PiD - Psychotherapie im Dialog 2002; 3(1): 33-41
DOI: 10.1055/s-2002-25012
Aus der Praxis
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Der Psychotherapie
auch Beine machen!
Eine luxuriöse Diskussion?

Andrea  Dinger-Broda, Ute  Pfeiffer, Petra  Wendel, Wolfgang  Pommer, Wolfgang  Senf
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Publication Date:
11 April 2002 (online)

PiD: Welches sind die körperlich kranken Patientinnen und Patienten, die in Klinik und Praxis unter psychosozialen Gesichtspunkten am ehesten zusätzliche Versorgungsangebote bräuchten?

P. Wendel: An erster Stelle steht bei mir eigentlich der chronische Schmerzpatient. Natürlich auch diese dyspeptischen Patienten, die immer mit Bauchschmerz vielleicht gerade in eine Landarztpraxis kommen und sagen: „Ich hab‘ hier wieder Schmerzen, helfen Sie.” Ich habe da ein Beispiel von einem chronischen Schmerzpatienten, der ein degeneratives Wirbelsäulensyndrom hat. Er hat aber nicht nur chronische Schmerzen, er hat seinen Hypertonus, seinen Diabetes mellitus, und es war für mich am Anfang sehr schwer zu erkennen, was ist organischer Schmerz und was ist psychisches Problem. Wird durch die Psyche die organische Erkrankung jetzt massiv verschlechtert, oder ist die organische Erkrankung so schwer, dass die Psyche mitreagiert? Und ich finde, das ist in der Praxis enorm schwierig. Es ist auch enorm schwierig, mit diesen Patienten zu kooperieren. Irgendwann komme ich an den Punkt, an dem ich sage: „Möchten Sie nicht doch einmal psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nehmen?” Viele Patienten akzeptieren das nicht gleich. Sie sagen: „Ich bin krank, ich hab' Schmerzen, was soll ich denn beim Psychotherapeuten? Ich hab' doch keine psychische Erkrankung.” Man muss in der Praxis sehr, sehr behutsam vorgehen und den Patienten in mehreren Besuchen darauf vorbereiten, dass er sich auch einmal darauf einlässt, mit Kollegen der Psychotherapie zu sprechen. Und dann ist da ein anderes enormes Problem: Wo kriege ich denn einen Platz für den Patienten? Ich mache das so, dass ich nicht selbst Termine für den Patienten ausmache, sondern ich sage: „Ich habe die nötige Erfahrung mit den und den Kollegen, bitte, hier sind die Nummern, sind Sie so nett und nehmen Sie Kontakt auf.” Ich gehe dann davon aus, dass die Kollegen mich zurückrufen. Es ist oft so, dass die Patienten dann kommen, weil man ja verschiedene Personen angibt, und sagen: „Ja, in eineinhalb Jahren habe ich einen Gesprächstermin, aber Hilfe brauche ich doch jetzt.” Das finde ich enorm schwierig, dies alles sehr rasch zu koordinieren. Wir haben hier zwar eine große psychiatrische Klinik, die auch eine Ambulanz anbietet. Für die Einheimischen ist eine Vorstellung dort aber sehr abschreckend.

PiD: Wenn Sie ein psychosoziales Problem bei Ihren Patienten sehen und möglichst rasch eine angemessene Hilfe durch einen Psychotherapeuten, eine Psychotherapeutin organisieren wollen und Sie den Patienten gut vorbereitet haben, haben Sie dann das Problem, wie Sie den Patienten in eine psychotherapeutische Versorgung bekommen?

P. Wendel: Ja, das ist enorm schwierig.

PiD: Was meint denn die psychotherapeutische Praxis dazu, Frau Dinger-Broda? Zuerst einmal, sind das auch die Patienten, die Sie im Blick haben?

A. Dinger-Broda: Im Bereich chronisch körperlicher Erkrankungen habe ich schwerpunktmäßig Patientinnen und Patienten mit Tumorerkrankungen, chronische Schmerzpatienten, vor allem mit rheumatischen Erkrankungen, und auch Patienten nach Herzinfarkt oder mit Multipler Sklerose. Diese Patienten und Patientinnen kommen mit ganz unterschiedlichen Problemen. Das Problem, das Frau Wendel anspricht, sehe ich auch. Manche Patienten sagen: „Ich bin doch körperlich krank, was soll ich eigentlich überhaupt in einer psychotherapeutischen Behandlung?” Manche haben auch Angst, dass sie aufgrund der Inanspruchnahme von Psychotherapie beispielsweise von Gutachtern in Rentenverfahren nicht mehr ernst genommen und auf der „Psychoschiene” beurteilt werden. Diese Befürchtung erlebe ich oftmals durchaus als berechtigt und habe auch schon die Erfahrung gemacht, dass diese Patienten im medizinischen System dann wirklich anders behandelt werden.

PiD: Also es geht um Patienten mit schweren körperlichen Erkrankungen wie Krebs usw., die eine Verarbeitungsproblematik mit ihrer Krankheit haben. Dann sind es die chronischen Schmerzpatienten, die auch Verarbeitungsprobleme haben, wo aber auch die Frage ist: „Gibt es einen psychogenen Hintergrund, der die Erkrankung mit unterhält?” Dann sind es Patienten mit komorbiden Störungen, die zusätzlich zur körperlichen Erkrankung noch ein psychisches oder psychiatrisches Problem haben. Und ein wichtiges Problem dabei ist, die Patienten zu vermitteln.

P. Wendel: Ja, wobei ich jetzt noch einmal zwischen den Patienten, die Sie genannt haben, differenzieren muss. Ein Tumorpatient ist meistens ein Patient, der Zukunftsangst hat, da er ja eine Erkrankung hat, die zum Tode führen kann. Er hat Angst um seine Familie und die Kinder. Ein Herzpatient, der eigentlich auch immer Todesangst hat, davor, dass sich der Infarkt wieder ereignet, ist aber ein ganz anderer Patient als beispielsweise der chronische Schmerzpatient. Ich muss also ganz deutlich sagen: Ich habe nicht weniger Probleme, aber weniger Arbeitsaufwand, wenn ich es einmal so nenne, in der Praxis mit den Tumorpatienten als mit den chronischen Schmerzpatienten. Die Tumorpatienten lassen sich oft in der Familie auffangen, wenn das ganze Familienverhältnis intakt ist. Da kann man, denke ich, auch in therapeutischen Gesprächen viel erreichen. Ich weiß nicht, Frau Dinger-Broda, aber es ist sicherlich auch von Ihrer Seite her weniger problematisch, oder wie sehen Sie das?

A. Dinger-Broda: Das würde ich genauso sehen. Tumorpatientinnen und -patienten kommen mit ganz anderen Fragestellungen, und da erlebe ich ganz selten Widerstände gegen psychologische Behandlungen. Diese Patienten sind häufig auch sehr dankbar dafür, über ihre Ängste mit jemandem sprechen zu können, der eben nicht im System, also der selbst nicht als Familienmitglied durch die Erkrankung belastet ist. Viele Tumorpatienten möchten ja auch gar nicht mit ihren Angehörigen darüber sprechen, weil sie merken, dass diese auch unter Ängsten leiden. Und dadurch kommt es oft zu einer Vereinsamung innerhalb der Familie. Von daher sind Patienten mit Tumorerkrankungen häufig sehr aufgeschlossen gegenüber einer psychotherapeutischen Behandlung.

PiD: Nicht alle Patienten sind gleich, sondern sie lassen sich sozusagen nach den Problemen und Erkrankungen, die sie haben, differenzieren. Es würde sich eigentlich lohnen, das aufzulisten und sich im Dialog darüber zu verständigen: Warum habe ich das Problem mit dem Tumorpatienten, diese mit dem Schmerzpatienten usw., und wo sind die Notwendigkeiten dann der Kooperation und wo die Problemstellungen. Wie sehen Sie das aus Ihrer Sicht, Frau Pfeiffer als Gutachterin für die Pflegeversicherung?

U. Pfeiffer: Ich sehe neben Demenzkranken ebenfalls Tumor- und Schmerzpatienten. Meist ist es so, dass ich die Patienten dann besuche, wenn sie gerade aus der Klinik zurück sind. Evtl. hatten zuvor mehrere Therapien und Abklärungen stattgefunden.
Dann sind die Kranken das erste Mal wieder zu Hause. Der Hausarzt begleitet sie zwar weiter, doch auf einmal sind sie den größten Teil ihrer Zeit allein in der bisher gewohnten Umgebung. Wie kommen sie mit der geänderten Situation - Diagnose einer chronischen Erkrankung - mit all ihren Folgen jetzt zurecht? Ich finde es ganz wichtig zu erwähnen, dass auch die Angehörigen sehr stark belastet sind. Wenn man eine Therapieoptimierung erreichen will, müssten auch alle zur Verfügung stehenden Angebote zur Entlastung der betroffenen Familie genannt und erklärt werden. Sei es, dass eine Haushaltshilfe empfohlen wird, damit man sich mehr auf die psychosozialen Kontakte konzentrieren kann, oder dass man die Inanspruchnahme sozialer Dienste zur Hilfe bei der Grundpflege oder zur stundenweisen Betreuung bespricht. Ich denke, der Hausarzt hat hier die zentrale Bedeutung. Er sieht seine Patienten nach der Klinikentlassung und muss fragen: „Wie kommen Sie jetzt zurecht?” Die Erfahrung, die ich gemacht habe, ist, dass die Problematik nicht nur auf die Diagnosestellung und -vermittlung bezogen ist. Problematisch ist, dass der „Alltag” mit der Krankheit oft ganz anders ist als bisher.

PiD: Und wo sind aus der Perspektive Ihrer Arbeit die Bedürfnisse in Richtung Hausarzt oder Hausärztin und PsychotherapeutIn?

U. Pfeiffer: Meiner Meinung nach ist die erste wichtige Schnittstelle der Krankenhausarzt und der Sozialdienst des Krankenhauses, dann kommt der Hausarzt. Es ist oft so, dass ich als dritte involvierte Ärztin oft noch gefragt werde: „Was bedeutet diese Diagnose?” Auch wenn für uns Ärzte vielleicht ein ganz klares umschriebenes Krankheitsbild im Raum steht, stelle ich oft fest, dass dessen Bedeutung und vor allem die Konsequenzen den Betroffenen nicht klar sind. Ich habe jetzt das Glück, dass ich Zeit zum Erklären habe oder sie mir nehmen kann. Ich sehe hier durchaus das Problem des Hausarztes, der dies im Rahmen seiner vielen Hausbesuche oder während der Sprechstunde einfach nicht leisten kann. Vor allem, wenn der Patient nicht offen mit seinen Fragen und Ängsten an ihn herantritt. Natürlich sollte die Möglichkeit einer psychotherapeutischen Mitbetreuung genutzt werden. Das ist das Optimum, doch ich sehe dies nur sehr selten verwirklicht.

PiD: Das ist ein wichtiger Punkt, haben wir jetzt einen Schuldigen?

U. Pfeiffer: Genau zu diesem Punkt wollte ich noch etwas bemerken: Machen Psychotherapeuten Hausbesuche? Viele chronisch Kranke können in die Praxis eines Psychotherapeuten gehen, dann stellt sich diese Frage nicht. Stellen wir uns aber einmal einen Apoplex-Patienten vor, der kaum Treppen steigen kann. Aufgrund der örtlichen Gegebenheiten oder der vorliegenden körperlichen Einschränkungen ist ein regelmäßiger Besuch beim Facharzt oft gar nicht möglich. Es nützen die Motivation und die Fähigkeiten eines Psychotherapeuten nichts, wenn der Patient gar nicht die Möglichkeit hat, regelmäßig eine solche Behandlung außer Haus in Anspruch zu nehmen.

PiD: Es bedürfte also einer besseren Vorbereitung schon in der Klinik, und auch darüber müssen wir nachdenken, ob die psychotherapeutische Praxis sich für solche Patienten von einer „Komm-Struktur” in eine „Geh-Struktur” entwickeln muss. Den Gedanken an psychotherapeutische Hausbesuche behalten wir mal im Kopf für später. Aber jetzt gehen wir mal in Richtung Klinik. Fängt da das Elend an, oder wie sehen Sie das, Herr Pommer?

W. Pommer: Also da fängt das Elend nicht an, das ist das Elend. Der stationäre Betreuungsauftrag beinhaltet ja zwei Gruppen: Einmal den Patienten, der so schwer erkrankt ist, dass man ihn stationär behandeln muss aus seinem Krankheitsgeschehen heraus. Und zweitens den chronisch kranken Patienten, der in ein neues Krankheitsstadium kommt, welches für ihn deletär ist, mit einem fortschreitenden, in medizinische Katastrophen einmündenden Krankheitsgeschehen. Der Diabetiker, der progredient Niereninsuffiziente, der auf die Dialyse vorbereitet werden muss. Der Diabetiker, der sein Bein verliert oder der einen Herzinfarkt bekommt, das ist der Bereich chronische Krankheit. Der Akutpatient mit einem akuten Nierenversagen wird dann vielleicht nach zwei Tagen verlegt, und dann muss er realisieren, dass seine Chance, wieder gesund zu werden, vertan ist, null ist, dass er sein Leben völlig neu gestalten muss. Der Patient mit einem schweren Herzinfarkt, der nicht mehr gesund werden kann, weil seine Herzfunktion schwer kompromittiert ist. Das ist die Situation der Klinik, und in diesem Rahmen gibt es sicher unterschiedliche Interventionsgedanken und auch unterschiedliche Interventionsnotwendigkeiten. Jemand, der im mittleren oder jungen Lebensalter einer akuten Erkrankung ausgesetzt ist, ohne die Hoffnung, wieder gesund zu werden, bedarf einer anderen Intervention und Stützung als derjenige, der mit einer chronischen Erkrankung lebt. Das sind nun letzte Probleme wie der Verlust der Berufsfähigkeit, sofern sie noch vorhanden ist, oder die Frage, ob er sich im häuslichen Rahmen überhaupt wieder selbst versorgen kann. An diesen Punkten sind natürlich dann andere psychosoziale Stützungssysteme notwendig als bei einer anderen Klientel, die akut erkrankt ist und sozusagen im Rahmen einer Krankheitsverarbeitung Hilfe benötigt. Und als besondere Spielart gibt es natürlich diejenige Patientengruppe, bei der eine chronische Krankheit neu entdeckt wird. Bleiben wir zunächst einmal bei einem Patienten mit Diabetes und schwerwiegendem Hochdruck, der zunächst keine Schmerzen oder keine subjektive Leidenserfahrung hat und mit einem gewissen Unverständnis dieser Krankheit gegenübersteht. Wenn der Arzt ihm erklärt, dass in einigen Jahren dieses und jenes zu erwarten ist an fatalen Komplikationen, so ist auch diese Patientengruppe wieder eine eigene, die lernen muss, einer Krankheit gegenüber, die zunächst nicht einschränkend, aber perspektivisch ungünstig ist, eine persönliche Haltung zu entwickeln. Das ist ein außerordentlich komplizierter Prozess, der den Bereich der Sekundärprävention beinhaltet und den adäquaten Umgang mit der Krankheit zum Ziel hat, bei dem der Patient lernen muss, ein Meister seiner Erkrankung zu werden, um fatale Komplikationen abzuwenden.

P. Wendel: Ich würde das gerne etwas differenzieren: Zum einen der Patient, der jetzt eher von Ihnen angesprochen wurde, der wirklich chronisch schwerst krank aus der Klinik kommt, und zum anderen der Patient, der eine Erkrankung diagnostiziert bekommt wie Diabetes und lernen muss, damit zu leben. Ich glaube, dass sind wirklich zwei ganz verschiedene Problemgruppen. Der chronisch Kranke, der Apoplex-Patient mit einer Hemiparese oder nach einer Hirnblutung, der muss, denke ich, von der Klinik ganz anders „in die Freiheit” nach Hause entlassen werden als ein Diabetiker. Der Diabetiker soll ja gesagt bekommen, Prävention ist wichtig wegen der Sekundärerkrankungen. Aber der Patient mit der Apoplexie, mit der Hemiparese, der braucht Versorgung im Sinne von Hilfsmitteln zu Hause. Er braucht aber auch psychotherapeutische Hilfe, und in diesem Zusammenhang gefällt mir die Frage von Frau Pfeiffer sehr gut: Macht der Psychotherapeut Hausbesuche? Denn das ist wirklich ein immenses Problem in der hausärztlichen Versorgung, eine vernünftige Koordination zu leisten. Und es muss nicht nur der Patient therapiert werden, häufig muss die ganze Familie betreut werden. Wenn eine Frau, die ihr Leben lang ihren Haushalt versorgt hat, vielleicht auch noch jüngere Kinder hat, nach einer Hirnblutung im Haushalt ausfällt, muss alles umorganisiert werden. Der berufstätige Ehemann muss sich nun plötzlich viel mehr in diese ganze häusliche Situation integrieren. Ich denke, da ist wirklich ein psychotherapeutischer Angriffspunkt gegeben.

W. Pommer: Da sind wir ja auch gar nicht kontrovers. Ich meine, es gibt drei Patientenkategorien: Erstens akute schockartige Erkrankung; zweitens chronische Krankheit, Patient muss lernen, mit der Krankheit zu leben; und drittens der chronisch fortschreitende Erkrankungsprozess mit Polymorbidität, wo alle sozialen Stützungssysteme wegzubrechen drohen, Familie, Berufstätigkeit, körperliche Handikaps, die sozusagen im Rahmen der häuslichen Situation nicht mehr zu verarbeiten sind. Das sind die drei Aufgaben, die die Klinik zumindest im Blick haben muss. Ob sie bewältigt werden können, das ist noch eine ganz andere Frage.

PiD: Herr Pommer, was würden Sie sich wünschen, was erstens in dem Überweisungsbrief des Hausarztes steht, nicht nur an somatischen harten Fakten, und was könnten Sie sich vorstellen, was in Ihrem Arztbrief an den Hausarzt und natürlich für die nachfolgenden Dienste stehen könnte? Also wo würden Sie sich, um das mal auf den Punkt zu bringen, als Krankenhausarzt mehr Kommunikation wünschen?

W. Pommer: Also erst einmal von unserer Seite sind wir natürlich sowohl in der neuen Systematik der Vergütungssysteme als auch von unserem eigenen Verständnis, wie wir Kranken gegenübertreten, konditioniert, schnell soziale und psychosomatische Hilfsdienste, auch psychiatrische Hilfsdienste, in Anspruch zu nehmen. Und das wird relativ zeitnah heute bei uns umgesetzt. Insofern ist dort - mal von den strukturellen Bedingungen des Krankenhauses, Personalknappheit usw. abgesehen - eigentlich zunächst einmal wenig Defizienz. Wo Defizienz dann ist, ist tatsächlich, dass der Prozess, in dem sich auch ein Gewinn für den Patienten niederschlägt, einfach zeitlich viel, viel länger braucht, als das im Rahmen eines sehr knapp kalkulierten Krankenhausbudgets mit sehr kurzen Liegezeiten umgesetzt werden kann. Das heißt, wir sind an einem Punkt, an dem wir zwar intellektuell das sehr gut und auch bis zu einem gewissen Maße praktisch sehr schnell umsetzen können, aber an dem die Faktizität dessen, was der Patient nötig braucht, eine längere Zeit in Anspruch nimmt: Der Amputierte kann eben nicht nach drei Tagen gehen, seine Wohnung aufsuchen und sozusagen in seinem neuen sozialen Korsett leben. Und dafür haben wir möglicherweise nur sehr begrenzte Ressourcen.

PiD: Schreiben Sie das dann auch dem Hausarzt? Also: Ich habe hier jetzt den dramatischen Fall einer Diagnose eines Krebses, und Ihnen ist aufgefallen, dass die Schwestern sagen, dass die Patientin immer wieder weint und da offenbar auch Probleme sind. Geben Sie dann die Empfehlung an die Hausärztin, den Hausarzt, auch dafür zu sorgen, dass hier möglichst rasch eine psychosoziale Betreuung wohnortnah eintritt? Ich sage Ihnen das jetzt ein bisschen provokativ, ist das denkbar oder ist das einfach nicht denkbar?

W. Pommer: Das ist durchaus denkbar, aber was sich im Moment auf der praktischen Ebene vollzieht, ist, dass der Patient in eine Nachsorgeeinrichtung verlegt wird. Und dieser Begriff der nachsorgenden Einrichtung ist ein Stück weit Euphemismus, möglicherweise weil es sich hier um abstrukturierte Krankenhäuser handelt, die sich sozusagen im Bereich der geriatrischen oder Nach-Rehabilitationsmedizin bewegen, möglicherweise aber noch mit einer sehr niedrigen Schwelle der Kompetenz dem Problem gegenüber, so dass der Patient so nach drei bis vier Wochen in einem leidlich gebesserten Zustand verlegt wird und das Nachsorgeproblem nicht gelöst ist. Und das spiegelt sich dann - das ist wieder eine besondere Versorgungsstruktur, wie wir sie in der Nephrologie haben, weil wir auch einen ambulanten Versorgungsauftrag haben - natürlich im Praxisalltag, den es auch bei uns gibt mit dreimal in der Woche Dialyse oder Nachsorge in der Nephrologischen Ambulanz, zunehmend als Katastrophe wider. Dass dann letztendlich nur eine Notbremse funktioniert: Übernahme des Patienten in eine Pflegeeinrichtung, Verwahren in der Pflege. Und das ist dann die moralische und gesellschaftliche Katastrophe.

P. Wendel: Nie.

PiD: Es wäre ganz praktisch, vom Krankenhaus her auch eine Planung zu machen mit einer psychosozialen Dimension. Sie wissen, was der Patient braucht, Sie haben auch alle akuten Hilfen, psychiatrisch, psychotherapeutisch, die können Sie anfordern. Es ist völlig klar, das lässt sich in der Zeit nicht machen. Aber die Sache läuft so, dass dann mit der Entlassung der Patient in ein anderes Feld verlegt wird, wo Sie eigentlich keinen Einfluss mehr haben.

W. Pommer: Aus den Augen, aus dem Sinn.

PiD: Aber es wäre denkbar, dass seine Hausärztin aus dem Krankenhaus einen Brief bekommt, in dem steht: Der Patient hat das und das, die und die Probleme sind uns aufgefallen, sehr verehrte Frau Kollegin. Würden Sie bitte dafür Sorge tragen, dass auch das Verarbeitungsproblem und das komorbide psychische Problem möglichst zeitnah in Ihrem Praxisumfeld gelöst werden. Haben Sie so einen Brief schon einmal bekommen, Frau Wendel?

P. Wendel: Nie.

PiD: Würden Sie sich freuen?

P. Wendel: Sehr! Ganz einfach deswegen, weil ich die Möglichkeit hätte, das mit dem Patienten anders zu besprechen, weil der Patient schon sensibilisiert ist. Patienten sagen oft, wenn sie nach einem Krankenhausaufenthalt zurückkommen: ¿„Stellen Sie sich vor, die haben mir einen Psychiater geschickt!”. Und das wird dann als Strafe erlebt. Aber auch dann, wenn der Patient sensibilisiert ist und wenn er zu Gesprächen bereit ist, gehen die Probleme weiter, vor Ort etwas für ihn zu organisieren, vor allem wenn er - um darauf zurückzukommen - eben nicht so mobil ist. Die fehlende Mobilität bedingt, dass man ständig eine Transportmöglichkeit besorgen muss zum Facharzt oder auch zum Psychotherapeuten. Also es geht sicherlich um die Akzeptanz, aber vor allem dann um die Möglichkeiten, es auch zu organisieren. Ich denke mir, wenn ich zu dem Patienten sage: „Gucken Sie mal, der Klinikkollege hat sich da Gedanken gemacht, denkt, es wird Ihnen helfen. Sie haben eine traurigere Stimmung, eine depressive Phase im Moment”, dann glaube ich schon, dass es mehr akzeptiert wird, als wenn ich so aus heiterem Himmel komme und sage: „Mach mal!”

W. Pommer: Da überschätzen Sie natürlich die Kompetenz des Patienten und die Potenz der Krankenhausstruktur, sozusagen in einem Sieben-Tage-Aufenthalt hier „Pflöcke einzuhauen”. Aber es ist ja schon einmal ein wesentlicher Pflock, wenn die Frage: „Was will der Psychiater von mir?” in der Praxis reflektiert wird. Ich glaube, das ist ein gutes Anknüpfungsmoment. Auf der anderen Seite ergibt sich natürlich die Frage, warum die psychosoziale Dimension auch schon bei der Einweisung nicht deutlicher formuliert wird. Woher sollen wir wissen, ob sich hinter einer Einweisungsdiagnose eine sehr schwerwiegende Problematik oder lediglich ein ganz banales soziales Konfliktfeld verbirgt. Die Einweisungsdiagnose „Synkope” oder „Luftnot” beinhaltet oft, dass der Patient zu Hause nicht mehr versorgbar ist.

P. Wendel: Dann stimmt aber die Kooperation zwischen einweisendem Arzt und Krankenhaus nicht. Wenn ich mir die ländliche Struktur in meiner Region ansehe mit zwei, drei Krankenhäusern in der Nähe, da rufe ich die Kollegen an, bevor ich jemanden einweise. Es geht keiner auf Station, ohne dass er angemeldet wurde. Und dann sage ich schon: „Ich hätte einen Patienten mit Asthmaanfall...”

W. Pommer: Voranmeldungen durch den Hausarzt - Glücksmomente der Medizin. Nicht um jetzt im Sinne eines Pingpongs den Ball zurückzugeben, sondern nur, um das gegenseitige Verständnis zu vertiefen: Wir betreiben eine Versorgung von 250.000 Einwohnern, und unsere ganze Versorgungsregion umfasst sogar eine Million. Ich habe es noch sehr selten erlebt, wenn es sich nicht um einen Kollegen handelt, den ich kenne und der mir einen Patienten besonders ans Herz legt, dass ich einen Anruf bekommen habe: „Der Patient braucht jetzt dieses oder jenes.”

P. Wendel: Nie.

PiD: Eigentlich müsste es eine Selbstverständlichkeit sein, dass bei der Anmeldung im Krankenhaus per Einweisung wie auch bei der Entlassung die psychosoziale Dimension genauso wichtig mitgeteilt wird wie das somatische Problem. Und das ist eigentlich das Interessante oder Merkwürdige, dass das als Selbstverständlichkeit gar nicht akzeptiert wird.

U. Pfeiffer: Hier ist die Sensibilität der Therapeuten gefragt. Man bekommt die psychosoziale Problematik einer Erkrankung doch in den meisten Fällen mit, hat aber teilweise nicht die Zeit oder meint, nicht die Zeit zu haben, darauf einzugehen. Sie wird im Entlassbrief nicht erwähnt. Es ist sehr wichtig, dass der Hausarzt im Verlauf alle paar Wochen von sich aus eine kleine Bestandsaufnahme macht: „Wie wirken denn jetzt eigentlich die im Krankenhaus verordneten Schmerztabletten?”. Wenn jemand fast dauernd im Bett liegen muss, weil er Schmerzen hat, dann sieht er weniger von seiner Umgebung, dann hat er weniger positive Erlebnisse und gleitet noch tiefer in eine Depression. Wie verkraftet ein Mensch psychisch seine körperlichen Veränderungen durch die Krankheit? Das sind Fragen, die vielleicht zu wenig angesprochen werden.

P. Wendel: Nie.

PiD: Um es auf einen Punkt zu bringen, die Frage ist doch: Warum macht der Hausarzt das nicht? Wenn er sich darauf einlässt, muss er Zeit investieren. Ist das richtig? Und jetzt kommen wir noch einmal zu der Frage: Im Idealfall schreiben Sie in Ihren Arztbrief: Hier gibt es ein dickes psychosoziales Problem, hier muss das und das gemacht werden, er ist gut vorbereitet, kommt zu Ihnen in die Hausarztpraxis, Sie sprechen den Patienten an - da müssen Sie aber Ihren Einbestell-Rhythmus ändern deswegen, weil Sie mindestens 20, 30 Minuten investieren müssen, auch um es abrechnen zu können über Ziffer 850, 851, so etwas gab es doch früher. (Gelächter) Und dann kriegen Sie Ihren Umsatz nicht, wenn Sie das mit jedem Patienten machen. Und jetzt kommen wir mal wieder in die Ecke der psychotherapeutischen Praxis: Frau Dinger-Broda, was ist Ihre Position dazu?

A. Dinger-Broda: Jetzt muss ich etwas zur Organisation der ambulanten Psychotherapie sagen, weil ich denke, daraus entstehen natürlich auch viele Probleme. Die Psychotherapie-Richtlinien sind ja nicht an dem chronisch Kranken ausgerichtet, sondern klassischen Psychotherapieklientel: Patientinnen und Patienten mit Ängsten, neurotischen Depressionen, Ess-Störungen usw. Trotzdem bieten sie einige Flexibilität und Freiheit, sich auch auf die Bedürfnisse chronisch körperlich Kranker einzurichten. Natürlich haben wir die Möglichkeit, Hausbesuche zu machen, auch wenn diese nicht als solche in den Psychotherapie-Richtlinien vorgesehen sind. Das Problem bei uns ist nur, dass wir Patientinnen und Patienten im Umkreis von bis zu 50 km versorgen. Das heißt, ich kann nicht wie in der klassischen Hausarztpraxis mir Nachmittage für Hausbesuche freihalten, sondern ich muss es, wenn ich es machen will, längerfristig einplanen, und das heißt auch, dass vielleicht die Hälfte des Arbeitstages mit zwei Hausbesuchen gefüllt ist. Ich möchte mich nicht in erster Linie auf die Honorierung beziehen, aber dieser Aufwand ist natürlich längst nicht abgedeckt. Die klassischen psychotherapeutischen Bestellpraxen verfügen außerdem längst nicht über die Flexibilität, kurzfristig die Therapiesitzungen aufgrund beispielweise körperlicher Krisen zu einem Patienten nach Hause zu verlegen.

P. Wendel: Nie.

PiD: Also können wir zusammenfassen, dass die Rahmenbedingungen, nämlich Psychotherapie-Richtlinien und Finanzierung, nicht stimmen. Aber wenn wir einmal davon absehen, sind denn Psychotherapeuten, wie sie heute ausgebildet sind, gerüstet, sich mit Verarbeitungsproblemen bei Tumorpatienten, Hausbesuchen zu beschäftigen? Halten Sie es wirklich für realistisch, dass bei der Psychotherapeutin „große Freude” aufkommt bei dem Anruf aus der Hausarztpraxis: Hier ist Frau Dr. Wendel. Ich hab' hier grad' wieder aus Berlin einen Patienten Soundso gekriegt und der kommt überhaupt nicht zurecht, ich mach' mir Sorgen, ich möchte ihn nicht in die Psychiatrie einweisen, könnten Sie ihn heute mal ganz schnell sehen für 'ne Viertelstunde oder spätestens morgen? Ist das realistisch?

A. Dinger-Broda: Ich denke, in der Regel sind Psychotherapeuten nicht oder kaum für solche Problemstellungen ausgebildet. Ich persönlich freue mich über so einen Anruf schon sehr, ich arbeite gern mit diesen Patienten zusammen, und ich denke, da gibt es auch immer mehr Praxen, die solche Erfahrungen mit chronisch körperlich Kranken sammeln. Aber sicher wird das viele Umstellungen in der Praxistätigkeit notwendig machen, und dies führt mich gleich zum nächsten Punkt. Ich denke, dass die üblichen psychotherapeutischen Angebote eine noch viel zu große Hemmschwelle darstellen. Natürlich kann ich einem tumorkranken Patienten nicht sagen: ,In einem Jahr kann ich Sie mal einplanen. Dann habe ich vielleicht einen Platz frei.’ Das geht nicht. Während meiner Kliniktätigkeit habe ich die Erfahrung gemacht, dass niederschwellige Angebote, also z. B. ein Beratungsgespräch über die jetzt veränderte Lebenssituation oder ein Entspannungstraining, ganz andere Patientengruppen erreichen, als dies im klassischen Psychotherapiesetting möglich ist. Hier muss erst eine Therapie beantragt werden, als Kurzzeittherapie 25 Sitzungen à 50 Minuten. Diese langfristige Perspektive überfordert oft die Zeitvorstellungen der Patienten, die auf eine schnelle Entlastung hoffen. Also letztendlich müsste man auch im ambulanten Bereich viel niederschwelligere Angebote machen. Ich könnte mir z. B. vorstellen, mit einzelnen Hausarztpraxen zusammenzuarbeiten und in diese Praxen hineinzugehen. Denkbar und realisierbar sind sicher viele Möglichkeiten, wenn man nur daran arbeitet. Aber die Frage ist ja: Von wem geht ein Druck aus? Wer hat in erster Linie das Interesse, dass sich Veränderungen in den Psychotherapie-Richtlinien ergeben, damit solche Umstrukturierungen möglich sind?

P. Wendel: Nie.

PiD: Wieso würde Ihnen denn das Spaß machen, können Sie mir das mal erklären? Vielleicht scheuen viele KollegInnen die Mühe, sich mit diesen Patienten zu konfrontieren. Wie könnte man die KollegInnen in einer Psychotherapie-Praxis motivieren, ihr Angebot dementsprechend umzustellen?

A. Dinger-Broda: Ich arbeite gerne mit chronisch körperlich Kranken, weil sich bei diesen Patienten häufig ganz schnell erste Erfolge einstellen und Patienten dies auch kommunizieren. Das macht die Arbeit sehr befriedigend. Weiterhin bringt die Arbeit mit dieser Klientel auch eine gewisse Abwechslung: Statt nur in der Praxis zu sitzen und die Patienten zu mir kommen zu lassen, versuche ich auch, in Lebensbereiche der Patienten hineinzugehen. Ich mache als Verhaltenstherapeutin ja sowieso oft Übungen mit Patientinnen und Patienten, d. h. ich gehe raus aus der Praxis! Und das erlebe ich als sehr lebendigen Teil meiner Arbeit, und ich könnte mir auch vorstellen, Hausbesuche zu machen, in eine Arztpraxis zu gehen, auch im Krankenhaus Patienten weiter zu betreuen, wenn sie vorübergehend stationär eingewiesen werden.

W. Pommer: Also als strukturelles Moment für den klassisch chronisch Kranken ist im Versorgungssystem die Sozialstation vorgesehen, die zunächst zuständig ist für basale medizinische Versorgung wie Verbandspflege, Spritzen beim Diabetes, Blutzuckermessungen und Blutdruckmessungen. Es wäre natürlich für die chronisch Kranken eine enorme Verbesserung, wenn die soziale und die psychosoziale Kompetenz einer solchen Station stärker gefördert würde. Sie sind ja faktisch oft der einzige kontinuierliche Ansprechpartner für denjenigen, der zu Hause gefesselt, in einer chronischen Krankheitssituation verhaftet ist. Aber hierüber eine Kompetenzverbesserung zu erreichen - und da gibt es bei den klassischen chronischen Krankheitsbildern noch viel zu tun -, das wäre ein Ansatzpunkt, „der Psychotherapie auch Beine zu machen”, indem sie sich zum Patienten hin bewegt. Das gibt es bislang nur für sehr exklusive Bereiche, für die Versorgung von HIV-Kranken oder für Tumorkranke z. B. die Hospizbewegung. Da sind diese Momente teilweise integriert. Für die übliche chronische Erkrankung gibt es das bislang nicht, und das wäre an dem Punkt eine Innovation in der Struktur.

P. Wendel: Ich denke, es wird in diesem Gespräch ganz deutlich, dass der Hausarzt die zentrale Position hat. Für den Hausarzt ist es sicher schwierig, wenn er sehr viele chronisch Kranke betreut. Auch die Entfernungen, die Sie angesprochen haben, Frau Dinger-Broda, sind oft in der ländlichen hausärztlichen Praxis enorm, dann fährt man schon einmal 20 Kilometer. Man braucht für einen chronisch Kranken Zeit, und Zeit ist etwas, was man, wenn man in der Mittagszeit und in der Abendsprechstunde wieder involviert ist, kaum hat, man steht sehr unter Druck. Vorhin war die Frage: Warum macht der Arzt das eigentlich nicht, warum optimiert er das Ganze nicht? Ich habe die ganze Zeit versucht, das hier nicht anzusprechen. Da ist ja diese ganze Budgetierung, die im Hintergrund steht. Und natürlich weiß ich auch, der chronisch Kranke mit dem Apoplex, der bräuchte eigentlich jeden Tag seine Krankengymnastik oder seine Ergotherapie. Ich hatte gerade gestern Abend ein Privatgespräch, in dem es darum ging, dass ein Hausarzt einem Patienten die tägliche Krankengymnastik verweigert hat, da er kein Budget und zu viele chronisch Kranke hat. Man muss es zu optimieren versuchen, man sagt dann: „Gut, wir machen dreimal in der Woche KG.” Aber das ist ein enormes Problem, das Sie auch angesprochen haben: Es wird nicht honoriert. Es ist bei Ihnen sicherlich ähnlich wie bei uns. Der Aufwand rechnet sich nicht.

W. Pommer: Mit Verlaub, im Krankenhaus ähnlich.

P. Wendel: Das ist mir bekannt, dennoch wollte ich die Allgemeinmediziner rehabilitieren. Mir ist es bewusst, dass man sehr viel Engagement einbringen muss. Das heißt, es ist abhängig vom Hausarzt, es ist auch abhängig von den Kollegen, wie offen diese einer Psychotherapie gegenüberstehen. Ich kenne viele Kollegen im Umkreis, die sagen: „Psychotherapie ist eine Sache, die wir zunächst einmal zur Seite stellen. Zuerst machen wir den körperlichen Befund und bauen darauf die Therapie auf. Dann sehen wir weiter.” Dabei könnte ich mir eine Zusammenarbeit mit Psychotherapeuten sehr gut vorstellen. Und ich könnte mir auch vorstellen, dass zu mir in die Praxis Psychotherapeuten kommen, dass man mit den Patienten Gespräche, auch Gruppengespräche organisiert - das wäre optimal. Ich weiß aber wiederum nicht, wie das von der Honorierung her aussieht. Ob das dann auf dem Boden des engagierten Arztes abgehakt wird oder ob die Wirtschaftlichkeit nicht verloren geht.

U. Pfeiffer: Die Nicht-Wirtschaftlichkeit therapeutischer Maßnahmen behindert sicherlich den Arzt bei seinen Bemühungen, die Patienten optimal zu versorgen. Ich höre im letzten halben Jahr gehäuft, dass z. B. Krankengymnastik nur noch sehr zögerlich verordnet wird. Auch bei den ambulanten Betreuungsdiensten entsteht eine schwierige Situation. Die Pflegedienste bekommen pro Einsatz einen gewissen Betrag, und dabei ist es gleichgültig, ob sie 15 Minuten oder eine Stunde dazu brauchen. Der Verdienst wird nicht aufgeschlüsselt nach dem Zeitaufwand, den man hat. Es entsteht ein ständiger Zeitdruck. Die Patienten haben teilweise schon Angst davor, dass morgens die Schwestern kommen, weil im Schnelldurchgang die ganze Grundpflege in 25 Minuten geleistet werden muss, da so viele andere Kranke auch noch warten. Diese Situation hat sich in den letzten Jahren sicher verschärft.

W. Pommer: Man muss es einfach zuspitzen, dass die strukturellen Bedingungen des Gesundheitssystems, wie sie im Moment sind, alle Gedanken, die wir hier formulieren, als Größenwahn, als Luxus abtun, reflektiert sozusagen hier an einem schönen Ort, mit dem wir uns umgeben, eine sehr luxuriöse Diskussion, die bar ist jeder medizinischen Realität, wie sie sich im Moment im Gesundheitssystem niederschlägt. Das Schöne ist, dass wir uns diesen Luxus hier leisten.

P. Wendel: Nie.

PiD: Ich möchte jetzt gern zum letzten Teil unseres Gespräches kommen. Ich stimme zwar prinzipiell zu, dass dies als luxuriöse Diskussion begriffen werden kann, aber gibt es nicht doch auch Möglichkeiten für Modellprojekte? Und ich denke, dass darüber viel zu wenig öffentlich diskutiert wird. Könnte man mit einem vernünftigen Modell nicht zumindest klarmachen: „So könnte es gehen”, weil es sich dann auch wieder rechnet, z. B. weil diese ungenutzten Zwischenräume und Wiederholungen wegfallen. Ich sage ja nicht, dass dadurch die Medizin billiger wird - Medizin ist immer teuer -, aber man kann optimieren. Unter dieser Perspektive frage ich Sie: Wie würden Sie sich denn eine optimale Struktur vorstellen? Vielleicht fangen wir mal bei der Hausärztin an: Ihnen wird ja von uns so eine Art „Zentralfunktion” auch für die psychosoziale Versorgung des Patienten zugewiesen. Wie würden Sie sich denn ein optimales Modell vorstellen auf dem Hintergrund dessen, was wir hier an Möglichkeiten diskutiert haben?

P. Wendel: Optimal wäre für mich eine Zusammenarbeit aller Beteiligten. Schon mit den Klinikkollegen funktioniert diese nicht so, wie ich es mir vorstelle: Man kriegt einen Kurzbrief, der meistens handgeschrieben ist, und der Entlassbrief kommt irgendwann drei, vier Monate später, und in diesem kurzen handschriftlichen Brief kann ich ja keine Gedanken nachvollziehen; es sind kurze sachliche Statements. Da würde ich mir schon den Informationsfluss erheblich besser vorstellen wollen. Auch mit Psychotherapeuten könnte eine bessere Absprache erfolgen. Oft bekomme ich gar keine direkte Rückmeldung, sondern nur vermittelt über den Patienten. Meiner Meinung nach darf das nicht sein, weil das häufig sehr subjektiv gestaltet ist. Nicht nur bei chronisch Kranken, auch bei Somatisierungsstörungen werden oft ganz andere Informationen vom Patienten an mich herangetragen als von den Fachkollegen. Natürlich wünsche ich mir eine gute Zusammenarbeit gerade mit den Kollegen, die vor Ort aktiv sind, dass man sich da auch absprechen könnte. Wie könnte man es optimieren?

P. Wendel: Nie.

PiD: Es ist ganz einfach der Dialog, der fehlt. Könnten Sie sich vorstellen, dass in Ihrer Praxis - mal als Fantasie - so etwas wie eine wöchentliche oder 14-tägige Konferenz aller an der ambulanten Versorgung Beteiligten stattfindet, so etwas wie eine halbstündige Patientenkonferenz, über all die Problemfelder, die anstehen?

P. Wendel: Ich könnte mir das sehr gut vorstellen, aber es wird nicht machbar sein.

P. Wendel: Nie.

PiD: Warum?

P. Wendel: Ganz einfach, weil alle involvierten Leute ein Zeitproblem haben. Ich habe mir das mal mit dem Krankenhaus hier vor Ort gewünscht, da funktioniert es auch nicht, obwohl ich die Kollegen gut kenne, weil ich da gearbeitet habe und einen sehr guten Kontakt habe. Sogar da kriege ich die Rückmeldung nicht. Ich kriege Rückmeldungen nur, wenn ich anrufe und frage: „Wie siehst du den weiteren Weg, was kann ich machen?” Eine solche Konferenz funktioniert aber bestimmt nicht, denn allein hier in diesem Bereich müsste ich fast 20 Kollegen mit einbeziehen. Und viele wollen auch die geringe Freizeit, die ihnen bleibt, nicht noch mit etwas Zusätzlichem belasten.

P. Wendel: Nie.

PiD: Die Antwort aus der Klinik?

W. Pommer: Was sich der Kliniker am meisten wünscht in diesem Konzept der Versorgung chronisch Kranker, ist Zeit, die er für den kranken Menschen aufwenden kann. Und wenn mir nun mal die Zeitvorgaben nach Deutschem Krankenhaus-Institut zustehen - pro Tag elf Minuten fallfixe Zeit einschließlich Arztbriefdiktat, Labor, Visiten, Gespräche mit Angehörigen -, dann ist es ermessbar bei einer Liegezeit von sieben Tagen, das sind 77 Minuten, die ich für diesen Patienten insgesamt nur aufbringen kann, dass ich mich nicht in meinem Zeitfenster modifizieren kann. Ich glaube, wir müssen - und da sehe ich natürlich auch den Wert eines solchen luxuriösen Gespräches - proklamieren, dass ärztliche Tätigkeit in bestimmten Bereichen - und dazu gehören eben chronische Krankheiten - in ihrem Zeitaspekt neu bewertet oder überhaupt bewertet werden muss. Es nützen nichts technische Leistungen, die wir heute in dem neuen, fallbezogenen System erbringen, wo wir aber keine OPS-Leistung, wie es dann so schön heißt, also keine Operating Procedure drin haben für Gespräche mit Angehörigen, Gespräche im Rahmen einer chronischen Erkrankung, Gespräche innerhalb des Erstkontakts oder zur Inszenierung von psychosozialen Versorgungssystemen. Das haben wir nicht. Und insofern wird es nicht bewertet; wir müssen es deklarieren, wir müssen es proklamieren, und wir müssen es letztendlich realisiert bekommen. Dies bedeutet nicht nur, eine Stärkung der sozialen und psychosomatischen Kompetenz des Arztes zu fordern, sondern auch eine materielle Verbesserung seiner zumindest zeitlichen Ausstattung. Und solange das nicht passiert, bleibt die Diskussion Luxus. Also was gewünscht ist, ist Zeit für das Gespräch mit dem Kranken und seiner Familie, seiner Umgebung, und Zeit im Gespräch mit Kollegen.

P. Wendel: Nie.

PiD: Frau Dinger-Broda, was sind die Erwartungen an die Hausärzte? Was würden Sie sich denn wünschen? Wie würden Sie sich eine richtig gute Kooperation modellhaft vorstellen?

A. Dinger-Broda: Um dies vorweg noch einmal zu unterstreichen: Wir haben ja jetzt schon die Möglichkeit zur Kooperation. Es gibt aber auch in der Kooperation sehr viele Unsicherheiten auf beiden Seiten: Was will eigentlich eine Ärztin, ein Arzt von mir wissen, was brauchen sie an Informationen? Ich erlebe oft in ersten Gesprächen ein vorsichtiges Herantasten und einen Rechtfertigungsdruck auf beiden Seiten, dass z. B. die Hausärzte dann unter Beweis stellen müssen, dass sie sich auch schon über die psychische Situation des Patienten Gedanken gemacht haben. Ich fühle mich manchmal unter dem Druck zu begründen, warum ich bei diesem Patienten Psychotherapie für sinnvoll halte. Ich denke, erst wenn wir das abgeklärt haben und Kooperation Routine geworden und eingeübt ist, dann können wir über die wesentlichen Dinge ins Gespräch kommen. Aber da sind einfach noch sehr viele Unsicherheiten und auch Informationsmängel auf beiden Seiten: Was braucht eigentlich der jeweils andere an Informationen, um psychosozial besser versorgen zu können?

P. Wendel: Dem kann ich mich nur anschließen. Ich denke einfach, dass dieses gemeinsame Gespräch das absolut Wichtige ist, dass man sich über den Patienten klar wird, kurz abspricht, was ist bereits gelaufen? Häufig haben Patienten Mehrfacherfahrungen auf psychotherapeutischem Gebiet. Es gibt auch immer wieder Patienten, die nicht weiterkommen, ich möchte es einmal so ausdrücken: wo man versucht, einen neuen Aspekt, ein neues Konzept zu entwickeln. Das Gespräch wünsche ich mir über alle Maßen, die Kooperation mit Psychotherapeuten, nicht nur das Kennenlernen, sondern auch das reflektierte Gespräch: Wie war es denn, wie ist der Patient, wie entwickelt sich der Patient? Aber wir sind dann wieder im Ausgangsbereich, dass wir sagen, wir haben auch oft die Zeit nicht.

P. Wendel: Nie.

PiD: Für Sie ist Rückmeldung also ein ganz wichtiger Punkt. Manche Psychotherapeuten haben die Vorstellung, die Hausärzte schicken deswegen nicht gern, weil sie Sorge hätten, die Patienten kämen nicht wieder zu ihnen zurück. Was halten Sie denn davon?

P. Wendel: Das ist nicht berechtigt, überhaupt nicht.

P. Wendel: Nie.

PiD: Aber Sie hätten gern mal die Information, was ist jetzt in den 50 Stunden Psychotherapie geschehen?

P. Wendel: Die bekomme ich ja auch teilweise, aber dieses „teilweise” heißt, es ist dann ein Engagement von beiden Seiten erforderlich, zum einen, dass der Kollege anruft und sagt: „So hat sich da was getan” oder „Der Patient hat aufgehört, will nicht mehr,” und zum anderen, dass ich selbst anrufe und kurz sage: „Der Patient hat sich ganz toll entwickelt.” Das gibt es schon, aber so selten, dass ich mir das doch weitaus intensiver vorstellen könnte.

PiD: Und noch eine andere Geschichte: Sie haben morgens Ihre Praxis voll, u. a. mit drei Herzangstneurotikern, einem Depressiven, einem Schmerzpatienten, dann kommt noch jemand, dem Sie einen malignen Befund mitteilen müssen. Sie rufen in der Praxis Dinger-Broda an, muss dann Frau Dinger-Broda nicht einen Schreck bekommen und denken: „Au, die Frau Wendel möchte sich jetzt entlasten und schickt mir einen ganzen Schwall von Patienten, bei denen ich jetzt wieder Anträge schreiben und die ich mindestens zehnmal sehen muss.” Was haben Sie eigentlich für Erwartungen an die Psychotherapeuten?

P. Wendel: Ich habe eigentlich die Erwartung, dass dem Patienten geholfen wird und dass der Patient sich in seiner Krisensituation positiv entwickelt. Ich möchte nicht den Patienten „loswerden”, so wie Sie das ausdrücken, einfach damit ich mehr Zeit für andere Patienten habe. Ich möchte auch oft einen Rat, ich rufe vielleicht an mit einem Problem: „Können Sie mir da irgendwie mal helfen? Was könnte man da noch initiieren? Was wäre da möglich?”

PiD: Wenn Sie z. B. jemanden schicken, der von der Psychotherapeutin nur kurz gesehen wird, und Sie dann eine Empfehlung mit einer neuen Perspektive bekommen, würde Ihnen das schon helfen?

P. Wendel: Das würde mir enorm helfen. Sehen Sie das denn auch so, Frau Dinger-Broda, dass es hilft, wenn Sie nur zwei-, dreimal bei bestimmten Patienten Gespräche führen, oder würden Sie sagen: „Nein, da muss ich längerfristig aktiv werden.”

A. Dinger-Broda: Das kann man gar nicht so über einen Kamm scheren. Ich denke, vielen Patienten ist in ein, zwei, drei Gesprächen geholfen. Es sind ja nicht alle chronisch körperlich Kranken auch psychisch krank. Von daher wäre das durchaus möglich.

W. Pommer: Was mir bei diesem Gespräch klar wird, ist das alte Problem der gegenseitigen Stärkung der Fachgruppen im Sinne einer gemeinsamen Kompetenzförderung, dass das ein sehr lohnenswerter Gedanke ist, den man einmal im Gesundheitssystem entwickeln sollte, der viel wesentlicher ist, als sich die Frage zu stellen: Welche technischen Entwicklungen müssen wir einbringen? Das geht allerdings nur auf der Grundlage dessen, dass das Teil der Finanzierung, Strukturierung und Entgeltregelung im Gesundheitssystem ist. Und dann wird ein Gesundheitssystem auch effizient, es trägt dann dem Rechnung, dass ein Problem vom Hausarzt gemeistert werden muss und durch sehr einfache Mechanismen, nämlich die Gesprächsaufnahme und die schnelle Reflexion, auch lösbar scheint. Das ist oft viel sinnvoller als die Implementierung von aufwendigen Kursystemen, krankengymnastischen Übungsbehandlungen, Verlegung in Pflegeinstitutionen. Darüber lohnt es sich sicher noch zu philosophieren und eine stärkere Propaganda für diese kooperativen Strukturen zu entwickeln. Das intendiert zwar alles das integrative Gesundheitsmodell, aber faktisch realisiert ist es nicht. Auch die Integration von Krankenhauskompetenz und ambulanter Kompetenz verwirklicht sich nicht. Und zwar deswegen, weil die Ressourcen auf beiden Seiten außerordentlich eng sind im Moment. Da sind Modellversuche nun immer sehr von dem guten Willen und der faktischen Kompetenz der Verhandlungspartner abhängig.

U. Pfeiffer: Zurück zum Thema „Was erscheint mir wichtig bei der psychotherapeutischen Betreuung psychisch Kranker.” Mein Vorschlag wäre, zu Beginn einer Behandlung die Angehörigen zu hören und auch sie die bestehende psychische Problematik aus ihrer Sicht schildern zu lassen. Bei meiner Tätigkeit werden solche Probleme häufig von den Angehörigen gleich zu Beginn eines Besuches angesprochen. Der Patient selbst „traut” sich dagegen nur selten an dieses Thema heran. Auch im Verlauf einer Therapie sollte der Therapeut noch einmal ein Feedback von der Familie oder von den an der Pflege Beteiligten bekommen: Was hat sich denn bis jetzt positiv verändert, was hat geholfen? Ich denke, wenn wir einen chronisch Kranken haben, dann ist nicht nur der Patient beeinträchtigt, sondern die ganze Familie.

W. Pommer: Verfolgen wir den Gedanken noch einmal in die Familie, die ja nicht bloß klagsam ist, sondern die auch zum Quell einer Verarbeitung werden kann. Und genau diese Ressource verschwenden wir gegenwärtig. Und insofern bin ich dafür, die Familie genauso mit einzubeziehen wie die beteiligten Fachleute.

A. Dinger-Broda: Auch da sehe ich Ausbildungsdefizite bei den Psychotherapeuten: Wie führe ich Familiengespräche, wie beziehe ich Angehörige mit in die Arbeit ein. Das ist nicht Gegenstand der gegenwärtigen Ausbildungskurrikula.

U. Pfeiffer: Auch der Umgang der Pflegefachkräfte mit chronisch und schwer Erkrankten und ihren Familien ist fallweise problematisch. Ich erinnere mich an eine Begutachtung kurz vor Weihnachten. Ein Patient lag im Sterben, und die Ehefrau hatte bei der Schilderung des Krankheitsbildes angefangen zu weinen. Die Schwester des Pflegedienstes ging zu ihr hin, fasste die Frau an beiden Schultern und sagte: „Nun regen Sie sich mal nicht auf, Frau S. Nun regen sie sich bloß nicht auf. Wir kriegen das schon hin.” Ich musste dann antworten: „Ich glaube, ich würde mich auch aufregen.” Ich denke, nicht nur wir Ärzte, sondern auch die Pflegefachkräfte, die vor Ort jeden Tag mit chronisch Kranken arbeiten, müssten sensibilisiert werden, und sie müssten mehr Zeit haben.

W. Pommer: Das ist ein einfacher Mechanismus der Steuerung: die Honorierung. Und da sind wir natürlich an der letzten Frage: Welche sozialen, rechtlichen und ökonomischen Bedingungen stehen dem entgegen?

P. Wendel: Nie.

PiD: Optimal wäre also eine integrierte Versorgung mit einer ausreichenden Kommunikation, die praktisch organisiert werden muss. Das Problem besteht aber schon darin, dass bestimmte Voraussetzungen in den Berufsgruppen nicht vorhanden sind. Die Psychotherapeuten sind in der Regel nicht dazu in der Lage, die Patienten pragmatisch schnell zu versorgen, eine Beratung durchzuführen, auch zu ertragen, dass man vielleicht jetzt nicht optimal Therapie machen, sondern schnell für eine Entlastung sorgen und dabei die Familie kurzfristig mit einbeziehen muss. Da ist Nachholbedarf in der Praxisstruktur und auch in der Ausbildung. Umgekehrt gibt es in den anderen Bereichen wahrscheinlich auch einen Ausbildungsbedarf. Dies wäre dann die Forderung nach sehr viel mehr Fortbildung. Müsste man dazu aber nicht gemeinsame Fortbildungen aller beteiligten Berufsgruppen organisieren?

A. Dinger-Broda: Ich würde dazu vorschlagen, dass wir überlegen, welche Berufsgruppen an einer guten psychosozialen Versorgung beteiligt sein sollten. Dazu gehören meines Erachtens neben den medizinischen Kollegen und den psychotherapeutischen Kollegen sicher auch Sozialarbeiter, Sozialpädagogen und Sozialdienste. Ich denke, oft ist auch das Arbeitsamt ein relativ wichtiger Ansprechpartner, wenn wir nicht nur die psychische, sondern mehr die soziale Versorgung in den Vordergrund stellen. Denn ich sehe viele psychische Probleme auch als Folge sozialer Belastungen, gerade bei chronisch körperlich Kranken.

P. Wendel: Nie.

PiD: Also die ganze Beratungsdimension müsste auch mit dazu. Bekomme ich jetzt von jedem von Ihnen einen Schlusskommentar? Haben Sie für sich aus dem Gespräch etwas herausgezogen?

P. Wendel: Ich denke schon, enorm viel. Ich werde natürlich versuchen, die Kooperation zu fördern, ich werde mich nicht scheuen, Kollegen einfach anzurufen und zu sagen: „Ich brauche da Hilfe.” Ich werde auch bei jedem Hausbesuch daran denken, wenn ich chronisch Kranke betreue: „Ist das denn optimal, was ich da mache?” Vielleicht werde ich auch wirklich einmal überlegen, ob man das nicht alles ein bisschen rationeller machen kann, ob man sich nicht vielleicht auch von allgemeinmedizinischer Seite ein bisschen mehr zusammenschließt, was gar nicht so einfach ist, gerade im niedergelassenen Bereich. Ich denke, man kann noch sehr viel tun.

P. Wendel: Nie.

PiD: Und dem Krankenhausarzt auch mal in den Überweisungszettel reinschreiben: „Psychosoziale Probleme?”

P. Wendel: Ich sagte ja schon, ich rufe vorher immer an! (Gelächter)

W. Pommer: Eine Aufnahmeindikation „Soziale Verwahrlosung” wird ja von den Krankenkassen damit „belohnt”, dass sie als Indikation zur Krankenhausaufnahme nicht akzeptiert wird. Wir haben zwar die Möglichkeit, im neuen DRG-System (Diagnosis related groups) den Ladendiebstahl durch „nicht-psychiatrische Erkrankung” zu kodieren nach Z03.2, wie ich kürzlich gelernt habe, aber das ist ja völlig irrelevant für die Akutversorgung in einem Krankenhaus. Obwohl sich gerade aus dieser Quelle viele so genannte medizinische Probleme speisen. Der Patient, der ständig stürzt, weil er sozial nicht versorgt ist, weil er die Medikamente gar nicht nehmen kann und auch nicht nimmt, der muss natürlich fallen, wenn die akute Medizin versagt, und dann ist das so eine Aufnahmeindikation ins Krankenhaus. Das dahinter liegende Problem wird ja gar nicht erkannt, wird auch wenig beschrieben.
Was haben wir gelernt? Gelernt haben wir, dass wir an dem Punkt noch einmal die Stimme erheben müssen für die Zeit in der Medizin. Wenn die Tendenz der Medizin in Deutschland die Versorgung chronisch Kranker ist - das ist sie zweifelsohne, das sind ja auch die Hauptfahnen, die das Wissenschaftsprogramm hingestellt hat: Versorgungsmodelle für chronisch Kranke -, dann ist der Zeitfaktor mit der entsprechenden Vergütung sozusagen davon nicht mehr zu lösen. Und dafür eine Lanze zu brechen, ich glaube, das ist das, was mich hier wieder neu bestärkt hat, hineinzugehen und die Stimme zu erheben für diese Position der Zeit in der Arzt-Patient-Beziehung.

A. Dinger-Broda: Mir ist noch einmal deutlich geworden, wie wichtig es ist, Versorgungsnetze aufzubauen und im Dienste der Patienten regionale Strukturen auszuloten, Kooperationsmöglichkeiten zu sondieren und in diese Richtung weiter innovativ zu denken. Ich halte es für nicht sinnvoll, sich nur darüber zu beklagen, was alles nicht klappt, sondern blicke eher in die Richtung, was denn bei den bestehenden Strukturen jetzt möglich ist.

U. Pfeiffer: Ich kann mich dem eigentlich nur anschließen. Wir brauchen mehr Zeit für die sprechende Medizin und mehr Kooperation zwischen den verschiedenen Therapeuten. Auch ein bisschen mehr Realitätsnähe beim Ansetzen verschiedener Therapien ist angesagt.

P. Wendel: Nie.

PiD: Ja, dann danke ich allen. Ich glaube, es war ein etwas schwieriges Unterfangen, das wir aber wirklich ganz gut hingekriegt haben. - Ich nehme als Anregung mit, solche „gemischten” Seminare zu machen. Das ist wirklich produktiv: Leute, die in der Versorgung stecken, mal für ein Wochenende zusammenzubringen und wirklich am Fall dies alles zu diskutieren.

W. Pommer: Ich nehme an diesen Seminaren zukünftig nur noch teil, wenn die Kostenträger dort sind.

Adressen der Diskussionsteilnehmer:

Dr. phil. Andrea Dinger-Broda

Praxisgemeinschaft Psychotherapie

Pirmasenser Str. 23a
D-66994 Dahn

Dr. med. Ute Pfeiffer

Fachärztin für Allgemeinmedizin

Ludwigstr. 73
D-76751 Jockgrim

Dr. med. Petra Wendel

Ärztin für Allgemeinmedizin

Lettengasse 9
D-76889 Gleiszellen-Gleishorbach

Prof. Dr. med. Wolfgang Pommer

Krankenhaus Reinickendorf
Innere Medizin III

Am Nordgraben 2
D-13509 Berlin

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