Der Fall Haarmann Teil II: Die Justiz
Hält man sich die damalige juristische Behandlung des Falles
durch das Schwurgericht in Hannover noch einmal vor Augen, so ist -
entsprechend der Technik juristischer Fallbearbeitung - zuerst zu fragen,
ob Haarmanns Verhalten den Tatbestand des Mordes erfüllte. § 211 StGB
hatte zur Tatzeit die folgende Fassung: „Wer vorsätzlich einen
Menschen tödtet, wird, wenn er die Tödtung mit Überlegung
ausgeführt hat, wegen Mordes mit dem Todte bestraft.” Vom
gesetzlichen Tatbestand des § 212 StGB, der den Totschlag
pönalisierte („Wer vorsätzlich einen Menschen tödtet,
wird, wenn er die Tödtung nicht mit Überlegung ausgeführt hat,
wegen Todtschlags mit Zuchthaus nicht unter 5 Jahren bestraft.”),
unterschied sich der Mord danach dadurch, dass letzterer mit Überlegung
ausgeführt wird. Der Begriff der Überlegung wurde damals in der
Rechtsprechung und in der Literatur weithin übereinstimmend in der Weise
definiert, dass für sie die Abwägung der kontrastierenden Motive
wesentlich sei. Sie wurde etwa bestimmt als „diejenige geistige
Beschaffenheit, bei der sich der Täter der von der Handlung abhaltenden
Motive bewusst ist und sie gegen die ihn zur Handlung drängenden Motive
abwägt.” [54] Das Gesetz verlangte
weiter, dass die Überlegung bei der Ausführung der Tat gegeben ist.
Die Zeitdauer zwischen der Fassung des Tatentschlusses und seiner
Ausführung konnte dabei durchaus sehr kurz sein.
Betrachten wir danach die damalige Qualifikation der Taten Haarmanns
als Mord, so kommen allein schon im Hinblick auf die getroffene tatbestandliche
Einordnung ernste Zweifel auf. Haarmann wurde, wie dargestellt, im Augenblick
der Tat von schwersten destruktiven Regungen förmlich überfallen, von
einer Überlegung im Tatzeitpunkt - wie sie das Gericht annahm:
„Alle diese Handlungen hat Haarmann mit vollem Bewusstsein und in klarer
Erwägung über ihren Zweck und Erfolg vorgenommen.”
[55] - kann somit nicht gesprochen werden. Dass
Haarmann sich vorher gelegentlich Gedanken machte über das, was über
ihn hereinbrechen würde und es manchmal geradezu fürchtete, mag
für sich genommen das Merkmal der Überlegung erfüllen, im
Tatzeitpunkt war diese Überlegung jedoch nicht mehr gegeben.
Der Tatbestand wäre allenfalls über die Konstruktion der
actio libera in causa zu halten gewesen, die bedeutet, dass alle Unrecht und
Schuld begründenden Tatumstände, da im Zeitpunkt der unmittelbaren
Tatausführung nicht auffindbar, im Vorfeld der Tat in einem Moment
zusammenkommen müssen. Das Gericht erwähnte diesen Gesichtspunkt
jedoch nur ganz flüchtig und beiläufig.
Hinsichtlich der für ein Schuldurteil erforderlichen
Zurechnungsfähigkeit bestimmte das damals geltende Recht in § 51
StGB: „Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn der Thäter
zur Zeit der Begehung der Handlung sich in einem Zustande von Bewusstlosigkeit
oder krankhafter Störung der Geistesthätigkeit befand, durch welchen
seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war.” Das Merkmal der
Bewusstlosigkeit wurde übereinstimmend im Sinne einer erheblichen
Bewusstseinstrübung interpretiert, da bei Bewusstlosigkeit im strengen
Sinne schon das Element einer strafbaren Handlung nicht gegeben war. Eine
solche erhebliche Bewusstseinstrübung sei anzunehmen, wenn das Bewusstsein
seiner selbst oder der Außenwelt hochgradig eingeschränkt ist. Als
Beispiele hierfür wurden unter anderem genannt: starke Trunkenheit,
Fieberdelirien, Hypnose und epileptische Dämmerzustände sowie
hochgradige Affekte [56].
Die psychiatrische Begutachtung hielt es für möglich, dass
Haarmann an epileptischen Zuständen litt, schloss aber aus, dass solche
Störungen während der Tatausführung vorgelegen hätten. Das
damalige Urteil ist, wenn es in diesem Punkte der psychiatrischen Beurteilung
folgt, zumindest im Ergebnis nicht zu bemängeln, denn es ist wenig
wahrscheinlich, dass es, wenngleich während der genannten epileptischen
Zustände komplexe Handlungen und auch Straftaten vorgenommen werden
können, in solchen Zuständen zu praktisch identischen
Tatausführungen gekommen sein sollte [57].
Zum Thema eines hochgradigen Affekts findet sich im Urteil, das auch
insofern mit der psychiatrischen Begutachtung übereinstimmt, nur ein
einziger Satz: „Die sexuelle Erregung, in der sich Haarmann befunden
haben kann, bewirkt keine Bewusstlosigkeit im Sinne des § 51 StGB.”
[58] Diese Beurteilung des Gerichts ist schwer
verständlich, besonders wenn man sich vor Augen führt, dass das
Tatgeschehen, wie es das Gericht (in der oben zitierten Form) selbst schildert,
ohne die Annahme tiefgreifender und schwerwiegender Affekte gar nicht zu
erklären ist.
Was das Merkmal der krankhaften Störung der
Geistestätigkeit angeht, so konnte nach damaliger Auffassung diese
Störung entsprechend der Kraepelinschen Einteilung auf allen Gebieten des
geistigen Lebens hervortreten: bei einem Vorgang der Wahrnehmung, der
Verstandestätigkeit, des Gefühlslebens, des Wollens oder des
Handelns. Der Begriff der Krankhaftigkeit bedeutete damals nach
überwiegender Auffassung über die Abweichung vom Normalen hinaus die
organische Bedingtheit der Abnormität [59]. So
wurde auch der Fall des sogenannten „moralischen Irreseins”
(moral insanity) bei Fehlen einer zusätzlichen besonderen pathologischen
Grundlage nicht unter die zweite Variante des § 51 StGB subsumiert
[60]. Insofern war die Argumentation des Gerichts
schlüssig, wenn es das Vorliegen eines im Sinne des § 51 StGB
relevanten Schwachsinns trotz der intellektuellen Zurückgebliebenheit
Haarmanns verneinte und in gleicher Weise auch die fehlerhafte moralische
Einstellung Haarmanns („... besonders tief steht er aber in moralischer
Beziehung” [61]) für nicht
strafrechtserheblich hielt, nachdem im psychiatrischen Gutachten
körperliche Besonderheiten, insbesondere eine organische Hirnerkrankung,
ausgeschlossen wurden. Und auch wenn das Gericht bei Haarmann das
Krankheitsbild der Hebephrenie, wiederum dem psychiatrischen Gutachten folgend,
verneinte, wird man ihm zumindest im Ergebnis angesichts des damaligen Standes
psychiatrischen und psychodiagnostischen Wissens zustimmen können.
Insgesamt muss an der psychiatrischen Begutachtung, auf die sich das
Gericht einschränkungslos stützte, kritisiert werden, dass ein
Gesamtbild der Persönlichkeit Haarmanns und ihres Einflusses auf die
Tatbegehung auch nur in deskriptiver, eine gewisse Einfühlung verratender
und damit ein Mindestmaß an Verständnis ermöglichender
Darstellung nicht entworfen wurde. Vor allem fehlte eine vollständige
biographische Anamnese unter Einschluss von Kindheit und Jugend. Entscheidend
fällt ins Gewicht, dass die zentrale Frage nach der in der Tat zutage
tretenden Dynamik destruktiver und sexueller Affekte nicht einmal gestellt,
geschweige denn beantwortet wurde, und dies, obwohl § 51 StGB wie
dargestellt unter dem Merkmal der „Bewusstlosigkeit” eine
Behandlung dieses Themas verlangte und obwohl der Begriff der Perversion der
zeitgenössischen Psychiatrie (wenn auch mit einer gegenüber dem
heutigen Begriff abweichenden ätiologischen Fundierung) seit längerem
geläufig war [62]. Freilich muss bei dieser
Kritik berücksichtigt werden, dass in der psychiatrischen Wissenschaft zu
damaliger Zeit unter dem maßgeblichen Einfluss der Lehren Kraepelins
Einfühlung und Verstehen keinen allzu hohen Kurswert besaßen. Neben
der illegitimen thematischen Beschränkung fällt eine gewisse
tendenziöse Parteilichkeit des Gutachtens auf, ferner eine Vermischung von
Tatsachenfeststellung und Werturteil, sowie eine deutliche Überbetonung
strafrechtlicher Kontrollaspekte.
Das Gericht schloss sich der psychiatrischen Begutachtung gleichwohl
in vollem Umfang an und ließ es damit an der kritischen Distanz ihr
gegenüber entgegen der Vorschrift des Gesetzes in § 261 StPO in
nennenswertem Umfang fehlen. Die genannte Vorschrift normiert damals wie heute
den Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung. Danach ist die
persönliche Überzeugung des Richters von der Schuld des Angeklagten
entscheidend. Auch wenn vor Gericht ein Sachverständigen-Gutachten
erstattet wird, darf das Gericht das Gutachten nicht automatisch und
ungeprüft übernehmen, sondern muss sich durch den
Sachverständigen sachkundig machen lassen und danach über die
mitgeteilten Tatsachen sowie über deren Bewertung in eigener Verantwortung
entscheiden. Zu solch eigenständiger Betrachtung und Beurteilung
hätte die offenkundige und gleichsam ins Auge springende Psychopathologie
Haarmanns - wie sie auch in den psychiatrischen Protokollen hervortritt
- und vor allem die mehr als merkwürdige Form der Tatbegehung
besondere Veranlassung geben müssen.
Man wird deshalb zusammenfassend feststellen können, dass
selbst bei Berücksichtigung der damals gegenüber heute
eingeschränkten Möglichkeiten psychiatrischer Diagnostik und des
seinerzeit engeren gesetzlichen Rahmens eine Ausschöpfung des damaligen
psychiatrischen Wissensstandes zu ernsten Zweifeln an der
Zurechnungsfähigkeit Haarmanns im Tatzeitpunkt hätte führen
müssen [63]. Danach hätte bei
pflichtgemäßer richterlicher Überzeugungsbildung und bei
Berücksichtigung des in dubio - Prinzips ein Schuldspruch und ein
entsprechender Strafausspruch nicht erfolgen dürfen. Maßregeln der
Besserung und Sicherung kannte das damalige Recht noch nicht. Das Polizeirecht
erlaubte jedoch die unter Umständen unbefristete Unterbringung in einer
Heil- und Pflegeanstalt. Es bleiben freilich gewisse Zweifel, ob das damalige
Urteil nicht - unter Voraussetzung der seinerzeitigen psychiatrischen und
juristischen Mittel der Wahrheitserforschung - bei einer regelgerechten
juristischen Würdigung aufgrund des Gesichtspunkts der actio libera in
causa hätte Bestand haben können. Das Gericht betrachtet den Fall
unter diesem Gesichtswinkel nur ganz kurz und beiläufig. Man wird indessen
annehmen können, dass eine erschöpfende gutachterliche und
richterliche Wahrheitsermittlung auch der Anwendung dieser Konstruktion die
sachverhaltliche Grundlage entzogen hätte.
Man muss für eine gerechte Würdigung des hannoverschen
Urteilsspruchs freilich immer bedenken, dass das Gericht wie auch die anderen
Prozessbeteiligten dem enormen Druck einer ganz Deutschland erfassenden
öffentlichen Erregung ausgesetzt waren, die ihr Urteil längst
gesprochen hatte. Sehr genau erfasste der wahrnehmungsfähige und
empfindsame Theodor Lessing, der am Prozess teilnahm, den Zusammenhang zwischen
der Macht der öffentlichen Meinung und dem Mangel an gesundem
Alltagsverstand, einfühlendem Verstehen und besonnener Redlichkeit auf
Seiten des Justizpersonals. Er schrieb [64]:
Es bedarf also nur des menschlichen und sachlichen
Fühlungnehmens. Gegen diese Grundsätze sündigte das Hannoversche
Gericht in fast unbegreiflicher Weise. Man rechtsprechelte fürs Auge. Man
versuchte gleichzeitig mit der Entscheidung der Rechtsfälle auch die
Prüflese der ‚öffentlichen Meinung‘ einzuleiten.
Fortwährend brachten Gerichtsdiener die neuesten Zeitungsblätter. In
dem überhitzten Saal, 10 Tage lang von früh bis spät,
unausgeschlafen, überrege und überarbeitet, Stuhl an Stuhl sitzend,
vermochte keiner etwas anderes zu erfühlen als nur sich selber.
Abschließend soll der Frage nachgegangen werden, wie wohl die
gegenwärtige strafrechtliche Behandlung des Falles aussehen
würde.
Aus heutiger psychiatrischer Sicht [65]
ist angesichts erweiterter und verfeinerter Methoden der Diagnostik und unter
Einbeziehung einer tiefenpsychologisch orientierten dynamischen
Betrachtungsweise bei Haarmann von einer schweren
Persönlichkeitsstörung (im Sinne einer Perversion wie dargetan)
auszugehen, die durch eine hinzutretende hirnorganische Beeinträchtigung
akzentuiert wurde.
Nach heutigem Recht wäre Haarmanns Verhalten tatbestandlich als
Totschlag nach § 212 StGB zu werten. Die Mordqualifikation des § 211
StGB (Abs. 2 : „Mörder ist, wer ... zur Befriedigung des
Geschlechtstriebes ... einen Menschen tötet.”) griffe im Ergebnis
nicht ein.
Das Gesetz ordnet das Motiv der „Befriedigung des
Geschlechtstriebes” unter die „niedrigen Beweggründe”
ein und spricht damit Fälle an, in denen das Töten als Mittel der
geschlechtlichen Befriedigung benutzt wird. Den Tatbestand des Mordes
verwirklicht danach, wer in der Tötungshandlung selbst sexuelle
Befriedigung sucht wie im Falle des sogenannten „Lustmordes”, wer
tötet, um sich an der Leiche zu vergehen oder wer bei einer Vergewaltigung
den Tod des Opfers in Kauf nimmt. Der Begriff des Geschlechtstriebes hat hier
dem Alltagsverständnis entsprechend eine ersichtlich engere Bedeutung als
der psychoanalytische Terminus der Psychosexualität. Auch ist der vom
Gesetz verwendete Begriff des Beweggrundes weder definitorisch leicht und
zweifelsfrei zu fassen noch als geistig-seelisches Faktum ohne
Verzerrungen feststellbar. Letzteres gilt besonders für den Fall der
Perversionen, in denen das sexuelle Moment der Stabilisierung einer labilen
psychischen Struktur dient. Entscheidend jedoch gerade im Hinblick auf den Fall
Haarmann ist die Tatsache, dass in den Fällen einer
Perversionsentwicklung, die zur wiederholten Vornahme von
Tötungshandlungen geführt hat, die Abwehr schwerster
sadistisch-destruktiver Regungen durch eine ritualisierte sexuelle
Inszenierung nicht mehr gelingt und der Zusammenbruch dieses Abwehrmechanismus,
da in keiner Weise bewusst und steuerbar, nicht die besondere Verwerflichkeit
der Gesinnung des Täters zum Ausdruck bringt, die das Gesetz mit der
Nennung der Mordmotive voraussetzt [66].
Wird danach die Tötungshandlung des strukturell Perversen
richtigerweise nicht dem Tatbestand des Mordes unterworfen, weil es hierbei
nicht um die Suche nach sexuellem Lustgewinn, sondern um die verzweifelte
Abwehr einer außer Kontrolle geratenen destruktiven Symptomatik geht, die
sich allerdings einer sexuellen Form (häufig geringen Erregungsgrades)
bedient, so führt gerade der letztgenannte Umstand dazu, dass die
erstinstanzlichen Gerichte sich vielfach an der Oberfläche des Geschehens
orientieren, die Funktion und die Rolle der Sexualität des Täters im
Gesamtkomplex seiner Psychopathologie nicht sehen und so zur Annahme eines
Mordes gelangen [67]. Diese Fehleinschätzung
wird oft dadurch begünstigt, dass selbst in Fällen schwerer
Perversionsbildung eine unauffällige, sozial angepasste Lebensführung
nicht selten gelingt, weil die sexuellen Phantasien kontrolliert ausagiert die
Stabilisierung eines zerrissenen und anfälligen
Persönlichkeitsgefüges erlauben [68].
Die Frage der Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen
regelt das heutige Recht in § 20 StGB. Dort heißt es: „Ohne
Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen
Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen
Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig
ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu
handeln.” Die Frage der verminderten Schuldfähigkeit wird in §
21 behandelt.
Üblicherweise wird die Problematik schwerer Perversionen unter
dem Merkmal der „schweren anderen seelischen Abartigkeit”
diskutiert. Hier findet sich in der Rechtsprechung und in der Literatur unter
dem Titel der Triebstörung als ständig wiederholter Obersatz, der die
Subsumtionsarbeit leitet, die folgende Formulierung [69]: „ Eine schwere andere seelische Abartigkeit
(§§ 20, 21 StGB) in Form einer Triebanomalie kommt in Betracht, wenn
die geschlechtliche Triebhaftigkeit des Täters - bei normaler
Ausrichtung - derart ausgeprägt ist, dass ihr der Täter selbst
bei Aufbietung aller ihm eigenen Willenskräfte nicht ausreichend zu
widerstehen vermag, oder wenn sie den Täter in seiner gesamten inneren
Grundlage und damit im Wesen seiner Persönlichkeit so verändert, dass
er zur Bekämpfung seiner Triebe nicht die erforderlichen Hemmungen
aufbringt, selbst wenn der abnorme Trieb nur von durchschnittlicher Stärke
ist.” Obwohl die Formulierung der allein in Betracht kommenden zweiten
Alternative etwas ungelenk ist und mit ihrer Vorstellung einer kausal wirkenden
geschlechtlichen Triebhaftigkeit auf die Fälle der Perversion nicht recht
passt, finden sich neuerdings in der höchstrichterlichen Rechtsprechung
[70] und im juristischen Schrifttum
[71] Stimmen, die sich bemühen, der Formel einen
Gehalt zu geben, der dem Wesen der Perversion gerecht wird. So wird erkannt,
dass die perverse Problematik nur im Wege einer Ganzheitsbetrachtung zu
erfassen ist, die das Bild der Persönlichkeit des Täters
einschließlich ihrer Entwicklung und ihrer Auswirkung auf die Tat
umfasst. Auch wird der Abwehrcharakter einer Perversion angesprochen und
erkannt, dass selbst schwere sadistische Perversionsbildungen mit ausgesprochen
unaggressivem Sozialverhalten und vordergründig guter gesellschaftlicher
Eingliederung durchaus vereinbar sind [72].
Schließlich werden Leitsymptome einer für Perversionen typischen
sogenannten süchtigen Entgleisung genannt: Verfall an die Sinnlichkeit,
zunehmende Frequenz des sexuellen Vollzugs bei abnehmender Befriedigung,
Promiskuität und Anonymität sowie progredienter Ausbau von Phantasie
und Praktik [73].
Natürlich sind Rechtsprechung und juristische Wissenschaft
insgesamt noch weit entfernt davon, auf dem zugegebenermaßen schwer
zugänglichen Terrain der Perversionen auf allgemein gebilligten und
gesicherten Wegen zu einer sachangemessenen Lösung zu gelangen. Gleichwohl
wird man unter den heutigen Bedingungen die Auffassung vertreten können,
dass Haarmann bei sachkundiger anwaltlicher Vertretung und bei Hinzuziehung
eines tiefenpsychologisch versierten Sachverständigen gute Chancen
hätte, wegen Schuldunfähigkeit der gerichtlichen Verhängung
einer Strafe zu entgehen. Freilich würde das Gericht in seinem Falle als
Maßregel der Besserung und Sicherung die Unterbringung in einem
psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB anordnen. Eine solche unter
Umständen lebenslängliche Unterbringung wird zwingend vorgeschrieben,
„wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt,
dass von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu
erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich
ist”, Voraussetzungen, die bei Haarmann fraglos zu bejahen wären.
Damit wäre Haarmann auch unter den Umständen der Gegenwart ein
trauriges Los beschieden.
Der Vollzug der Maßregel in einem psychiatrischen Krankenhaus
wird im wesentlichen von Sicherheits-, Ordnungs- und Verwaltungsinteressen
bestimmt und leidet unter baulichen, personellen und finanziellen
Engpässen [74]. Soweit überhaupt von einer
Therapie im engeren Sinne gesprochen werden kann, handelt es sich in aller
Regel um symptomatisch orientierte medizinisch-pharmakologische Einwirkungen.
Ein umfassendes und differenziertes, die diversen Möglichkeiten moderner
Behandlungsansätze berücksichtigendes Therapiekonzept fehlt.
Besonders für den Sexualdelinquenten läuft die Maßregel der
Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus zuallermeist auf einen
Verwahrvollzug mit einer „triebdämpfenden” pharmakologischen
Behandlung hinaus. Erfolgversprechende und in der praktischen Anwendung
überprüfte psychotherapeutische Verfahren werden aufs Ganze gesehen
nicht genutzt.
Gerade auf dem Gebiet der Perversionsbehandlung wurden auf der
Grundlage tiefenpsychologischer Erkenntnisse unter Einbeziehung von Elementen
verhaltenstherapeutischer und lerntheoretischer Auffassungen in den letzten
Jahrzehnten Therapiekonzeptionen entwickelt und mit Erfolg erprobt
[75], die in einen humanen Maßregelvollzug
- bei aller Anerkennung des Ausmaßes der zu überwindenden
Schwierigkeiten - hätten Eingang finden müssen. Erwähnt
sei hier ferner das seit einem halben Jahrhundert in Holland mit Erfolg
praktizierte Projekt der sozialtherapeutischen Anstalt [76], in der nach einem fein abgestimmten Gesamtkonzept
unter Einschluss analytischer Einzeltherapie in ihrer Entwicklung früh und
schwer gestörte Patienten behandelt werden. Auf die Einzelheiten der
umfassenden Therapiekonzeption [77] der
holländischen Anstalten kann hier nicht eingegangen werden, es sei nur im
Hinblick auf die auch für Menschen wie Friedrich Haarmann in Frage
kommenden Behandlungsmöglichkeiten klargestellt, dass in Fällen
dieser Art mit einer verbalen, noch dazu aufdeckenden analytischen
Psychotherapie ohne Anwendung anderer Methoden nicht erfolgreich zu arbeiten
ist. In Fällen dieser Art ist vor allem und zuerst eine haltende,
stützende, aber auch mit der inneren und äußeren Realität
konfrontierende menschliche Begleitung erforderlich, welche eine
Nachentwicklung und Nachreifung der Person ermöglicht. Dass auch die
größte Bemühung im Falle Haarmanns wahrscheinlich nur begrenzte
Wirkungen gezeigt hätte, sei nicht verschwiegen. Jedoch können schon
gewisse Veränderungen in Richtung auf Stärkung der Ich-Funktionen,
Erhöhung der Realitätseinsicht und Verminderung innerer Spannungen
für den Patienten enorme Bedeutung haben.
Die Nennung und Beschreibung der Besonderheiten und
Merkwürdigkeiten der seinerzeitigen realen oder heutigen hypothetischen
Aktivitäten der strafjustiziellen Verfolgungs- und Sanktionsinstanzen im
Fall des Friedrich Haarmann befriedigen das Hauptinteresse, das die vorliegende
Untersuchung verfolgt, jedoch noch nicht in hinreichendem Maße. Uns geht
es letztlich um die Aufdeckung jenes subkutanen und verschwiegenen
Verhältnisses, das die Erscheinungen der sexuellen Perversion und die
Manifestationen justizieller Aktivität miteinander verbindet.
Schon auf den ersten Blick muss auffallen, dass es zwischen Haarmann
und der damaligen Justiz ein gewisses Einverständnis und ein bestimmtes
Zusammenspiel gab. Beiden war jenseits und vor aller Überlegung klar, dass
eigentlich nur das Köpfen als Sanktion in Frage käme, und beiden war
diese Sanktion - so muss man sagen - erwünscht
[78]. Man kann also schon angesichts dieser
Übereinstimmung davon sprechen, dass Haarmann die Sache der Justiz
mindestens in ebensolchem Maße betrieb wie diese die seinige. Doch es
gibt weitere Indizien für diese subliminale Kollusion.
Haarmann leistete 6 Jahre lang vor seiner schließlichen
Überführung für die hannoversche Polizei Spitzel- und
Zuträgerdienste, so dass er dort mit vielen Beamten auf gutem und
vertrautem Fuße stand. Umgekehrt gab er sich an den Plätzen, vor
allem im Hauptbahnhof, wo er die jungen Leute ansprach (und gelegentlich auch
verhörte), mit Hilfe eines - möglicherweise echten -
Ausweises als Polizeibeamter aus. Infolge seiner engen Kooperation mit der
Polizei wusste er sich zudem vor Verfolgung wegen seiner eigenen Straftaten
sicher. Man sieht, Haarmann war der Polizei, die noch heute von vielen Menschen
für eine Art richterliche Instanz gehalten wird, ebenso behilflich wie
diese ihm [79]. Übrigens wirkte er auch bei
seiner eigenen letzten Festnahme in freiwillig-unfreiwilliger Weise mit, indem
er einen Jugendlichen, mit dem er in Streit geraten war, zur Bahnhofswache
brachte und seine Verhaftung forderte. Da zufällig ein Beamter des
Sittendezernats anwesend war, erfolgte nach der Vernehmung des Jungen und
dessen Verhaftung auch sogleich Haarmanns Festnahme. Der Junge hatte Haarmann
nämlich beschuldigt, ihn mehrere Tage unter Anwendung von Zwang bei sich
behalten und sich an ihm vergangen zu haben.
Diese Zusammenarbeit zwischen Haarmann und den Justizorganen ergibt
freilich nicht mehr als eine Reihe von Einzelhinweisen auf jene tiefe
unbewusste Gesetzlichkeit, die dem Phänomen perversen Verhaltens in
gleicher Weise wie der Erscheinung strafjustizieller Aktivität zugrunde
liegt. Gemeint ist hier das geradezu eherne Gesetz der aggressiven Antwort auf
aggressives Verhalten oder vielleicht deutlicher und richtiger: der
destruktiven Vergeltung jeglicher Destruktion. Wir haben bei der Schilderung
der für die Perversionsentstehung maßgeblichen frühkindlichen
Konstellation gesehen, dass allzu frühe und tiefe Enttäuschungen
menschlicher Bedürfnisse zu massivster Destruktivität führen,
welche sich in der Form unerbittlicher Verfolgung und schwerer Ängstigung
gegen die kindliche Seele selbst zurückwendet [80]. Nehmen wir die Ausdrucksformen der oralen Phase, in
der sich dieses Unglück abspielt, hinzu, so können wir die aus den
frühkindlichen Gegebenheiten abzuleitende Regelhaftigkeit auch in der Form
des kannibalistischen Grundsatzes des ‚Fressens und
Gefressenwerdens‘ zum Ausdruck bringen. Nun ist natürlich sogleich
zu bemerken, dass diese frühe Verwundung des Menschen zu allermeist eine
einigermaßen angemessene mütterliche Versorgung und wohl auch
Beschwichtigung und Heilung findet und selten zu solch fürchterlichen
Folgen wie bei Haarmann führt. Aber eine Spur dieser ersten Verwundung und
eine Erinnerung an sie scheint doch im allgemeinen zurückzubleiben und das
weitere Leben zu begleiten, zumal alle späteren unausweichlichen
Enttäuschungen und Kränkungen das ursprüngliche Unglück
wieder wecken und die ebenso zwecklose wie entsetzliche Dynamik seiner
Bewältigung wieder in Gang bringen.
Die so in jedem Menschen installierte Aggressions- Gegenaggressions-
Mechanik liegt ganz wesentlich der späteren Ausbildung seines Gewissens
zugrunde als einer Auffangvorrichtung für zerstörerische Regungen in
seinem Inneren. Auch in seiner Beurteilung und Behandlung fremden aggressiven
oder destruktiven Verhaltens lässt der Mensch sich im wesentlichen von
dieser internalisierten Mechanik leiten, wobei er über identifikatorische
und projektive Verfahren Kontakt mit der Außenwelt aufnimmt. Das
unbewusste interne Reaktionsmuster, auf destruktive Regungen im Außenfeld
in destruktiver Weise zu antworten, bestimmt bis auf den heutigen Tag Praxis
und Theorie des Strafrechts in allen seinen Prozess- und Sanktionsformen. Das
fremde Verhalten wird infolge unbewusster Identifikation mitagiert, und die
dadurch ausgelöste Gegenaggression wird projektiv im Außenbereich
über bereitstehende Agenturen entladen. Dieses Muster lenkt sowohl die
theoretische wie die praktische Tätigkeit des Strafrechts. Gewiss reagiert
die Justiz zur Zeit nicht so offenkundig kannibalistisch wie zu Zeiten
Haarmanns, als sie ihm in gleicher Weise wie dieser seinen Opfern den Kopf
abschlug. Aber schon ein erster Blick lehrt, dass der Nebel der projektiven
Verkennung der Realität des Täters sich bis heute nicht entscheidend
gelichtet hat und dass aggressive und destruktive Reaktionen trotz aller
aufgeklärten Terminologie das Feld der strafjustiziellen Aktions- und
Reaktionsformen - bis in die Therapie hinein - bestimmen. Die
theoretische Verkennung der Täterpersönlichkeit zeigt sich etwa in
der ausnahmslos negativen Formulierung des strafrechtlichen - und
strafrechtswissenschaftlichen - Schuldbegriffs (Verbotsirrtum § 17
StGB, Entschuldigender Notstand § 35 StGB, Schuldunfähigkeit §
20 StGB), das heißt, die hinter dem Schuldbegriff stehende seelische
Wirklichkeit wird nur ex negativo wahrgenommen und in ihrem Zentrum projektiv
mit beurteilereigenem Material überdeckt und überladen
[81]. Vergleichbar liegen die Verhältnisse im
Bereich der Praxis etwa des Maßregelvollzugs. In den aversiven Techniken
der hier gelegentlich angewandten Verhaltenstherapie sind ganz unverkennbar
Elemente der Gegenaggression enthalten [82], ganz
abgesehen davon, dass auch der Maßregelvollzug insgesamt für den
Sexualdelinquenten eigentlich nur so etwas wie Bestrafung bereithält.
So beklagenswert dieser Zustand des heutigen Strafrechts ist, so
sollte doch keineswegs übersehen werden, welch enormer Anstrengungen
individueller und kollektiver Art es bedarf, die Verhältnisse zu bessern.
Es ist vor allem auch die Aufgabe jedes Einzelnen, durch Selbstaufklärung
das kannibalistische Phantasma in sich selbst aufzuspüren und es zumindest
ruhig zu stellen, um so eine halbwegs tragfähige Grundlage für die
weitere Integration abgespaltener Zerstörung und Unglück stiftender
Bestandteile zu erwirtschaften. Nur mittels dieser Veränderung seiner
selbst durch Aufklärung gewinnt der Einzelne die Möglichkeit, auf
praktischem und wissenschaftlichem Feld für den Delinquenten - und
nicht nur für diesen - wirklich hilfreiche Arbeit zu leisten
[83].