Psychotraumatologie 2001; 2(3): 15
DOI: 10.1055/s-2001-16557
Originalarbeit
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Der Künstlertod

Extreme Inszenierungen in der Kunst des 20. JahrhundertsAntje von Graevenitz
  • Kunsthistorisches Institut Abt. Allgemeine Kunstgeschichte der Universität zu Köln
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Autor:

Prof. Dr. Antje von Graevenitz

Universität zu Köln
Kunsthistorisches Institut Abt. Allgemeine Kunstgeschichte

Email: antje.graevenitz@uni-koeln.de

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Publication Date:
27 September 2001 (online)

 
Table of Contents #

Zusammenfassung:

Wenn ein Künstler selbst konkret die Figur einnimmt, die sich in seinem Kunstwerk zum Sterben anschickt, dann ist der Betrachter mit außergewöhnlichen Problemen konfrontiert. Soll er den Künstler daran hindern und auf diese Weise das Kunstwerk zerstören? Welche Verantwortung nimmt er auf sich, wenn er sogar selbst den Tod des Künstlers in seinem Werk auslösen könnte? An Hand extremer Performance-Inszenierungen in der internationalen Kunst des 20. Jahrhunderts werden Konfliktmomente des Betrachters analysiert und sowohl kunsthistorisch, als auch psychologisch gedeutet.

Wenn sich ein Künstler in seinem Werk zum Sterben anschickt, wenn Werk, Material, Künstler, Regisseur, Performer und das Medium der Performance zusammenfallen, dann schenkt das Subjekt dem Schein der Kunst ein Stück des gelebten Lebens. Üblicherweise beginnt und endet eine Performance irgendwann im gewählten Raum- und Zeitrahmen wie beim Theater. Dieser Rahmen ist konzeptuell bestimmt, denn das Leben der Performance-Figur fließt nach Ablauf des Kunstwerkes auf natürliche Weise weiter. Nur wenn ihr Selbstmord droht, ändern sich die konzeptuellen Bedingungen des Werkes: Der Beginn bleibt wie gehabt: ein Übergang vom gewöhnlichen Leben in das gelebte Performance, in dem ein Ich als Figur weiterlebt. Nur das Ende des Performances könnte nun das Ende von der Figur und dem Ich bedeuten. Dieses Ende macht das Kunstwerk noch lebensechter. Aber die Rechnung geht nicht auf, denn wenn der Künstler starb, „lebte” das Kunstwerk auf einem konzeptuellen Niveau in der Erinnerung des Betrachters fort. Das Ende des Kunstwerkes erweist sich deshalb als seine eigentliche Geburt. Der Tod des Künstlers gilt nun als Beweis für diese Geburt, denn er beweist die Wirklichkeit des Kunstwerkes. Es handelt sich dabei um einen Enxtremfall der Selbstbestimmung des Künstlers, der als Regisseur über Werk und Leben bzw.Tod , d. h. über seinen letzten schöpferischen Akt selbst entscheiden will. Es ist, als wolle er seinen Tod nicht dem „Schöpfer” überlassen, sondern seiner Kunst.

Als der Niederländer Bas Jan Ader 1975 der Welt seine einsame Performance mit einer Postkarte ankündigte, auf der nur in vagen Umrissen ein kleines Segelboot zu sehen war, mit dem er von der Küste Floridas aus über den Atlantik nach Amsterdam zu fahren gedachte, und diese Unternehmung: „In Search of the Miraculous” nannte, hielt ihn niemand von seinem absurden Plan ab.[1] Doch niemand sah ihn je wieder. Vielleicht war es ein Selbstmord, vielleicht auch nur ein Unglück, unbeabsichtigt, aber doch herausgefordert, - in jedem Fall aber war die letzte Segeltour als Kunstwerk gemeint. Darüber bestand der Einladungskarte wegen kein Zweifel, noch dazu, da Bas Jan Ader auch sonst in seiner Kunst nicht zimperlich gewesen war: Beispielsweise hatte er sich schon 1970 mit seinem Fahrrad von dem Dach eines kleinen Hauses in Los Angeles fallen und diesen halsbrecherischen Vorgang auf einem 16 mm-Film festhalten lassen (Val 1, Los Angeles). Damals wollte er nur die „Natur” seines Körpers als Material für ein Kunstwerk zeigen: Schwerkraft wurde evident. Zweifelos war seine Segeltour in einer konzeptuellen Weise als Kunstwerk gemeint, das seinen Autor, den Künstler, tatsächlich zum Verschwinden brachte: ein Kunstwerk, das dennoch ohne einen Autor nicht existieren würde. Paradoxale Bedeutungen gehören zum Gehalt des Werkes. Dennoch machte man sich die Mühe und suchte Ader auf See in einer großangelegten Aktion, - ohne Erfolg. Hätte man ihn gefunden, hätte man ihn wahrscheinlich um die angestrebte Vollendung des Kunstwerks beraubt. Sterben für ein Kunstwerk, - diese Möglichkeit hatte Freud nicht erwähnt, als er von einem allgemeinen Todestrieb sprach.

Bas Jan Aders Inszenierung folgte nicht nur der Tradition der damals wie heute aktuellen Konzeptkunst, in dem das Vorhaben nüchtern und konkret als Plan angekündigt wurde, sondern auch der Überlieferung der Romantik. Das Schiff galt schon für Caspar David Friedrich als Motiv sowie Symbol des verschwindenden Lebens im Tausch gegen den abgebildeten Körper - ob eines Sterbenden, bleibt dahingestellt. Einsam im Nebel taucht auf Friedrichs Bild „Strand im Nebel” von 1807 ein kleines Segelboot auf. Für das damalige Zeitalter der Empfindung war nach der literarischen Richtung des Sturm und Dranges der Tod des Genies, wie bei der erdichteten Figur von Goethes Werther, ein vielbesprochener Grenzfall. Ader konnte sich zudem auf eine traditionell literarische Ästhetik des Abschieds und der Trauer berufen [1]. Abschied und Aufbruch zum „Horizont des Todes” (S.261), [1], sind romantische Stoffe. Dennoch fielen in der historischen Romantik um 1800 Realität und Schein zumindest im Kunstwerk noch nicht zusammen (sieht man einmal von den Festen der Französischen Revolution ab). Das romantische Erbe aber blieb im 20. Jahrhundert erhalten. In die Melancholie des Kunstliebhabers über Aders Verschwinden mischen sich Schauder und Mitgefühl, - Schauder vor allem über diese Suizidkunst, die Kunst und Leben vereinigt, und in der der Künstler dem Kunstwerk sein Leben schenkt. Hiermit konnte der Schlachtruf der Avantgardekünstler: es gelte in der sog. Moderne Kunst und Leben nachweisbar zu vereinen, irreversibel und unerbittlich wahrzumachen. Schon Antonin Artaud, der Autor des passionierten Manifestes „Le theatre de la cruauté” (1947) empfand jeden Schein als Lüge und schrieb deshalb bereits am 25.Mai 1924 seinem Verleger Jacques Rivère: „Warum Lügen, warum etwas, das der Aufschrei des Lebens selbst ist, auf die literarische Ebene bringen wollen, warum dem, was aus der unausrottbaren Substanz der Seele besteht, was wie die Klage der Wirklichkeit ist, romanhaften Schein verleihen ?” (S.35), [2]

Doch darf schon hier berechtigter Zweifel am Konzept der Verschmelzung von Kunst und Leben angemeldet werden: Wenn sie auch im Kunstwerk zusammenfallen, so geschieht es nicht in der Wahrnehmung: Man kann nicht auf Distanz gehen und ein gleich tiefes, echtes Mitgefühl haben wie dasjenige, das man im Konzept der Schönheit der Kunst aufgehoben glaubt wie in einer Dichtkunst, einem Theaterstück oder einem Film. Die Wahrnehmung muss in einem Fall von Kunst auf der einen Seite und echtem Mitgefühl für einen wirklich leidenden Menschen auf der anderen ständig hin- und her -„schalten” wie bei der Wahrnehmung eines Neckerschen Würfels oder der Kubusse, die Josef Albers zu Beginn der 50-er Jahre als Problem für das Sehen und das wahrnehmende Bewusstsein gestaltet hat.

Sieht man anders als im fatalen Segeltörn des Niederländers, der das Drama nicht direkt sichtbar macht, sondern nur ahnen lässt, den sterbenden Künstler direkt als Bildfugur in seinem Werk, hat man es miteiner Vielzahl von kunsthistorischen Traditionen zu tun, die in dieser extremen Performance kulminieren. Ein solcher Fächer an Traditionen soll hier nur kurz aufgeschlagen werden. Allen voran wäre das Selbstportrait zu nennen[2] [3] [4], aber auch die Allegorie reëlle, die das Sinnbild im Realen wiederfindet, ferner das Ready-made, von dem schon der sterbende Protagonist der Fluxus-Leute, George Maciunas in einem Video-Gespräch mit Larry Miller sagte, Marcel Duchamp habe das Ready made nicht nur für Gegenstände gefunden, man könne es ebensogut auf Gesten und menschliches Verhalten ausweiten [5]. Natürlich muss auch die Kunstgeschichte des tatsächlichen Auftretens von Künstlern seit dem Futurismus und Dadaismus bis zum Wiener Aktionismus genannt werden, die Ende der 60-er, Anfang der 70-er Jahre in der Body Art zu einer besonderen Form krassens Umgehens mit dem eigenen Körpermaterial des Künstlers führte. Im Kontrabass dieser Kunsttraditionen „erklang” sowieso eine Ästhetik der Metamorphose, des Prozesses und - generell - der Hässlichkeit, denen man stets neue Entdeckungen abgewann. Auch der klassizistische Mahner Gotthold Ephraim Lessing hat den Sog fort vom Schönen und zum Verzicht auf Harmonie nicht aufhalten können [6]. Der menschliche Tod und dazu parallel die Naturgewalten wurden beliebte Themen für die Erhabenheit. Zusätzlich galt es, in der Moderne zumeist jeweils neue Tabuzonen zu erkunden und in der Kunst zu überwinden. Schließlich gibt es eine reiche Tradition in der Kunst zur Schau gestellter Märtyrer aller Arten. Es scheint deshalb wie eine Anspielung an gerade diese Tradition, dass man gegenwärtig in New York von „Victim Art” spricht, wenn man die Kunst zur Schau gestellten Sterbens meint. Die Frage ist, ob diese Sonderform der Performance Kunst nicht in ihrer Entwicklung im 20. Jahrhundert immer gleich blieb oder ob sie nicht ganz unterschiedlich beurteilt werden will und auch vom Betrachter unterschiedlich angenommen wird. Dazu soll der Blick sowohl auf die Künstlichkeit der Inszenierung fallen als auch auf die natürlich gegebene Situation.

Zu Beginn der Geschichte der Avantgardekunst gab es die Kongruenz von inzenierter Kunst und tatsächlichem Sterben noch nicht in letzter Konsequenz: Als Kasimir Malewitsch am 15. Mai 1935 in seiner St. Petersburger Wohnung starb, ließ er sich zwar betten neben seinem bereits von ihm sorgsam vorbereiteten Sarg, der hochkant der Horizontale des Bettes im Sterbezimmer zu antworten schien und die Insignien des Suprematismus trug: schwarzes Quadrat und schwarzer Kreis, und über seinem Kopf, gewissermaßen an seiner Statt die Ikone des Suprematismus: „Das schwarze Quadrat” aufhängen, doch waren auf der Bühne des Todeszimmers Künstler und Kunstwerke zwar vereint, aber nicht kongruent. An dieser Zurschaustellung wurde auch in einem Raum des Inschuk festgehalten, inden man den Toten und seine Werke brachte. Nun aber wirkte der Gegensatz zwischen den dunkelfarbigen Wänden (die genaue Farbe ist unbekannt) und dem weißen Laken dramaturgisch betont. Wieder spielte auch hier das Hauptwerk des Künstlers die Rolle der Auferstehung in die Ewigkeit der Kunstgeschichte. Daran änderte im Grunde auch das Begräbnis von Malewitsch nichts, als man seine schwarze Ikone auf die Kühlerhaube der schwarze Limusine stellte, die den Sarg zum Friedhof fuhr. Das Werk ersetzte nun den Lebenden, - so schien diese Inszenierung gemeint: Der Zug demonstrierte das Überleben und Verewigen der künstlerisch radikalen Setzung der suprematistischen Idee, von der sich der Künstler verabschieden musste. Trauerarbeit schien zu unrecht. Der Abschied selbst war dabei nicht das Hauptthema der Begräbnisinszenierung [7].

Nicht immer ist bei einer ähnlichen Dramaturgie auch das Gleiche gesagt: Als Ed van der Elsken, ein niederländischer Fotograf, 1990 als Krebspatient die letzten Stadien seines Siechtums im einem festlichen Himmelbett filmisch festhalten ließ, wobei er dazu jeweils weise Worte ausprach [8], und als Bob Flanagan, ein an Zystischer Fibrose erkrankter amerikanischer Künstler, 1994 sein Dahinsiechen im New Museum of Contempory Art in New York buchstäblich in einem nachgebauten Krankenzimmer zur Schau stellte [9], bildeten auch hierbei Krankenbetten gleichsam die Bretter, die die Welt bedeuten, gleichsam in Form einer Guckkastenbühne. Es war übrigens nicht Flanagans einziges Werk, das sich auf sein Sterben bezog. Der Filmer Kirby Dick und die Witwe des Künstlers, Sheree Rose, fassten später alle Aufnahmen seiner Performance-Werke zu einem Film mit dem Titel „Sick” (1996/1997) zusammen[3]. Anders als Flanagan wollte sich Ed van der Elsken in Schönheit und als weiser Mann in einer körperlichen Metamorphose sterben sehen lassen. Der Zuschauer nahm es traurig, aber auch beglückt zu Kenntnis: Im Augenblick des Todes wurde eine menschliche Vollendung erreicht, die dem Verfall des Körpers zuwiderlief. Im Gegensatz zum „Auftritt” von van der Elsken zeigte schon der Titel der Installation und der Performance Art von Bob Flanagan den Hauptunterschied. „Visiting hours” hieß sein Werk.[4] Der sterbenskranke Künstler stellte sich dem Betrachter und auch dieser wollte sich dem Dahinscheidenden in einem sozialen Akt der Kommunikation stellen in der Hoffnung, dass Sensation und Faszination sich in Nächstenliebe kehren würde. Ein grüner Plastiksessel neben dem hohen Krankenbett lud den Kunstbetrachter zum Verweilen ein. Betrachten hieß nun Besuchen. Die indirekt leuchtende Leselampe hinter dem Kopf des Totkranken gab ihm den Anschein von Heiligkeit. Im echten Krankenhaus hätte man diese Aura vielleicht nicht entdeckt, doch in der Tradition des Museums wurde jedes Detail einer Inszenierung doppeldeutig.

Mit Malewitsch und Flanagan lässt sich ein zeitlicher Rahmen von 1935 bis 1994, also von rund sechzig Jahren, für eine besondere Ikonographie und Dramaturgie von Kunstwerken einführen, die den realen Künstlertod in einer tatsächlichen oder nur vorgenommenen Kongruenz mit dem Scheincharakter des Kunstwerks anstreben. Den Endrahmen, sozusagen als absolutes Ende des Kunstwerks, bildet der Künstlertod oder auch nur der Abbruch des vorgenommenen Suizids. Dafür gibt es bekannte Beispiele.

Als Stanley Brouwn z. B. 1965 während seines Auftretens in der Galerie Patio in Neu-Isenburg in einer Ecke stand und einen langen durchsichtigen Plastiksack über den Kopf zog [10], setzte er sich auf einen Stuhl und war er erst ganz ruhig, als ob nichts wäre und er wie ein Ding in der Vitrine aussähe. Dann aber atmete er stets schneller, weil er keine Luft mehr zu bekommen drohte. Schließlich zog er, - gerade rechtzeitig - den Sack über den Kopf. Keiner der Zuschauer hatte ihm zu helfen versucht. Waren die Menschen, die die Gefahr kannten, im Schock erstarrt, oder glaubten sie einfach nicht, ein Künstler könne in seinem Werk bis um Außersten gehen und warteten gespannt ab, wie lange es dauern würde, bis er sich selbst befreien würde, wie lange also die „Lebensdauer” des prozessualen Kunstwerks sein würde ? Außerhalb der Aura und Autorität der Kunst würde man sicherlich die Polizei, die Feuerwehr oder gar einen Arzt zu Hilfe geholt haben. Aber die Erfahrung von Kunst lehrt, dass es auf Grund kultureller Verabredungen, zu denen die hier genannten Traditionen geführt haben, andere, zumeist unausgesprochene Gesetze gibt, die allerdings zum Beweis künstlerischer Freiheiten und freiheitlicher Wahrnemungen immer weiter ausgelegt werden. Kein Wunder, dass diese Art kultureller Verabredungen und Gesetze nach den Anregungen von John Cage stets wieder als Grundbedingungen des Kunstwerkes getestet wurden, oft sogar so, dass diese Bedingungen selbst das eigentliche Thema und die Bedeutung des Kunstwerkes bildeten. Damit aber stellte sich diese Kunst, intentionell gesehen, bereits ganz auf ihre Wirkung ein.

Das Living Theatre von Julian Beck in New York wollte z. B. zur Zeit des Vietnam Krieges den Zuschauer zur Verantwortung ziehen [11]: In ihrem Straßentheater versuchten sie die Grenze zwischen Sein und Schein zu verunklären. Schreiend und röchelnd lagen sie direkt vor den Beinen der Umstehenden, nachdem ein Erschießungskommando sie niedergestreckt hatte. Wer da auf der Straße im Sterben lag, sollte ungewiss bleiben: Handelte es sich um ein tatsächliches oder nur geschauspielertes Sterben ? Wie würden die Umstehenden reagieren ? Würden sie es wagen, Sterbehilfe zu leisten ? Sie taten es nicht, denn anscheinend wussten sie auch ohne Zeichen des gesichterten Rahmens einer Bühne zwischen Sein und Schein zu unterscheiden. Verantwortung, wenn sie denn beim Zuschauer gefühlt wurde, wurde nicht „geoutet”, Mitgefühl blieb unsichtbar, vielleicht sogar abwesend, oder es blieb nur in der Imagination des Zuschauers eingebettet wie auch sonst im Anblick tragischer Ereignisse auf der Bühne.

Doch wie immer gab es Ausnahmen: Ohne Verantwortungsgefühl irgendeines Zuschauers wären Künstler wie Marina Abramovic und Jochen Gerz nicht mehr am Leben. Obwohl es scheinbar nicht zum Konzept ihres Werkes gehörte, wurde Marina Abramovic gerade noch gerettet, als sie in einem brennenden Pentagramm aus ausgestreutem Sägemehl zu ersticken drohte. Ihre Absicht war es, im Vollkommen- und Ewigkeitszeichen des Pentragramms „aufzugehen”. Joseph Beuys, der damals als Zeuge des Performances im Kulturellen Studentenzentrums in Belgrad im Jahre 1973 mit dem Titel „Ritam 5" (Rhythmus 5) [12] zugegen war, hatte sie noch ausdrücklich gewarnt, weil er die Gefahr fortgesogenen Sauerstoffes sofort erkannt hatte. Aber die Künstlerin wollte die Erreichung ihrer physischen Grenze als abstrakte Grenze des Kunstwerks kennenlernen. „Man muss mein Werk als ein abstraktes sehen,” erklärte sie mir 1975, „ Selbst Todesschmerz kann in der Kunst eine abstrakte Angelegenheit sein.” Es lief noch einmal „gut” für die Künstlerin ab, im letzten Moment zog man sie aus dem Pentagramm heraus. Nur in der Imagination des Zuschauers konnte die nun fehlende physische Grenze überschritten werden. Die meisten Zuschauer blieben passive Zeugen, sie begriffen nicht, dass es bei dieser Kunst nicht genügte, nur Betrachter zu bleiben, sondern eigentlich als Co-Performer oder doch zumindest als mitfühlende Mitbürger handeln zu müssen. Marina Abramovic nannte 1993 viele dieser Performances „teaching situations”. Ihre Hauptfrage galt der Metamorphose des Betrachters: „Can one arrive another state of mind ?” Zweifellos traf sie damit den Kern der avantgardistischen Heilslehre, die eine bestimmte Form von Hermeneutik von vornherein im Werk verankert wissen will. Obwohl sich auch James Lee Byars 20 Jahre später (1994) in seinem Goldanzug ebenfalls zum Sterbensritual auf den Boden legte, wobei seine gespreizten Arme und Beine gemeinsam mit seinem Kopf wiederum das Pentagramm bildeten, praktizierte er nicht den Tod, forderte ihn auch nicht heraus, sondern spielte nur auf Ziele wie Vollkommenheit und Ewigkeit an [13]. Im Grunde spielte er seine Rolle, der er sich auf Grund einer schweren Krankheit auch im Leben nahe fühlte. Neben sich hatte er einige Diamanten gelegt. Schamanengleich arbeitete er mit Insignien, die man im Theater nüchtern Requisiten nennen würde, im Mysterienspiel dagegen sacra. Im Grunde hatte dieses wortlose Performance nur den insignierenden Charakter auf die Hoffnung, das Kunstwerk könne den Tod überwinden helfen. Mitverantwortung verlangte Byars nicht vom Zuschauer.

Jochen Gerz wollte dagegen von vornherein das Verantwortungsbewusstsein oder/und das Aggressionspotential seiner Performance-Besucher testen, wie so oft in seinen Werken. In seinem Genfer Performance blieb er 1979 im Centre d¿Art Contemporain für den Betrachter selbst unsichtbar [14]. Nur auf 2 Monitoren konnte man je aus verschiedenen Blickwinkeln seinen Kopf und Hals sehen, um den eine Gummischlinge lag. Dass es genau diese Gummischlinge um den Hals des Künstlers war, die sich als Linie durch die Mauer hindurch in den Raum des Betrachters hinein fortsetzte und die auf der gegenüberliegenden Wand befestigt war, konnte der Besucher nicht wissen. Er sah lediglich eine gespannt in seinem Raum hängende Gummileine. Auch dass sich Gerz selbst genau hinter der einen Wand im Nebenzimmer befand, war dem Betrachter unbekannt. Das änderte sich, sobald jemand an der Gummistrippe zog. Nun ließ der Effekt auf den Monitoren beobachten: Die Schlinge zog sich stramm um den Hals des Künstlers. Aus der ungesagten Aufforderung zum Mitspielen oder Testen wurde ein ernstes Spiel. Die Schlinge wurde weiter angezogen, so weit, bis irgendeiner begriff, dass man den Künstler nebenan retten musste und im letzten Augenblick den Erstickenden mit einem Schnitt durch die Gummischlinge erlösen musste. In den wenigen Berichten, die es von diesem Werk gibt, ist nicht die Rede von Leuten, die etwa gegen ihren eigenen Willen handelten und es unter Protest abgelehnt hätten, an der Strippe zu ziehen. Solche Ergebnisse kennt man dagegen aus der psychologischen Versuchsanordnung von Stanley Milgrim. Wie der amerikanische Behaviorist Milgrim in seinem Buch „Obedience to Authority. An Experimental View.”darlegte [15], wollte er den Befehlsgehorsam zu Aggression und Mord testen, sobald eine Versuchsperson glauben musste, sein gehorsam ausgeführter Mord diene der Wissenschaft. Auch sein sog. Opfer saß im Raum nebenan, ohne dass die Testperson ihn sah oder davon gewusst hätte. Aber sobald das Opfer aufschrie, nachdem die Testperson auf Anordnung des Versuchsleiters unter einem Tuch auf elektrische Knöpfe drückte, musste die Testperon glauben, er selbst sei der Verursacher, der das Opfer dem elektrischen Tod stetig näher brachte. Manche der Testpersonen schrien[5] und baten darum, nicht auf den Knopf drücken zu müssen. Sie taten es schließlich dennoch, und wie Milgrim schlussfolgert, aus Respekt vor dem sog. wissenschaftlichen Versuch und der Autorität des Versuchsleiters. War bei Gerz¿ Performance das Gleiche geschehen? Wollte der Besucher nur aus Respekt vor der Autorität des Kunstwerks das angebotene Werk ausführen, d. h. letal zu Ende bringen? Musste er nicht den Titel der Performance: „Purple Cross for Absence Now” so verstehen, dass der Künstler, dessen Gesicht als Vertikale auf dem Bildschirm von der Horizontale der Gummischlinge gekreuzt wurde, auch in der Tat gekreuzigt werden wollte und sollte? Zwingt nicht die Tradition des am Kunstwerk partizipierenden Betrachters zu der Auffassung, die Mitwirkung sei nur recht und billig zum Wohle eines zu entstehenden Kunstwerks und nach den eigenen Gesetzen der Kunst? Und zwingt nicht ebenso die Tradition „Kunst als Spiel” zur unschuldigen, zumindest aber gewissenlosen Inachtnehmung besonderer Spielregeln? Bedeutet nicht zusätzlich das Versprechen auf Freiheit, das Avantgardekunst stets über die Strategie der Partizipation und des Mitspiels aufgeworfen hat, dass der Betrachter auch in diesem Falle des Gerz¿schen Performances zurecht meint, sich diese Freiheit zum tödlichen Strippeziehen im Rahmen und Spiel des Kunstwerkes nehmen zu dürfen, vor allem, da er ja den Künstler nur noch als Bild wahrnimmt und nicht die gleiche Verantwortung spürt, als wenn er einen leibhaftigen Menschen vor sich sähe? Zu diesem Umstand schrieb mir Gerz am 19. April 1998: „Bei Purple Cross ging es noch darum, das eine Kopie notgedrungen ein Original haben muss und das es deshalb kein eigenes Verhalten vor der Kopie gibt, das nicht den Ursprung der Kopie einschließt. Aber schon damals spürte man, dass das Original fast definitiv „on the way out” war und bald schon nicht mehr vermisst werden würde von seinen Kopien. Heute ist die schmerzlose Plazebo-Welt normal, auch in der Kunst. Ich glaube, es ist der Preis für den Abbau von Gewalt, in unseren Breiten zumindest. Vielleicht ein relativ kleiner Preis. Ich hörte einen neuen Song: I don¿t want to change the world... So sind die von Dir zitierten Arbeiten z. T. auch Vergewisserungen, Angst vor dem Abschied von einer Welt ( = Körper).” In diesem Sätzen schimmert einerseits der Wunsch durch, man möge zu der Verantwortung gegenüber realen Menschen zurückkehren, und andererseits die Vorstellung oder Vermutung, das Durchspielen von Gewalt im Schein der Kunst (Plazebo!) könne vielleicht Gewalt im Leben vermindern helfen. Milgrim meinte am Schluss seiner Untersuchung: „Es ist oft nicht so sehr die Wesensart eines Menschen, die seine Handlungsweise bestimmt, wie die Eigenart der Situation, in der er sich befindet.” (S.235), [15]. Es ist sein letzter Satz: Die Schuld habe nicht der Mensch an sich, sondern die Situation, in der er sich befindet. Wer wollte also richten, denn die Verlockung ist groß, einmal - unter den Voraussetzungen des Kunstkultes - konsequent das zu tun, was man in der Gesellschaft nicht darf, selbst wenn es sich um die Auslöschung des Künstlers im Werk als Werkvollendung handelt und dieser dennoch nur ein Mensch ist, den man dabei umbringt. Wer wollte außerdem den Betrachter richten, der allzu blauäugig meinte, er erwürge nur eine Bildfigur auf dem Monitor und nicht den tatsächlich nebenan sitzenden Menschen im geschlossenen Circuit der Aufnahme ? Regeln, die zuweit führen können, Schönheit im Widerstreit mit Moral, Freiheit zugleich als Unfreiheit, Spiel als Mord: Auch dieses Kunstwerk von Jochen Gerz war eine „teaching situation”. Das Empfinden, Gewissen und Verantwortungsgefühl standen auf dem Prüfstein. Gerz kratzte an der Oberfläche und förderte die Heuchelei menschlicher, gesellschaftlicher und kultureller Tugenden zu Tage.

Die Hermeneutik der Betroffenheit durch bildende Kunst beginnt bei Aristoteles¿ Theorie von der Katharsis, über Friedrich von Schillers Gedanken über das Trauerspiel bis zu Gernot Boehmes Vorlesungen zur Ästhetik an der Technischen Hochschule in Darmstadt [16]. Von Betroffenheit des Betrachters als Zeuge nahenden Todes im Kunstwerk, noch dazu des Künstlertodes, war dabei nicht die Rede. Kann man Betroffenheit beschreiben, sobald man das Sterben des Künstlers während seines Werkes mitzuerleben meint, wie es nur wenige Zeugen bei einem Performance von Ben d¿Armagnac erging, der 1978 auf der Terrasse vor dem Brooklyn Museum in einem schwarzen Anzug auf dem weißen Platten lag, während ihm ein Wasserstrahl unablässig auf sein Herz zielte?[6] [17] [18]. Seine Brust hob und senkte sich schnell. Sein schwerer Atem war verstärkt aus Lautsprechern zu hören. Ein wenig bewegten sich auch seine Arme. Plötzlich aber war es still. Nichts bewegte sich mehr. Auch die Zeugen blieben unbeweglich, starrten auf den starren Körper, - bis Ben d¿Armagnac aufsprang und fortging. Vor den Augen der Zeugen hatte sich ein Drama abgespielt: Der Künstler hatte sein Purifikationsritual im symmetrischen Set und im dualistischen Weiß/Schwarz als Kampf der Wärme gegen die Kälte inszeniert. Das Ende seiner Kunst schien mit seinem Ende zusammenzufallen. Der Held unterlag sozusagen seiner Kunst: ein tragisches Ende - es hätte eines werden können. Und man sollte hier nicht auf den tragischen Umstand weisen, dass der Künstler Ben d¿Armagnac tatsächlich nur wenige Tage später in Amsterdam ertrank, denn es geschah nicht im Rahmen seines Kunstwerks. Vielleicht lässt es sich für den Zuschauer in dem Wasserstrahl-Performance vom „plötzlichen Augenblick” in seiner Gemütsbewegung sprechen, von dem Friedrich Nietzsche schrieb, es gäbe in diesem Moment weder einen Begriff von Raum und Zeit, noch von einer Zukunft, nur den Schrecken, in dem die Quintessenz des Lebens wie in einem Fest des Dionysos zu spüren sei. Dass es Kunstwerke gäbe, in denen Schein und Sein tatsächlich zusammenfallen und die objektive Figur des Kunstwerkes mit einem Subjekt, einem Ich, mit dem sich der Betrachter identifizieren kann, noch dazu dem Künstler selbst, eingetauscht wurde, sah Nietzsche nicht voraus [19].

In provokantester Weise hat Chris Burden diesen Augenblick des Schocks und der Betroffenheit verursacht, als er sich 1971 in seinem Kunstwerk mit dem bezeichnenden Titel „Shoot” erschießen ließ [20] [21]. Glücklicherweise zielte der Scharfschütze - auf Verabredung - nur in den Arm des Künstlers, der anschließend auch die Schusswunde zum Beweis der erlittenen plastischen Materialveränderung des Kunstwerks vorzeigte, als würde es sich nur um Schüsse auf die Farbtuben handeln wie zu Beginn der 60-er Jahre bei Niki de Saint Phalle oder noch eher: um die Einschnitte in die Leinwand von Lucio Fontana, als habe er den Körper der Kunst aufgeschlitzt, oder die sorgsam präparierte „Zerreißprobe” und „die Kopfbemalung” von 1964 von Günter Brus [22]. Zwar wurde im Fall von Burden nun der Künstler von der Kugel getroffen, aber der Betroffene war der Betrachter. Er hatte den Schock auszuhalten: Ein Mensch könne im Kunstwerk sterben, und er selbst mache sich als Betrachter womöglich daran schuldig. In Umkehrung der Sache hatte Walter de Maria bereits eine Zelle konstruiert, in der sich der Betrachter selbst umbringen könnte, jedenfalls suggeriert ihm dieses ein Messingsschild mit der Aufschrift „Suicide”. Man darf deshalb fragen, ob nicht das eigentliche Opfer dieser neuen „Victim Art” der Betrachter ist, der als Mitspieler der Kunst nun auch die Konsequenzen mittragen soll. Im Kunstwerk aufgehen, hieße darin sterben.

So jedenfalls brachte es die Cage-Schule, zu der entfernt auch Walter de Maria gehörte, dem Betrachter nahe: Es galt die Bedingungen der Kunst bis zur letzten Konsequenz zu untersuchen. Auch diese „Suicide”-Box erwies sich als ein konzeptuelles Werk. Gegenwärtig aber scheint ein Künstler wie Bob Flanagan, der sich im New Museum of Contemporary Art in New York in einem nachgebauten Krankenzimmer besuchen ließ („Visiting hours”, 1994) um diese konzeptuelle Erforschung der Grenzen der Kunst gar nichts mehr zu geben. Vielmehr gilt dieses Dislocation Werk, das sich des ursprünglichen Ortes im Krankenhaus entfremdet hat, der Annäherung zwischen Menschen in der Stunde des Abschieds, der besonderen Kommunikation im Moment des Verstehens und der Zuwendung. Nicht mehr Burdens Schuss ist im Zeichen der Materialveränderung zur Zeit der konkreten Body Art angesagt, sondern eher eine Weiterarbeit an der Tradition, die Joseph Beuys 1976 mit seinem Werk „Zeige Deine Wunde” in München in der Fußgängerunterführung unter der Maximilianstraße legte [23]. Das Menschliche ist hierbei das Anwesend-Abwesende. Künstler wie Bob Flanagan wollen es nicht dabei belassen. Ihre Arbeit gilt nur dem Leben, dem Sehen, der beiderseitigen Anwesenheit von Künstler und Betrachter im Miteinander des Gesprächs. Beuys, der in seiner sozialen Plastik eine anthropologische Kunst verwirklichen wollte und nicht die pur konzeptuelle, kann für Flanagan indirekt als Grundsteinleger gelten.

An dieser Stelle muss erneut die Frage nach der doppelten Rezeptionsweise solcher extremer Inszenierungen gestellt werden. Ausgehend von 2 mythischen „Modellen” nenne ich die beiden Wahrnehmungsmodi: den Blick Parsifals und den Blick von Orpheus. Da der selbstverliebte Blick des Narziss in sein Spiegelbild nicht auf den Betrachter übertragen werden kann, bietet Narziss für die Wahrnehmungsmodi kein sinnvolles „Modell”.[7]

Der reine Tor Parsifal, dessen Legende Richard Wagner zum Bühnenweihfestspiel vertonte, muss lernen, mitleidig zu sein. Dann erst könnte er ein ganzer Mensch werden. Erst am Ende seines Lebens begreift er, dass er Amfortas Wunde nicht nur sehen, sondern mitfühlen, später auch erlösen helfen muss. Die Legende erzählt ein altes Lied nach dem Schema, wie ein Mensch ein Mensch wird. Auch Bob Flanagan bietet seinen grünen Sessel neben seinem Krankenbett dem Betrachter an. Wird er nur auf ihn starren oder hilft er ihm ? Damit wäre Nietzsches Auffassung überwunden, dass der Mensch nur im Scheine, nur in der Spiegelung das Tragische seines Lebens ertragen könne.Im Gegenteil: Er würde aus dem vermeintlichen Spiegel dem Leben seine Hand reichen [24]. Offensichtlich wird mit Flanagans Werk über dem Umweg der Postmoderne doch wieder die verloren geglaubte Utopie der Heilswirkung durch Kunst glaubhaft.

Orpheus dagegen bietet eine andere Sichtweise, denn der antike Sänger verhalf dem Leben zum Tode, in dem er seine verstorbene Braut Eurydike im Totenreich gegen das ausdrückliche Verbot anschaute. Es war der Philosoph Maurice Blanchot, der schon 1955 Orpheus` Blick für die Kunstbetrachtung wiederentdeckte [25] [26], jedoch nicht auf Kunstwerke anwandte, in denen sich der Künstler zum Sterben anschickt. Nur das Sehverbot konnte Eurydike zum Leben verhelfen. Indem man also den Sterbenden nicht distanziert als Kunstwerk betrachtet, würde man ihm zum Leben verhelfen und wäre vielleicht zu echtem Mitgefühl imstande. Orpheus, der Künstler, der aus dem Anschauen Kunst destilliert und sich inspirieren ließ, tötete Eurydike. Demnach würden Werke wie die „Visiting hours” von Flanagan in einer paradoxalen Strategie das Verhalten des Betrachters entlarven. Nicht nur der sterbende Körper des Künstlers würde wie eine Bühne für schmerzliche Gefühle fungieren, sondern mit ihm der Betrachter. Er gehört zu diesem Mythos dazu. Es ist sein Blick, der den lebenden Körper zum Schein des Kunstwerks erhebt und im distanzierten Blick erstarren lässt. Wer wie Orpheus blickt, übernimmt Verantwortung für das Kunstwerk, nicht für den Sterbenden. Wie Orpheus destilliert auch der Betrachter aus der tabuisierten Erfahrung Inspiration.

Parsifal und Orpheus führen Blicke vor, wie man sie niemals gleichzeitig einnehmen kann, höchstens im Wechsel. Die Enttäuschung darüber zu erkennen, dass Kunst und Leben sich auch in diesen Kunstwerken nicht wirklich erreichen können, bedeutet, das Dämonische an sich selbst zu entdecken. Man entdeckt

  1. die Kluft zwischen den Bedingungen der Grenzen zwischen Leben und Kunst wie zu Zeiten der Body Art,

  2. die Kluft zwischen moralischen und ästhetischen Anforderungen wie in Werken von Jochen Gerz und

  3. schließlich die Kluft zwischen Ethik und Mythos wie im Werk von Bob Flanagan. Die Inszenierung reichten dabei vom romantischen Tausch, wie bei Bas Jan Ader und Bei Joseph Beuys: „Zeige Deine Wunde”, über die Trennung von Bildfigur und Verursacher (wie bei Jochen Gerz) und dem Guckkasten einer Dislocation (bei Flanagan). Es waren Grade der Theaterinszenierung, die dem echten Leben bis zum Tod dennoch so nahe wie möglich kommen sollten. George Grosz, der sich in einer Berliner Dada-Aktion der zwanziger Jahre einfach nur die Totenmaske überstülpte und sich als „dadaistischer Tod” im Regenmantel und Spazierstock unter dem Arm als mythischer Wanderer auftrat [27], würde damit wohl dem heutigen Betrachter von Kunstwerken wie das von Bob Flanagan nicht mehr so nahe auf den Leib rücken.

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Literaturverzeichnis

  • 1 Bohrer K H. Der Abschied, Theorie der Trauer: Baudelaire, Goethe, Nietzsche, Benjamin. Frankfurt a.M; 1996
  • 2 Artaud  A. Frühe Schriften. Korrespondenz mit Jacques Rivère. u. a. Bernd Mattheus München; 1983: 35
  • 3 Bätschmann O. Kult des tragischen Künstlers: Tod und Selbstmord im Atelier. Köln; In: ders.: Ausstellungskünstler. Kult und Karriere im modernen Kunstsystem 1997: 97-104
  • 4 Schmidt H M. Künstler und Tod - Selbstbildnisse. Darmstadt; In:Hans Helmut Jansen, Der Tod in Dichtung, Philosophie und Kunst 1978 (2.erw.Aufl.1989) 381-397
  • 5 Miller L. Video: 61.min./black and white: Interview with George Maciunas. March 24, 1978. Larry Miller New York; Transkipt in: Fluxus etc.Addenda 1, The Gilbert and Lila Silverman Collection. New York 1983 und in Kat.Ubi Fluxus, Ibi Motus. La Biennale di Venezia. Venedig 1990 1996
  • 6 Lessing G E. Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie. (1766). Hamburg, Berlin; In: ders.: Werke 1958: 387-448
  • 7 von Graevenitz A. Het hermetisch vierkant. Malevitsj over de betekenis van het getal nul. In: Archis 3 1989: 60-64
  • 8 van der Elsken E. „Bye”, TV-Aussendung VPRO, Hilversum am 27.1.1991. 1990 (1925 - 1990): Kamera: Ed van der Elksen und Annette van der Elsken-Hilhorst.
  • 9 VPRO (Hilversum) .Laat op de Avond: Zij die gaan sterven groeten U. Red.Jos van der Bergh und Els Hoek, Fernseh-Sendung von VPRO (Hilversum). 1996 Ablieferung O41
  • 10 Becker J. Happening, Fluxus, Pop Art, Nouveau Réalisme. Eine Dokumentation. Vostell W Reinbek b.Hamburg; 1965
  • 11 Bigsby C WE. A Critical Introduction to Twentieth-Century American Drama. Vol 3 Beyond Broadway. 1985 Cambridge, New York, New Rochelle, Melbourne, Sydney The Living Theatre. 74-96
  • 12 Kat.Expanded Media. Third April Meeting April 16 to 22, 1974. Studenski Kulturni Centar Beograd; 1974 22 (in vorwiegend russischer Sprache)
  • 13 Byars J L. ”Ich praktiziere den Tod. Sokrates hat gesagt, die Philosophie besteht darin, den Tod zu praktizieren.” Gisela Neven Du Mont, Wilfried Dickhoff Köln; in: James Lee Byars im Gespräch mit Joachim Satorius 1986 16 (Kunst heute Nr.16)
  • 14 Gerz J. Purple Cross for Absent Now. Bielefeld; in: ders.: Texte 1985
  • 15 Kat. Jochen Gerz .People Speak. Hrsg. v.Gary Dufour With a text by Roald Nasgaard. Vanvouver Art Gallery, Vancouver Brit.Columbia 1994, Newport Harbor Art Museum 1995, Neuberger Museum, New York 1996, Winnipeg Art Gallery Winnipeg, Manitoba 1997: 42, 60
  • 16 Milgram S. Obedience to Authority. An Experimental View. New York; 1969 (dts. Reinbek b.Hamburg 1974)
  • 17 9 Tonkassetten. Autobahnuniversität Heidelberg; 1996
  • 18 Kat. Ben d¿Armagnac .Stedelijk Museum Amsterdam 1981: 82-83
  • 19 Abramovic M. Cleaning the House. London; 1995
  • 20 Nietzsche F. Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Karl Schlechta München; in: ders. Werke in 6 Bänden 1980 1: 19-134 und: ders. Richard Wagner in Bayreuth. In ders. Bd.1: 367 - 438
  • 21 Sayre H M. The Object of Performance. The American Avant-Garde since 1970. Chicago, London; 1989: 102
  • 22 Burden C, Butterfield J. Through the Night Softly. In: Battcock, Gregory and Robert Nickas (Ed.): The Art of Perfomance. A Critical Anthology New York; 1984: 222-239
  • 23 Kat. Brus .Der Überblick. Museum Moderner Kunst Wien Salzburg, Wien; 1986: 5-9
  • 24 Beuys J. Zeige Deine Wunde. München; 1980 2 Bde hrsg. v. der Städt.Galerie im Lenbachhaus
  • 25 Nietzsche F. Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Karl Schlechta München; in: ders.: Werke. in 3 Bden 1973 1: 24
  • 26 Blanchot M. Le Regard d¿Orphée. Paris; In: ders.: L¿espace litteraire 1955: 227-234
  • 27 Theweleit K. Frankfurt a.M; In: ders.:Buch der Könige. Bd 1 Orpheus und (durchgestrichen) Eurydike. Zweiter Versuch im Schreiben ungebetener Biographien 1988
  • 28 Kat. George Grosz .Berlin, New York. Peter-Klaus Schuster Staatl.Museum zu Berlin. PreußischerKulturbesitz Berlin; 1994: 136

1 Die Segeltour fand 1975 im Rahmen der letzten Ausstellung von Bas Jan Ader statt, die in der Galerie Claire Copley in Los Angeles mit dem Titel ”In the Search of the Miraculous” gehalten wurde und die Ader selbst konzipiert hatte. Im Februar/März 1993 zeigte der Galerist Paul Andriesse in seinen Räumen in Amsterdam eine Rekonstruktion dieser letzten Ausstellung bzw. der Segeltour.

2 Bätschmann behandelt Gemälde des 19. Jahrhunderts.

2 Schmidt vergleicht das Thema anhand von Zeichnungen, Gemälden, Fotos und Performances (Jean Le Gac, Ulrike Rosenbach und Joseph Beuys).

3 ”Sick: The Life & Death of Bob Flanagan, Supermasochist.” Ein Dokumentarfilm von Kirby Dick über den Künstler Bob Flanagan, der seine Krankheit Zystischer Fibrose mit „Krankheit” bestritt. Er experimentierte mit den Grenzen von „illness, pain, sexuality, love and death”.

4 Erstmals zeigte Flanagan sich selbst im Krankenbett unter diesem Titel „ Visiting hours” 1992 im Santa Monica Museum of Art, erneut 1994 im New Museum of Contempory Art in New York und 1995 im Museum of the School of Fine Arts in Boston.

5 Vgl.Tafel 3: „Gehorsame Versuchsperson beim Experiment Berühungsnähe”.

6 Marina Abramovic erwähnt sich als Zeuge in: Abramovic, Marina: Cleaning the House. London 1995 o.S.

6 Es scheint, als ob d¿Armagnac hier in einer Umkehrung des Motivs Bezug nimmt auf Bruce Nauman¿s „Selfportrait as a Fountain” (1966/1967).

7 Den Blick des Narziss als Modell für die Wahrnehmung zu erwägen, war ein Vorschlag von Michael F. Zimmermann auf dem Kongress des Verbandes Deutscher Kunsthistoriker in München am 11.3.97 im Anschluss an meinen Vortrag: Der Künstlertod - Extremfälle der Inszenierung im 20. Jahrhundert.

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Autor:

Prof. Dr. Antje von Graevenitz

Universität zu Köln
Kunsthistorisches Institut Abt. Allgemeine Kunstgeschichte

Email: antje.graevenitz@uni-koeln.de

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Literaturverzeichnis

  • 1 Bohrer K H. Der Abschied, Theorie der Trauer: Baudelaire, Goethe, Nietzsche, Benjamin. Frankfurt a.M; 1996
  • 2 Artaud  A. Frühe Schriften. Korrespondenz mit Jacques Rivère. u. a. Bernd Mattheus München; 1983: 35
  • 3 Bätschmann O. Kult des tragischen Künstlers: Tod und Selbstmord im Atelier. Köln; In: ders.: Ausstellungskünstler. Kult und Karriere im modernen Kunstsystem 1997: 97-104
  • 4 Schmidt H M. Künstler und Tod - Selbstbildnisse. Darmstadt; In:Hans Helmut Jansen, Der Tod in Dichtung, Philosophie und Kunst 1978 (2.erw.Aufl.1989) 381-397
  • 5 Miller L. Video: 61.min./black and white: Interview with George Maciunas. March 24, 1978. Larry Miller New York; Transkipt in: Fluxus etc.Addenda 1, The Gilbert and Lila Silverman Collection. New York 1983 und in Kat.Ubi Fluxus, Ibi Motus. La Biennale di Venezia. Venedig 1990 1996
  • 6 Lessing G E. Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie. (1766). Hamburg, Berlin; In: ders.: Werke 1958: 387-448
  • 7 von Graevenitz A. Het hermetisch vierkant. Malevitsj over de betekenis van het getal nul. In: Archis 3 1989: 60-64
  • 8 van der Elsken E. „Bye”, TV-Aussendung VPRO, Hilversum am 27.1.1991. 1990 (1925 - 1990): Kamera: Ed van der Elksen und Annette van der Elsken-Hilhorst.
  • 9 VPRO (Hilversum) .Laat op de Avond: Zij die gaan sterven groeten U. Red.Jos van der Bergh und Els Hoek, Fernseh-Sendung von VPRO (Hilversum). 1996 Ablieferung O41
  • 10 Becker J. Happening, Fluxus, Pop Art, Nouveau Réalisme. Eine Dokumentation. Vostell W Reinbek b.Hamburg; 1965
  • 11 Bigsby C WE. A Critical Introduction to Twentieth-Century American Drama. Vol 3 Beyond Broadway. 1985 Cambridge, New York, New Rochelle, Melbourne, Sydney The Living Theatre. 74-96
  • 12 Kat.Expanded Media. Third April Meeting April 16 to 22, 1974. Studenski Kulturni Centar Beograd; 1974 22 (in vorwiegend russischer Sprache)
  • 13 Byars J L. ”Ich praktiziere den Tod. Sokrates hat gesagt, die Philosophie besteht darin, den Tod zu praktizieren.” Gisela Neven Du Mont, Wilfried Dickhoff Köln; in: James Lee Byars im Gespräch mit Joachim Satorius 1986 16 (Kunst heute Nr.16)
  • 14 Gerz J. Purple Cross for Absent Now. Bielefeld; in: ders.: Texte 1985
  • 15 Kat. Jochen Gerz .People Speak. Hrsg. v.Gary Dufour With a text by Roald Nasgaard. Vanvouver Art Gallery, Vancouver Brit.Columbia 1994, Newport Harbor Art Museum 1995, Neuberger Museum, New York 1996, Winnipeg Art Gallery Winnipeg, Manitoba 1997: 42, 60
  • 16 Milgram S. Obedience to Authority. An Experimental View. New York; 1969 (dts. Reinbek b.Hamburg 1974)
  • 17 9 Tonkassetten. Autobahnuniversität Heidelberg; 1996
  • 18 Kat. Ben d¿Armagnac .Stedelijk Museum Amsterdam 1981: 82-83
  • 19 Abramovic M. Cleaning the House. London; 1995
  • 20 Nietzsche F. Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Karl Schlechta München; in: ders. Werke in 6 Bänden 1980 1: 19-134 und: ders. Richard Wagner in Bayreuth. In ders. Bd.1: 367 - 438
  • 21 Sayre H M. The Object of Performance. The American Avant-Garde since 1970. Chicago, London; 1989: 102
  • 22 Burden C, Butterfield J. Through the Night Softly. In: Battcock, Gregory and Robert Nickas (Ed.): The Art of Perfomance. A Critical Anthology New York; 1984: 222-239
  • 23 Kat. Brus .Der Überblick. Museum Moderner Kunst Wien Salzburg, Wien; 1986: 5-9
  • 24 Beuys J. Zeige Deine Wunde. München; 1980 2 Bde hrsg. v. der Städt.Galerie im Lenbachhaus
  • 25 Nietzsche F. Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Karl Schlechta München; in: ders.: Werke. in 3 Bden 1973 1: 24
  • 26 Blanchot M. Le Regard d¿Orphée. Paris; In: ders.: L¿espace litteraire 1955: 227-234
  • 27 Theweleit K. Frankfurt a.M; In: ders.:Buch der Könige. Bd 1 Orpheus und (durchgestrichen) Eurydike. Zweiter Versuch im Schreiben ungebetener Biographien 1988
  • 28 Kat. George Grosz .Berlin, New York. Peter-Klaus Schuster Staatl.Museum zu Berlin. PreußischerKulturbesitz Berlin; 1994: 136

1 Die Segeltour fand 1975 im Rahmen der letzten Ausstellung von Bas Jan Ader statt, die in der Galerie Claire Copley in Los Angeles mit dem Titel ”In the Search of the Miraculous” gehalten wurde und die Ader selbst konzipiert hatte. Im Februar/März 1993 zeigte der Galerist Paul Andriesse in seinen Räumen in Amsterdam eine Rekonstruktion dieser letzten Ausstellung bzw. der Segeltour.

2 Bätschmann behandelt Gemälde des 19. Jahrhunderts.

2 Schmidt vergleicht das Thema anhand von Zeichnungen, Gemälden, Fotos und Performances (Jean Le Gac, Ulrike Rosenbach und Joseph Beuys).

3 ”Sick: The Life & Death of Bob Flanagan, Supermasochist.” Ein Dokumentarfilm von Kirby Dick über den Künstler Bob Flanagan, der seine Krankheit Zystischer Fibrose mit „Krankheit” bestritt. Er experimentierte mit den Grenzen von „illness, pain, sexuality, love and death”.

4 Erstmals zeigte Flanagan sich selbst im Krankenbett unter diesem Titel „ Visiting hours” 1992 im Santa Monica Museum of Art, erneut 1994 im New Museum of Contempory Art in New York und 1995 im Museum of the School of Fine Arts in Boston.

5 Vgl.Tafel 3: „Gehorsame Versuchsperson beim Experiment Berühungsnähe”.

6 Marina Abramovic erwähnt sich als Zeuge in: Abramovic, Marina: Cleaning the House. London 1995 o.S.

6 Es scheint, als ob d¿Armagnac hier in einer Umkehrung des Motivs Bezug nimmt auf Bruce Nauman¿s „Selfportrait as a Fountain” (1966/1967).

7 Den Blick des Narziss als Modell für die Wahrnehmung zu erwägen, war ein Vorschlag von Michael F. Zimmermann auf dem Kongress des Verbandes Deutscher Kunsthistoriker in München am 11.3.97 im Anschluss an meinen Vortrag: Der Künstlertod - Extremfälle der Inszenierung im 20. Jahrhundert.

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Autor:

Prof. Dr. Antje von Graevenitz

Universität zu Köln
Kunsthistorisches Institut Abt. Allgemeine Kunstgeschichte

Email: antje.graevenitz@uni-koeln.de