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DOI: 10.1055/s-2001-18325
Chronische Anämie und abdominelle Schmerzen als Folge einer Bleiintoxikation
Der Fluch der AutomatenPublication History
Publication Date:
28 April 2004 (online)
Die Kasuistik von C. Wolf et al. [2] zeigt überdeutlich die Kehrseite des technischen Fortschritts in der (Labor-) Medizin: Infolge »flächendeckender« automatischer Blutbilddifferenzierung werden wertvolle, auf die mögliche Diagnose hinweisende Informationen nicht mehr wahrgenommen.
Zu meiner Zeit - med. Staatsexamen 1948 - war einem halbwegs ausgebildeten Internisten, aber auch einem guten Examenskandidaten selbstverständlich bekannt, dass bei chronischen Bauchkoliken in Kombination mit einer Anämie in erster Linie an eine - früher häufigere - Bleivergiftung zu denken ist. Schon ein Blick durchs Mikroskop auf den Blutausstrich mit der - in sämtlichen, mir direkt zugänglichen medizinischen Lexika und Übersichtswerken (z.B. Pschyrembel, Klin. Wörterbuch; Thiele, Handlexikon der Medizin; Roche-Lexikon Medizin; W. Siegenthaler, Differentialdiagnose innerer Krankheiten und viele andere mehr) als »obligat« für chronische Bleiintoxikation bezeichnete blaue »Tüpfelung« der Erythrozyten - hätte in erster Linie an diese Diagnose denken lassen müssen. So erstaunt es eigentlich nicht mehr, dass dieser typische Befund - bei sonst ausführlicher Schilderung aufwendigster Untersuchungsverfahren - im Beitrag von Wolf nicht einmal mehr Erwähnung findet.
Ähnlich ungut steht es mit der Diagnostik typischer »Pfeiffer-Zellen« im Blutausstrich. Bei einer (antibiotisch anbehandelten) fieberhaften Angina mit deutlichen Lymphknotenschwellungen veranlasste der Hausarzt auf meine Bitte eine Blutbilduntersuchung. Im Laborbericht wurden 20,2 % Neutrophile, 68,3 % »Lymphozyten« und (nur!) 5,4 % Monozyten - GE 9,0 (6,5 - 8,7); AP 294 (50 - 190); LDH 244 (80 - 240); - beschrieben. Die telefonisch erbetene Nachbefundung unterblieb: Der Ausstrich war bereits »entsorgt«. Die Epstein-Barr-Serologie bestätigte die Diagnose (VAC IgG pos.).
Die Kasuistik »Importierte Anopheles: Im Gepäck oder aus dem Flugzeug« [1] weist auf ähnliche Probleme bei der Malaria-Diagnostik hin: Eine 67-jährige Frau wurde dort 160 Tage stationär behandelt mit einem ungewöhnlich komplikationsreichen Verlauf einer Malaria tropica, bei der die richtige Diagnose erst mehr als 4 Wochen nach der Krankenhaus-Erstaufnahme verdachtsweise gestellt werden konnte. Eine erfahrene MTA hätte bei aufmerksamer mikroskopischer Betrachtung des routinemäßig am ersten oder zweiten Tag angefertigten Blutausstrichs möglicherweise die für das Krankheitsbild der Patientin ursächlichen Malariaplasmodien erkannt, was zur Frühdiagnose wenigstens verdachtsweise hätte führen können, obwohl sich von der Vorgeschichte her kein eindeutiger Zusammenhang eruieren ließ: Die Frau hatte sich nämlich zu keiner Zeit in Malariagebieten aufgehalten. Eine eindeutige Infektionsquelle wurde denn auch bis zum Ende der Klinikbehandlung nicht gefunden. Theoretisch wurden schließlich zwei Möglichkeiten diskutiert: 1.) Eine direkt aus dem Flugzeugschacht in der Einflugschneise des Frankfurter Flughafens stammende »autochthone« Anophelesmücke oder, wahrscheinlicher, 2.) der Transport der Mücke aus Zentralafrika im Gepäck eines im Nachbarzimmer des primäraufnehmenden Krankenhauses behandelten Malariapatienten im Sinne einer »Baggage-Malaria«.
Bei einem 38-jährigen, exzellent trainierten Flugbegleiter passierte Vergleichbares bei der automatischen Computerauswertung eines EKG im Rahmen einer Personaluntersuchung. Aufgrund eines vom Computer fälschlich als Q III angesehenen 0,04 s breiten S III - im Original-EKG war eindeutig eine kleine initiale R III-Zacke und nur 0,02 s breites Q in aVF erkennbar - wurde ein »wahrscheinlich alter Hinterwandinfarkt« diagnostiziert und eine Kaskade überflüssiger diagnostischer Maßnahmen inganggesetzt, ganz abgesehen von der dadurch beim Patienten ausgelösten Angst, der erst dadurch zu einem »patients«, einem »Leidenden«, wurde.
Da der »Fortschritt« nicht aufzuhalten ist, wäre die Verbesserung der Computer-Software für die automatische Blutbilduntersuchung und die automatische EKG-Auswertung dringlich.
Literatur
- 1 Praetorius F, Altrock G, Blee N, Schuh N, Faulde M. Importierte Anopheles: Im Gepäck oder aus dem Flugzeug? . Dtsch Med Wochenschr. 1999; 124 998-1002
- 2 Wolf C, Binder R, Barth A, Konnaris C, Rüdiger H W. Chronische Anämie und abdominelle Schmerzen als Folge einer Bleiintoxikation. Dtsch Med Wochenschr. 2001; 126 556-558
Dr. med. Lothar L. Schute
Chefarzt i.R.
Internist, Radiologe, Sportmedizin
Südring 56
63500 Seligenstadt