universitätsklinik.

Dort begann man in herkömmlicher Weise mit einer stationären Frührehabilitation, bestehend aus einem multi- und interdisziplinären Pflege -und Therapieangebot. Dazu gehören die Grund- und Behandlungspflege, die medizinische Versorgung und die zur Rehabilitation notwendigen Therapien. Je nach Ausmaß der Verletzungen sind das Physiotherapie, Logopädie, Musiktherapie und anderes.

Sandras Zustand wurde nach mehrwöchiger Behandlung als autistisch-apallisches Syndrom beurteilt. Man nahm an, dass ihr Bewusstsein dauerhaft beeinträchtigt sein würde, was auch der ursprünglichen prognostischen Einschätzung entsprach. Außerdem hatte sich bei ihr eine Störung der Liquorzirkulation mit der Folge eines erhöhten Hirndrucks entwickelt. Um eine zusätzliche Hirnschädigung zu verhindern wurde eine Shunt-Operation durchgeführt (Anmerk.: Durch ein Schlauch- und Ventilsystem, welches die Hirnkammern mit dem Bauchraum verbindet, wird das Nervenwasser abgeleitet).

Dadurch konnte sich der erhöhte Druck wieder normalisieren. Die Behandlung von Sandra sollte zunächst anschließend wie üblich stationär in einem Rehazentrum fortgesetzt werden. Die Eltern besichtigten dementsprechend eine dafür in Frage kommende Einrichtung, und der Vater berichtete: „ Die technischen Voraussetzungen und Möglichkeiten in dem Zentrum erschienen mir optimal. Ebenso ist genügen Personal vorhanden und die Wege sind kurz. Dennoch kommt es mir wesentlich darauf an, eine gewisse Nähe zu haben.

Meine Tochter benötigt, wie alle Kinder in ihrem Alter, noch das Elternhaus. Möglicherweise bekommen wir sie dann eines Tages wieder zurück und müssen feststellen, dass war`s dann. Wir, als Eltern, glauben, durch Nähe kann man vieles erreichen, vor allem nach den Beobachtungen der letzten Tage, in denen sie große Fortschritte gemacht hat, nachdem sie probeweise zum Wochenende nach Hause durfte. Sie kam zum ersten Mal ohne Nahrungssonde aus.”

INTEGRIERTE REHABILITATION: Rehabilitation, welche die Folgen des Neurotraumas berücksichtigt und gleichzeitig einen Rahmen zur Verfügung stellt zur Behandlung des begleitenden Psychotraumas auf seiten des Patienten und auf seiten der Umgebung (Familiensystem, Angehörige etc.)

Alternativ zu diesem Angebot der stationären Rehabilitation hatten die Eltern die Möglichkeit einer ambulanten Weiterbehandlung durch das „Integrierte Behandlungskonzept” kennen gelernt. Nach gründlichem Abwägen und Überprüfen aller Vor- und Nachteile der angebotenen Folgebehandlung entschieden sich die Eltern für die ambulante Weiterbehandlung. Dies vor allem aus den oben genannten Gründen: Für sich und ihr Kind eine Kontinuität in der familiären Beziehung gewährleistet zu sehen und mit dem entlastenden Gefühl weiterhin Team und Familie durch kontinuierliche Moderation betreut zu wissen.

(Das Behandlungskonzept wurde als Pilotprojekt gefördert[1]. In dem Projekt wurden bisher 45 Patienten behandelt, darunter 12 Intensivpatienten.)

Mit dieser Entscheidung begann für Sandra die integrierte Therapie. Die Methode betrachtet die neurologische Schädigung und die seelische Verletzung als zusammen gehörend.

Wie in der traditionellen Rehabilitation basiert das Konzept auf der Zusammenarbeit in einem Team, bestehend aus Ärzten, Schwestern, Pflegekräften und den jeweils erforderlichen Therapeuten. Ergänzend zu dem üblichen Vorgehen werden die Erkenntnisse der Psychotraumatologie in den Prozess der rehabilitativen Maßnahmen mit einbezogen.

In der Theorie des Psychotraumas spielt das Erleben der eigenen Handlungskompetenzen in Relation zu den situativen Anforderungen eine zentrale Rolle.

Kommt es hier zu einer vital bedrohlichen Diskrepanz, werden vom Organismus Notfallreaktionen zum Schutz des Überlebens bereit gestellt. In deren Verlauf kann es zu dissoziativen Vorgängen zwischen Erleben und Bewusstsein kommen [1].

Was geschieht nun, wenn durch Unfall oder schwere körperliche Erkrankungen der Organismus existentiell bedroht ist? Wir haben bei den von uns behandelten Patienten die Erfahrung machen können, dass auch hier als Folge des oben beschriebenen Diskrepanzerlebens Phänomene zu beobachten sind, die bisher bei ausschließlich psychisch traumatisierten Patienten beschrieben wurden.

In diesem Sinne verstehen wir auch das Koma als die radikalste körperliche und psychische Reaktion in Folge einer traumatischen Erfahrung. Es erfolgt hier nicht nur eine Desintegration zwischen Erleben und Bewusstsein im Hier und Jetzt, sondern auch eine Desintegration der Bezogenheit des Individuums durch Rekurrieren des verletzten Organismus auf frühe Stufen seiner Existenz.

(Eine Begründung und ausführliche Darstellung ist an anderer Stelle erfolgt, [2] und [3].)

Dies wird zunächst intuitiv von der Intensivmedizin aufgegriffen und verstärkt, indem der Patient medikamentös von seiner Umwelt abgeschirmt wird (chemisches Koma). Zeigt sich nach der Reduktion des „chemischen Komas”, dass die Folgen des „traumatischen Komas” noch andauern, ist der Patient sehr vulnerabel für eine „kumulative und sequentielle Traumatisierung”. Selbst alltäglich erscheinende Situationen und Begebenheiten können zu „traumatischen Erfahrungen” werden mit negativen Folgen für das Bewusstwerden. Daher müssen während des gesamten Genesungsprozesses (nach unserem Verständnis) beide Dimensionen, die der körperlichen und der seelischen Verletzung, kontinuierlich berücksichtigt werden. Geschieht dies nicht, treten Blockaden für die Wiederherstellung des Bewusstseins auf, wie sie im Falle Sandras vor der integrierten Vorgehensweise entstanden waren.

Auch für Sandra bedeutete die Integrierte Rehabilitation: Sie erwachte vollständig aus dem Koma, statt des üblichen stationären Aufenthaltes von einem Jahr und mehr wurde sie zuhause ambulant betreut, nach 3 Monaten konnte sie schon wieder laufen, und heute - 3 Jahre nach jenem Badeunfall - schwimmt sie wieder, fährt sogar „Inliner”. Außerdem konnte bereits nach ca. ¿ Jahr des ambulanten Therapieprozesses der Shunt-Katheter auf Dauer entfernt werden.

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Integrierte Neuropsycho(trauma) Therapie und Integrierte Moderation

Das Bewusstwerden nach dem Koma setzt voraus, dass bei allen Interventionen die für den Patienten individuelle Relation gefunden wird zwischen seinen Kompetenzen bzw. denen seines verletzten Organismus auf der einen Seite und den situativen Anforderungen auf der anderen Seite. Um hier die dafür optimale Behandlungsmethode zu finden, wurde die Integrierte Therapie und Moderation entwickelt.

Moderation* bedeutet so viel wie: Das „rechte Maß” finden oder „eine Harmonie herstellen” zwischen den Belangen des Organismus und den Bedingungen der Umgebung.

*MODERATION der Komabehandlung und anschließenden Rehabilitation. Im Zentrum der Moderation steht die Rekonstruktion einer harmonischen Passung der Organismus Umweltbeziehung. Integrierte MODERATION betrifft v. a. die Arbeit des Behandlungsteams. Sie erfolgt nach neuro- und psychotraumatologischen Gesichtspunkten.

Methodische Leitlinien sind:

  • „teilnehmende Beobachtung”,

  • „fokussiertes Interview” und

  • „narratives Interview”.

Die ersten Ziele der Integrierten Therapie sind eine Normalisierung des Stressreaktionsprozesses und die zirkadiane Synchronisation des Wach- und Schlafverhaltens langfristig ohne Medikamente, sondern alleine durch die Integrierte Moderation der Organismus-Umweltbeziehung.

Die Notwendigkeit einer kontinuierlichen Moderation zu zweit ergibt sich aus der Schwere der Verletzungen und den daraus bedingt höchst komplizierten Verläufen.

Bei allen so behandelten Patienten wurde eine vollständige Koma-Remission bewirkt, auch bei denjenigen, denen zunächst nach Art und Ausmaß der Verletzungen eine solche Chance nicht eingeräumt worden war. Außerdem konnte die Dauer bis zur kompletten Koma-Remission und damit bis zum Erreichen des vollen Bewusstseins auf ein Drittel der sonst üblichen Zeit verkürzt werden, verglichen zwischen Patienten mit gleich schweren Verletzungen.

Im Rahmen der Moderation der Prozesse profitierte der Neurologe z. B. während der Zeit des Komas von den Beobachtungen der Eltern, die in diesem Falle kleinste Signale von Sandras Körpersprache wahrnahmen, welche den anderen im Team entgingen, und so konnten die Medikamente entsprechend dosiert werden, um die Entwicklung zu fördern, statt zu hemmen.

Das Koma* (dem Entwicklungsstand eines Säuglings vergleichbar) ist nach unserem Verständnis nicht nur ein körperlicher Zustand, sondern auch „ein u. U. schädlicher Schutz vor zu viel Belastung” und verhindert damit eine Öffnung nach außen. Wenn die Medizin mit Medikamenten die Signale dämpft, verhindert sie Öffnung und Wahrnehmung der Umgebung, was wiederum die Entwicklung hemmt.

Für die Behandlung sind mehrere Aspekte des KOMAS* zu berücksichtigen: Der Aspekt der mittelbaren Folge einer Hirnschädigung („läsioneller Aspekt”), der Aspekt eines reaktiven Schutzmechanismus („adaptativer Aspekt”); außerdem lässt sich im Koma eine Regression auf frühere Stufen der psychosomatischen Existenz erkennen („regressiver Aspekt”).

Um Entwicklung statt dessen voranzubringen, war schon auf der Intensivstation Psycho(trauma)-therapeutische Arbeit notwendig.

„Angesichts der enormen Verletzungen nach einem Unfall muss vieles neu gelernt werden und, das ist leichter, wenn es eine sichere Umgebung gibt, in der alle Beteiligten aufeinander abgestimmt sind, Überforderung und Stress vermieden wird”. Gefragt war diese Psycho(trauma)-therapeutische Kompetenz aber auch nach dem Koma: Auf der einen Seite erlebte sich Sandra als pubertierende Jugendliche mit den entsprechenden Gefühlen, auf der anderen Seite machten ihr die aus dem Koma mitgenommenen „Defizite” zu schaffen, also all das, was sie neu erlernen musste.

„Das führt zu Irritationen in der Selbstwahrnehmung der Patienten und zu Funktions- und Entwicklungsblockaden”.

Solche Blockaden äußern sich vor Bewusstsein und Sprache oftmals allein in neurologischen Zeichen der Patienten, „wenn man aber im Rahmen eines psycho(trauma) therapeutischen Settings auch für solche Intensivpatienten als Arzt ständig am Prozess der Rehabilitation teilnimmt, nimmt man plötzlich ganz unterschiedliche Ausdrucksmöglichkeiten wahr, und das ist aus der Perspektive des Neurologen etwas sehr Neues”. Wer nämlich nur die neurologische Störung als Ausdruck des Defektes im Blick hat, verstellt sich die Möglichkeit neuer neurologischer Erkenntnisse. Die so systematisch angewandte Integrierte Neuropsychotrauma-Therapie dagegen hat gezeigt, dass selbst im Koma ein kreatives Potential versteckt ist, das genutzt werden kann, wenn es entsprechend gefördert wird. Voraussetzung dafür ist allerdings eine Sicherheit, die die Umgebung gibt.

Das heißt, wenn ein solcher Unfall die ganze Umgebung betrifft, wovon nach dem Verlaufsmodell der psychischen Traumatisierung auszugehen ist, dann braucht auch die Familie Begleitung, um nicht zu verzweifeln und selbst diese Sicherheit geben zu können. Auch das ist ein wichtiges Element der neuen Therapieform, das Sandras Vater so erlebte: „Am Anfang hatte ich den Eindruck, dass wir, Eltern und Sandras 3 Geschwister, mehr betreut wurden als sie”. Aus psychotraumatologischer Sicht ist das nur selbstverständlich: „Ein Familiensystem muss nach einem solchen Unfall große psychische und soziale Umorganisationsprozesse leisten”. (Ganz zu schweigen von den „materiellen” Herausforderungen einer ambulanten Versorgung zuhause: Organisieren von Therapeuten, die nach Hause kommen, klärende Gespräche mit Krankenkassen, Beantragen eines Behindertenausweises, sich Informieren über die Pflegeversicherung, behindertengerechte Ausstattung der eigenen 4 Wände).

Gar nicht hoch genug ist deshalb nach den bisherigen Erfahrungen das abgestimmte Miteinander aller Beteiligten einzuschätzen. Mit ihm erweitert sich nicht nur die fachliche Sichtweise der Profis im Team. Dieser Ansatz kommt allerdings auch einer „Umorganisation an der Grenze zum Revolutionären innerhalb der Organisation der Klinik” gleich. „Das passt nicht in den Trott des Klinikalltags”, vermutet Sandras Vater, „ in dem der Patient der Klinik angepasst wird und nicht umgekehrt.”

Abschließend zitieren wir noch einmal eine Darstellung des Vaters zum gesundheitlichen Zustand von Sandra 2 ¿ Jahre nach dem Unfall: „ Durch den Unfall war Sandra auf den Stand eines Neugeborenen zurückgeworfen worden. Dies mit zusätzlichen Handicaps. Der heute erreichte Stand der Gesundung lässt sich wie folgt beschreiben: Der Shunt ist raus; Sandra benötigt keine Medikamente; sie kann wieder gehen; die Feinmotorik ihrer Bewegungen, insbesondere der linken Hand, ist noch eingeschränkt; das Erfassen und Erarbeiten von visueller Information erfordert noch ihre volle Konzentration; sie versteht ihrem Alter entsprechend gesprochene Inhalte; sie selbst spricht noch etwas undeutlich und langsam; ihr Sozial- und Sexualverhalten ist alterskonform; die schulischen Leistungen (Sandra hat Unterrichtstunden in der Klinikschule) sind auf dem Vorschulniveau, d. h. sie kann einen Stift noch nicht richtig halten, sie kann noch nicht lesen und schreiben, hinsichtlich ihrer bisherigen wie auch weiteren Entwicklung gehen wir unter der Voraussetzung, dass die bisherige Behandlung weiter fortgesetzt wird, davon aus, dass Sandra gute Chancen hat, einmal ein eigenständiges Leben führen zu können.”

Als betroffenen Vater haben ihn die Erfolge der neuen Therapiemethode so überzeugt (schließlich verhalf sie inzwischen schon 45 Kindern zu einer erstaunlichen Entwicklung), dass er zusammen mit anderen den Verein „Koma-Kinder, Verein zur Förderung der Integrierten Rehabilitation Schädelhirnverletzter e. V.” gründete.

Es bleibt die Hoffnung auf sog. Drittmittel, Sponsoren, die der Verein gewinnen möchte. Ein schwieriges Unterfangen, weil die neue Therapieform sowohl Medikamente als auch apparative Diagnostik sparen hilft. Da ist das Interesse von deren Anbietern nicht gerade groß, so etwas zu unterstützen. Groß ist allerdings nach den bisherigen Erfahrungen das Interesse von Eltern an der Integrierten Therapie. „Doch die Wünsche sind nicht zu verwirklichen, weil die Rahmenbedingungen nicht stimmen.” Dabei ist zu bedenken, dass „der enorme apparative medizinische Aufwand durch eine Vernachlässigung der Psychotrauma-Therapie letztlich zunichte gemacht wird, weil die ganze Diagnose umsonst ist, wenn keine angemessene Behandlung folgt.”

Vom nicht unerheblichen Eigenanteil der Eltern einmal abgesehen hat Sandras Rehabilitation mit der Integrierten Neuropsychotrauma-Therapie gerade ein Zehntel dessen gekostet, was eine stationäre Rehabilitation verschlungen hätte.

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Literatur:

  • 1 Fischer G, Riedesser P. Lehrbuch der Psychotraumatologie. Vandenhoek und Ruprecht Verlag München, Basel; 1998
  • 2 Sauer M, Emmerich S, Uexküll Th V. Reorganisation des Bewusstseins. Integrierte Therapie bei Kindern und Jugendlichen nach Koma.  Therapiewoche. 1996;  19 1019-1024
  • 3 Sauer M, Emmerich S. Das Bewusstwerden nach Koma. Th. V. Uexküll, W. Geigges, R. Plassmann Schattauer Verlag Stuttgart; Integrierte Medizin

1 Ria Schneider Sozialhilfe GmbH, Freiburg; C.G.Carus Stiftung, Zürich; Kuratorium ZNS -Hannelore Kohl Stiftung, Köln; KomaKinder, Verein zur Förderung der Integrierten Rehabilitation, Freiburg.

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Autoren:

Dipl. Psych. Dipl. Paed. Sabine Emmerich

Goethestr. 16, 79 100 Freiburg

Email: KomaKinder@t-online.de

Prof. Dr. med. Manfred Sauer

Universitäts Kinderklinik

Mathildenstr. 1
79106 Freiburg

Email: sauer@kikli.ukl.uni-freiburg.de

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Literatur:

  • 1 Fischer G, Riedesser P. Lehrbuch der Psychotraumatologie. Vandenhoek und Ruprecht Verlag München, Basel; 1998
  • 2 Sauer M, Emmerich S, Uexküll Th V. Reorganisation des Bewusstseins. Integrierte Therapie bei Kindern und Jugendlichen nach Koma.  Therapiewoche. 1996;  19 1019-1024
  • 3 Sauer M, Emmerich S. Das Bewusstwerden nach Koma. Th. V. Uexküll, W. Geigges, R. Plassmann Schattauer Verlag Stuttgart; Integrierte Medizin

1 Ria Schneider Sozialhilfe GmbH, Freiburg; C.G.Carus Stiftung, Zürich; Kuratorium ZNS -Hannelore Kohl Stiftung, Köln; KomaKinder, Verein zur Förderung der Integrierten Rehabilitation, Freiburg.

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Autoren:

Dipl. Psych. Dipl. Paed. Sabine Emmerich

Goethestr. 16, 79 100 Freiburg

Email: KomaKinder@t-online.de

Prof. Dr. med. Manfred Sauer

Universitäts Kinderklinik

Mathildenstr. 1
79106 Freiburg

Email: sauer@kikli.ukl.uni-freiburg.de