Literatur
1 Diese Begriffsbildung ist dem Begriff „Orgasmustheorem
” vorzuziehen, da sie nicht die Vorstellung einer ausgearbeiteten
Theorie evoziert. Es mag zwar zutreffend sein, dass die Vertretung der festen
Überzeugung, es gäbe Orgasmen ohne laborexperimentelle
Sexualforschung, schwer denkbar ist, aber es handelt sich gerade nicht um
wissenschaftliches bzw. theoretisches Wissen, das Verbreitung und Erfahrung von
Orgasmen ausmacht. Der Begriff des Paradigmas ist weiter gefasst und so zur
Beschreibung des Phänomens eher geeignet. Es wäre in diesem Sinne
auch an den Begriff der Semantik zu denken, wie ihn Niklas Luhmann gebraucht,
um Beziehungen zwischen gesellschaftlichen Strukturen einerseits und
Wissensbeständen, Denk- und Wahrnehmungsweisen andererseits zu analysieren
(vgl. Luhmann 1980: 17, 20 f).
2 Zugleich entstehen, vor allem in Organisationen, neue starre
Rollengefüge, die individuelles Handeln einschränken. Außerhalb
organisationaler Kontexte verschärfen sich jedoch Notwendigkeit und
Möglichkeit, Handeln individuell und personal zuzurechnen.
3 Am Beispiel der Sprache (als dem prominentesten
Kommunikationsmedium) lässt sich die Problematik, die symbolisch
generalisierte Kommunikationsmedien (auf-) lösen, nachzeichnen. Unsere
Sprache ist Ja/Nein-codiert. Allein aus ihrer Struktur lässt sich weder
eine Präferenz für eine Bejahung noch für eine Verneinung
ableiten. Die Negation bleibt - rein sprachlogisch betrachtet - in
jedem Falle eine gleich wahrscheinli che Möglichkeit. Wenn jedoch jede
Kommunikationsofferte genauso gut abgelehnt wie angenommen werden kann, also
Annahme und Ablehnung gleich wahrscheinlich sind, so rückt diese Situation
in die Nähe doppelter Kontingenz. Soziale Systeme, die auf Kommunikation
beruhen, sind jedoch darauf angewiesen, dass Kommunikationen
regelmäßig und in erwartba rer Weise zustande kommen. Hierzu muss
die Annahmewahrscheinlichkeit von Kommunikationsofferten systematisch
erhöht werden. Es geht also, um mit Luhmann zu formulieren, um die
Erhöhung der Wahrscheinlichkeit des an sich Unwahrscheinlichen. Zur
Erhöhung der Wahrscheinlichkeit der Annahme von Kommunikationen bildet die
moderne Gesellschaft symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien aus. Diese
sind Zusatzeinrichtungen zur Sprache, die im Gegensatz zu dieser eine klare
Präferenz für einen - meist den positiven - Wert ihres
binären Codes mit sich führen, so dass bei Einsatz eines symbolisch
generalisierten Kommunikationsmediums sich die Annahmewahrscheinlichkeit einer
Kommunikation in einer Weise erhöht, die deren Annahme
regelmäßig erwartbar macht. Recht, Geld, Macht und Liebe wären
Beispiele für symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien; Recht wird
gegenüber Unrecht, Zahlung gegenüber Nichtzahlung, Macht
gegenüber Ohnmacht ebenso präferiert wie Liebe gegenüber Hass
oder Gleichgültigkeit. Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien
können jeweils zur Durchsetzung an sich unwahrscheinlicher
Verhaltenserwartungen oder -zumutunge n eingesetzt werden (vgl. Luhmann 1997:
316 - 396).
4 Von Luhmann selbst wird Sexualität nahezu ausschli
eßlich im Zusammenhang mit romantischer Liebe thematisiert. Luhmann
(1982, 1997) begreift Sexualität als symbiotischen Mechanismus des
symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums (romantische) Liebe. So wie
sich Macht auf körperliche Gewalt, Geld auf Bedürfnisbefried igung
stützt, so stütze sich Liebe auf Sexualität. Ähnlic h wie
sein Schüler Peter Fuchs (vgl. Fuchs 1999) beschränkt sich Luhmanns
Thematisierung der Sexualität im Wesentlichen darauf, dass romantische
Liebe die Körperlichkeit der Liebenden, mithin also Sexualität nicht
ignorieren könne. Der Sexualität selbst wird jedoch keine
eigenständige, von Liebe unabhängige Rolle zugebilligt. Jedenfalls
wird eine solche weder von Luhmann noch von Fuchs thematisiert. Einfache
Alltagsbeobachtungen zeitgenössischer Gesellschaften zeigen jedoch sehr
deutlich, dass von einer exklusiven Bindung von Sexualität an romantische
Liebe oder deren Code nicht (länger?) ausgegangen werden kann. Vielmehr
kommt Sexualität verstärkt und - vor allem auch - in
legitimer Form außerhalb des Bereichs romantischer Liebe vor, so dass die
ausschließliche Behandlung von Sexualität als symbiotischem
Mechanismus zum Kommunikationsmedium Liebe sich als nicht
realitätsadäquat erweist. Die Bereiche jenseits romantischer Liebe,
in denen Sexualität relevant ist - beispielsweise die
Ausdifferenzierung sexueller Praktiken, die Umstellung von Fortpflanzung auf
Lust, die Abkopplung von Sexualität und Moral, aber auch alte
Phänomene wie etwa Prostitution -, werden von der modernen
Systemtheorie meines Wissens nirgendwo thematisiert. So gelingt Peter Fuchs
(1999) beispielsweise das Kunststück, in einem Vorlesungszyklus mit dem
Titel „Liebe, Sex und solche Sachen” Sexualität als
eigenständiges Thema beinahe völlig zu ignorieren. So kann die
Luhmannsche Systemtheorie inhaltlich zu einer Sexualsoziologie wenig beitragen;
als Analyseinstrum entarium eignet sie sich dennoch.
5 Der hier verwendete systemtheoretische Kommunikationsbegriff
unterscheidet sich grundlegend von Habermas'schen und landläufigen
Begrifflichkei ten. Kommunikation im Sinne Luhmanns besteht aus den Elementen
Information, Mitteilung und Verstehen, wobei mit dem Begriff Verstehen das
Unterscheiden einer Differenz von Mitteilung und Information gemeint ist.
Kommunikationen kommen also immer dann zustande, wenn (von wem auch immer)
zwischen Informati on und Mitteilung unterschieden wird (vgl. Luhmann 1997: 72,
442). So ist auch Missverstehen eine Form von Verstehen: „Verstehen ist
praktisch immer ein Missverstehen ohne Verstehen des Miss” (Luhmann
1996: 173).
6 Erst vor diesem Hintergrund wird sexuelle Lustlosigkeit zu einem
sozialen Problem (vgl. auch Schmidt 1998: 91 - 101).
7 Wenn die Annahme einer spezifischen (Erlebnis-) Qualität
eines gemeinsamen und gleichzeit igen Orgasmus zutreffend sein soll, so kann
ein Orgasmus logischerweise nicht als primär somatisches Phänomen
verstanden werden.
8 Ein anderes System, das zumindest den Anspruch einer Art
Vollinklusion kommuniziert, wäre das Religions system. Für moderne
Gesellschaften müssen wir jedoch feststellen, dass es dem Religionssystem
nicht mehr gelingt, allinklusiv zu wirken. Vor diesem Hintergrund ließen
sich dann Verbindungslinien zwischen dem Aufstieg von Intimsystemen und
Säkularisierungsprozessen ziehen.
9 Dies hat unter anderem zur Folge, dass Verführung
problematisch wird, da sie Mittel einsetzt, auf deren Erfolg zu reflektieren
der Code romantischer Liebe verbietet (vgl. auch Fuchs 1999: 73 f).
10 „So wenig wie ein Mensch des Mittelalters ahnen, denken
oder fühlen konnte, dass spätere Zeiten seinem Körper einen
Blutkreislauf oder ein Immunsystem zuschreiben würden, hätte er
wissen können, dass in seinem Leib ein sexueller Höh epunkt vor sich
gehen könnte” fügt Walter hinzu (ebd.: 36).
11 Für unseren Argumentationsgang ist es unwichtig, ob sich die
Durchsetzung des Orgasmusparadigmas der laborexperi mentellen Sexualforschung
und/oder den Orgasmus-Reports der 50er und 60er Jahre verdankt. Entscheidend
ist lediglich, dass sich der Orgasmus als sexuelle Normalerwartung faktisch
durchgesetzt hat.
12 Wir führen hier als einen dritten Systemtyp zusätzlich
noch somatische Systeme an, wobei wir annehmen, dass deren Operationsweise in
biochemischen Prozessen besteht.
13 Der Körper kann ebenso wenig zu denken beginnen, wie soziale
Systeme in biochemische Prozesse eingreifen können oder Gedanken
kommunizieren können. Diese Geschlossenheit auf basaler Ebene
schließt strukturelle Kopplunge n im Rahmen der Etablierung
wechselseitiger Beobachtungsverhältnisse jedoch nicht aus.
14 Im Rahmen dieses Essays handelt es sich (selbstverständlich)
um Operationen des Wissenschaftssys tems, da wir uns auf die Leitdifferenz
wahr/unwahr beziehen.
15 Wir erinnern daran, dass auch und gerade der Körper zur
Umwelt psychischer Systeme gehört.
16 Dass auch das somatische System das ihm zugehörige psychische
System beobachtet und in dieser Beobachtung eine eigene Realität
konstruiert, ist selbstverständlich. Ohne dies weiter ausführen zu
wollen, kann aus diesem Verhältnis von psychischen und somatischen
Systemen einiges zum Thema Orgasmusfähigkeit abgeleitet werden. Zu denken
wäre etwa an das Verhältnis von Orgasmus(un)fähigkeit zu anderen
psychosomatischen Phänomenen und/oder Krankheiten.
17 Auch Psychologen ist dies letztlich nicht möglich -
auch wenn sie diese Fähigkeit noch so vehement kommunizieren. Auch sie
beobachten als psychische Systeme nur Kommunikationen und versuchen aus diesen
Beobachtungen wiederum auf die Beobachtungsweise beobachtender psychischer
Systeme zu schließen. Da all dies als Kommunikation abläuft, bleiben
auch Psychologen an Logik und Eigendynamik sozialer Systeme gebunden; ihr
eigentliches Objekt bleibt für sie somit zwangsläufig
unerreichbar.
18 Damit soll keineswegs bestritten werden, dass das Modell des
weiblichen Orgasmus dem des männl ichen nachgebildet ist. Für das
soziale Konstrukt „Orgasmus” ist es jedoch wichtig, seinen
geschlechts& uuml;bergreifenden Charakter festzuhalten. Auch in dieser
Hinsicht mag man ein Element des modernen Strebens nach Eindeutigkeit
erblicken.
19 Es eröffnen sich somit Wege der Anschließbarkeit
an eine antike Ästhetik, wie sie Foucault (1984a, 1984b, o. J.)
rekonstruiert. Das Orgasmusparadigma ermöglicht eine Abwendung von einer
Moral der Akte und die Hinwendung zu einer ethischen Ausarbeitung eines
Selbstverhältnisses im Bereich der Sexualität. Ein solches
Selbstverhältnis ließe sich in den systemtheoretischen Kontext
übersetzen und als eine Form der Autopoiesis beschreiben.
20 Der Orgasmus erweist sich auch insofern als ein spezifisch
modernes Phänomen, als er ein Ausdruck der Ablösung von zugeschri
ebenen Eigenschaften (Schönheit, Geschlecht etc.) ist. Die Etablierung des
Orgasmusparadigmas zeigt eine Umstellung auf Orientierung an erworbenen
Eigenschaften an, insofern als die Fähigkeit zum Orgasmus als erlernbar
gilt und andererseits bzw. komplementär dazu das Erreichen des eigenen
Orgasmus und desjenigen des Partners zu einer erlernbaren Technik geworden ist.
Ohne in den Chor der allgemeinen Kulturkritik einfallen zu wollen, lässt
sich festhalten, dass in modernen Gesellschaften eine Technisierung der
Sexualität stattgefunden hat, die jedoch, darauf weisen Foucaults
späte Arbeiten hin (vgl. Foucault 1984a, 1984b, o. J.), auch im
Sinne eines Kunstwerks (weiter) entwickelt werden könnte.
21 Man mag bedauern, dass mit der Fixierung des Orgasmus als Endpunkt
der sexuellen Interaktion vieles andere (normativ) entwertet wird; andererseits
sollte man jedoch durchaus sehen, dass der (auch vorgespie lte) Orgasmus die
Funktion hat, die sexuelle Interaktion zu beenden, weitere sexuelle
Bemühungen oder Manipulationen als sinnlos, zweckfremd, unnötig,
unerwünscht etc. zu klassifizieren. Die Funktion, die der Orgasmus bzw.
das Orgasmusparadigma für die soziale Beziehung der beteiligten Personen
hat oder haben kann, muss an dieser Stelle unberücksichtigt bleiben. Es
ist denkbar, dass sexuelle Interaktionen an sich für eine soziale
Beziehung viel wichtiger als ein Orgasmus sind.
22 Individualisierung im Bereich der Sexualität führt also
nicht nur zu flexibleren Partnerwahlmustern, mehr sexuellen Praktiken usw.
23 Eine besondere Rolle spielen in heutigen Gesellschaften
sicherlich die Massenmedien und in der Tat scheint die strukturelle Kopplung
von Sexualität(ssystem) und (dem System der) Massenmedien eine wichtige
Rolle zu spielen.
24 Sexuelles Begehren ist ohne sexuelle Skripte nicht denkbar!
25 Derselbe Sachverhalt lässt sich plakativ durch die These
ausdrücken, dass Sexualität kein natürliches Phänomen ist,
sondern eine spezifische kulturell e Praxis darstellt.
26 Mit der Frage nach der Herausbildung eines Funktionssystems der
Sexualität, die an dieser Stelle nicht abschließend beantwortet
werden kann, beschäftigt sich auch mein Dissertationsprojekt mit dem
Arbeitstitel „Sexualität in den Zeiten funktionaler
Differenzierung”.
-
01 Foucault M. Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Bd.
1. Suhrkamp, Frankfurt/M.; 1976:
-
02 Foucault M. Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit,
Bd. 2. Suhrkamp, Frankfurt/M.; 1984 (a):
-
03 Foucault M. Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit, Bd. 3. Suhrkamp, Frankfurt/M.; 1984 (b):
-
04 Foucault M. Von der Freundschaft als Lebensweise. Michel Foucault im
Gespräch. Merve, Berlin,; o. J.:
-
05 Freud S (1905). Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. In: Freud S. Gesammelte Werke, Bd. V. Imago, London; 1942:
-
06 Fuchs P. Das Unbewusste in Psychoanalyse und Systemtheorie. Die
Herrschaft der Verlautbarung und die Erreichbarkeit des Bewusstseins. Suhrkamp, Frankfurt/M.; 1998:
-
07 Fuchs P. Liebe, Sex und solche Sachen. Zur Konstruktion moderner
Intimsysteme. Universitätsverlag, Konstanz; 1999:
-
08 Luhmann N. Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur
Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 1. Suhrkamp, Frankfurt/M.; 1980:
-
09 Luhmann N. Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Suhrkamp, Frankfurt/M.; 1982:
-
10 Luhmann N. Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie. Suhrkamp, Frankfurt/M.; 1984:
-
11 Luhmann N. Die Realität der Massenmedien. 2., erweit. Aufl. Westdeutscher Verlag, Opladen; 1996:
-
12 Luhmann N. Die Gesellschaft der Gesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt/M.; 1997:
-
13 Schmidt G. Sexuelle Verhältnisse. Über das Verschwinden der
Sexualmoral. Rowohlt, Reinbek; 1998::
-
14 Schmidt G. Spätmoderne Sexualverhältnisse. In: Schmerl C, Soine S, Stein-Hilbers M, Wrede B (Hrsg).
Sexuelle Szenen. Inszenierungen von Geschlecht und
Sexualität in modernen Gesellschaften. Leske + Budrich, Opladen; 2000:: 268-278
-
15 Sigusch V. Kritische Sexualwissenschaft und die Große
Erzählung vom Wandel. In: Schmidt G, Strauß B (Hrsg). Sexualität und Spätmoderne. Über den
kulturellen Wandel der Sexualität. Beiträge zur Sexualforschung, Bd.
76. Enke, Stuttgart; 1998: 5-16
-
16
Simon W.
Die Postmodernisierung der Sexualität.
Z Sexualforsch.
1990;;
3
99-114
-
17 Simon W, Gagnon J H. Wie funktionieren sexuelle Skripte?. In: Schmerl C, Soine S, Stein Hilbers M, Wrede B (Hrsg).
Sexuelle Szenen. Inszenierungen von Geschlecht und
Sexualität in modernen Gesellschaften. Leske + Budrich, Opladen; 2000:: 70-95
-
18 Stein-Hilbers M. Sexuell werden. Sexuelle Sozialisation und
Geschlechterverhältnisse. Bearb. und hrsg. von B. Wrede. Leske + Budrich, Opladen; 2000:
-
19
Walter T.
Plädoyer für die Abschaffung des Orgasmus. Lust und
Sprache am Beginn der Neuzeit.
Z Sexualforsch.
1999;;
12
25-49
Sven Lewandowski,M. A.
Rambergstr. 10
30161 Hannover
eMail: Sven.Lewandowski@stud.uni-hannover.de