Viszeralchirurgie 2002; 37(4): 322-327
DOI: 10.1055/s-2002-32991
Der akademische Vortrag
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Gibt es eine „richtige” Wundbehandlung?

Is there a “correct” treatment of wounds?M.  Schäffer
  • 1Klinik für Allgemeine Chirurgie und Poliklinik der Eberhard-Karls-Universität
    (Ärztlicher Direktor: Prof. Dr. Dr. h.c. Horst-Dieter Becker)
Antrittsvorlesung vom 31. 10. 2001, Chirurgische KLinik Tübingen
Further Information

Publication History

Publication Date:
26 July 2002 (online)

Spectabilis, sehr geehrter Herr Prof. Becker, sehr geehrte Frau Becker, liebe Familie und Freunde, verehrte Kolleginnen und Kollegen, liebe Schwestern!

Wundheilung ist die ureigenste Disziplin der Chirurgie, Wundbehandlung die wohl älteste Form der medizinischen Therapie. Entsprechend lang und vielfältig ist die Geschichte der Wundheilung.

Ich möchte Ihnen im Folgenden einen kurzen Abriss der Geschichte der Wundheilung geben, somit also auch der Chirurgie in ihren Anfängen, und anschließend einige Aspekte der aktuellen Wundbehandlung darstellen.

Was „richtig” ist in der Medizin oder falsch, ist nicht nur abhängig vom aktuellen medizinischen Wissensstand, sondern auch von den jeweiligen politischen, religiösen und ökonomischen Verhältnissen. Denken Sie insbesondere, was die politischen und religiösen Verhältnisse betrifft, an die unlängst geführten Diskussionen um die Hirntodthematik bei der Organtransplantation oder an die Sterbehilfe.

Was richtig oder falsch ist in der Medizin ist natürlich auch immer abhängig von der Akzeptanz einer Methode oder Therapie bei Ärzten und Patienten. Nur wenn eine Therapie von den behandelnden Ärzten und den Patienten akzeptiert wird, wird diese als „richtig” Eingang finden in die tägliche Praxis.

Ich möchte in meiner Vorlesung im Einzelnen auf folgende Punkte eingehen: Zunächst erfolgt ein Überblick über die Geschichte der Wundheilung. Anschließend werde ich die Physiologie der Wundheilung nach unserem heutigen Verständnis darstellen. Hieraus abgeleitet erfolgt die Präsentation der gängigen Wundbehandlungskonzepte. Diese sollen abschließend an drei Beispielen illustriert werden.

Erste Hinweise auf Wundbehandlungen stammen aus der Steinzeit von vor mehr als 10 000 Jahren [1]. Wandmalereien zeugen von einfachen Verbänden nach Verwundungen während der Jagd oder bei kriegerischen Auseinandersetzungen. Auch stammen aus dieser Zeit Knochenfunde, die auf einfache Knochenbruchbehandlungen deuten sowie auf Schädeltrepanationen. Diese sind allem Anschein nach sowohl aus rituellen Gründen als auch aus therapeutischen Gründen durchgeführt worden. So fand man bei Skeletten mit durchgeführten und häufig auch überlebten Trepanationen, teilweise in bis zu 80 % der Fälle, schwerwiegende knöcherne (Gelenk-)Veränderungen oder Zahnveränderungen, insbesondere auf der gleichen Körperseite wie die Trepanation. Hieraus wurden medizintherapeutische Überlegungen dieser operativen Eingriffe vermutet.

Im alten Ägypten, etwa 3200 - 300 Jahre v. Chr. wurde zur Blutstillung nach Verletzungen der Druckverband, die Anwendung von Glüheisen aber auch die Gefäßligatur beschrieben. In der altjüdischen Medizin zwischen 1200 Jahre v. Chr. bis Christi Geburt wurde erstmals das Vermeiden von Händekontakt mit der frischen Wunde unter hygienischen Gesichtspunkten propagiert. Eine Empfehlung, die später bis in das 19. Jahrhundert wieder in Vergessenheit geraten sollte. In der griechischen Antike um 700 - 400 Jahre v. Chr. erlebte die Medizin ihre erste große Blüte. Wundnähte waren ebenso bekannt wie erste plastische Operationen, beispielsweise an der Nase. Grundsätze der Vernunft bestimmten erstmals das ärztliche Handeln. Namen, die mit der griechischen Medizin in Verbindung gebracht werden, sind Asklepios oder Hippokrates.

Nach dem Niedergang des römischen Reiches ging ein Großteil der medizinischen Erkenntnisse verloren. Im Mittelalter übernahmen Bader und Barbiere sowie Feldchirurgen die Aufgaben einfacher chirurgischer Handlungen. Aus heutiger Sicht prägten aber teilweise absurde Vorstellungen die Behandlung von Wunden. So wurde beispielsweise zur Blutstillung Schweine- oder Ziegenkot empfohlen; oder ein Stock, getränkt mit dem Eiter der Wunde wurde in eine Astgabel eines benachbarten Baumes gesteckt. Dies in der Hoffnung, dass es die Heilung günstig beeinflussen würde. Seit Galen 130 Jahre n. Chr. galt der Eiter in der Wunde als etwas Gutes.

Einen erneuten Aufschwung erlebte die Chirurgie und somit auch die Behandlung von Wunden in der Zeit der Renaissance mit der beginnenden Lösung der Wissenschaft von der Religion. Eindrücklich sind aus dieser Zeit die anatomischen Aufzeichnungen von Leonardo da Vinci (1452 - 1519), ohne dass diese Erkenntnisse jedoch Eingang gefunden hätten in die tägliche Medizin. Im ersten chirurgischen Lehrbuch in deutscher Sprache von Brunswig (1497) und in einigen Abbildungen von v. Gersdorff (1540) werden verschiedene Kriegswunden und die Blutstillung mittels Brenneisen illustriert. Von v. Gersdorff stammen auch Berichte über Leinölverbände und Amputationen bei Wundfieber.

1537 schreibt Ambroise Paré, ein französischer Kriegschirurg, dass er von nun an kein siedendes Öl mehr in so genannte „vergiftete” Kriegswunden schütten werde [1]. Bei diesem Vorgehen, das in Frankreich weitaus weiter verbreitet war, als in Deutschland, machte Paré aus der Not eine Tugend - ihm war während einer Schlacht das Öl ausgegangen. Eine Tatsache, die seinen Patienten nicht zum Nachteil gereichen sollte. Leinölverbände wurden fortan favorisiert. Gottfried Purmann propagiert 1710 erstmals wieder eine eiterfreie Wunde als das Ziel chirurgischer Bemühungen. Hierbei sind demnach Bestrebungen erkennbar, große Sorgfalt beim Umgang mit der Wunde walten zu lassen. Bemerkenswert sind auch die Beobachtungen und die daraus gezogenen Konsequenzen von Jean Dominique Larrey, einem französischen Kriegschirurg in den Reihen der napoleonischen Soldaten. Er erkannte, dass die verwundeten Soldaten auf dem Schlachtfeld noch „gesund” waren, im Lazarett jedoch sehr schnell dem Siechtum verfielen. Er führte die fahrende Ambulanz ein und war selbst auf dem Schlachtfeld während des Fortgangs der Schlacht tätig. Er erkannte somit auch die Zeit bis zur Wundversorgung als wichtigen Faktor bei der Entstehung von Wundinfektionen. Den enormen Stellenwert von Infektionen im weiteren Sinne sollen folgende Daten verdeutlichen: Nur 6 % der etwa 2,5 Millionen gestorbenen französischen Soldaten in den napoleonischen Kriegen sind unmittelbar auf dem Schlachtfeld gefallen. Die übrigen 94 % sind vor allem an Wundinfektionen, Seuchen (z. B. Typhus), Kälte und Mangelernährung gestorben [1].

Seit 1846, mit der Durchführung der ersten Operation eines Halstumors durch John Collins Warren in einer von William Thomas Green Morton durchgeführten Äthernarkose in Boston, erlebte die Chirurgie ihren eigentlichen Aufschwung. 1861 beschrieb Ignaz Philipp Semmelweis in Wien die Bedeutung der Händedesinfektion als Prophylaxe des Kindbettfiebers. Ihm war aufgefallen, dass es in Kreißsälen, in denen Studenten, die vom Sektionssaal kamen, zu deutlich höheren Kindbettfieberraten kam, als bei Hebammen, die sich ausschließlich im Kreißsaal aufhielten. Robert Koch beschrieb schließlich 1878 Bakterien als die Ursache von Wundinfektionserkrankungen. Es dauerte bis 1892 als Curt Schimmelbusch die Anleitung zur aseptischen Wundbehandlung publizierte. 1898 stellte Paul Leopold Friedrich auf dem Berliner Chirurgenkongress seine tierexperimentellen Daten zur Wundinfektion vor. Hieraus abgeleitet wurde die in ihren Grundzügen noch heute gültige 6-Stunden-Regel, nach der eine Wunde nach Verletzung innerhalb dieser Frist relativ gefahrlos hinsichtlich eines Wundinfektionsrisikos primär verschlossen werden kann. Diese Überlegungen basieren auf dem exponentiellem Wachstum der bei der Verletzung inokulierten Bakterien.

Seit 1900 wurden schließlich die Prinzipien der geschlossenen und offenen Wundbehandlung verfeinert. Es dauerte jedoch bis 1962 Winter in der renommierten Zeitschrift „Nature” seine Untersuchungen zur feuchten Wundbehandlung sekundär heilender Wunden veröffentliche, bis dieses Verfahren, das interessanterweise von Galen bereits 130 Jahre n. Chr. beschrieben worden war, wieder langsam Eingang in die Wundbehandlung fand. Andere Erkenntnisse bis Mitte des letzten Jahrhunderts betrafen Untersuchungen zur Bedeutung der Durchblutung und Sauerstoffversorgung. Antibiotika (Penicillin ab 1940) fanden Eingang in die Behandlung von Infektionen. Im Weiteren wurden Risikofaktoren für die Entstehung von Wundkomplikationen, wie Diabetes, Mangelernährung, Immunsuppression, Bestrahlung oder Tumorleiden, definiert.

Das vorerst letzte Kapitel der Geschichte der Wundheilung und Wundbehandlung wurde etwa 1980 aufgeschlagen. Neuartige Verbände, wie Hydrocolloide oder Hydrogele kamen auf den Markt und erhöhten den Patientenkomfort, ohne jedoch überzeugende Verbesserungen bei den Abheilungsraten komplizierter Wunden zu erzielen. 1986 wurde erstmals über die Anwendung von autologen, d. h. aus körpereigenen Thrombozyten gewonnenen Wachstumsfaktoren bei Patienten mit chronischen Wunden berichtet. Seit 1990 werden gentechnisch hergestellte Wachstumsfaktoren lokal bei chronischen Wunden angewandt. Seit 1994 ist es möglich, bislang jedoch nur tierexperimentell, die Wundheilung durch einen direkten Gentransfer zu modulieren. Hier wird nicht mehr das fertige Protein in die Wunde gebracht, sondern lediglich die genetische Information. Eine klinische Studie zur Überprüfung der Möglichkeiten eines Gentransfers in chronische Wunden liegt gerade in den USA zur Begutachtung bei den zuständigen Gremien des NIH (National Institut of Health) vor [2]. 1999 wurde der erste Wachstumsfaktor (PDGF-BB) in Deutschland zur klinischen Anwendung bei diabetischen Patienten mit einer chronischen Fußwunde zugelassen.

Ich möchte nun auf einige grundsätzliche Aspekte der Wundheilung eingehen. Prinzipiell unterscheiden wir zwischen primär heilenden, das heißt genähten oder geklammerten, verschlossenen Wunden und so genannten sekundär heilenden, d. h. offenen Wunden. Komplikationslos heilende, verschlossene Wunden zeigen feingeweblich den klassischen Verlauf der Entzündung, Proliferation und Gewebemodulation. Fäden oder Klammern können nach 4 - 10 Tagen, je nach Körperlokalisation, entfernt werden. Ein endgültiger Heilungsabschluss mit vollständigem Abblassen der Narbe ist jedoch erst nach ein bis zwei Jahren zu erwarten. Oberflächliche, sekundär heilende Wunden, wie beispielsweise Schürfwunden heilen ebenfalls binnen weniger Tage ab. Dies erfolgt „trotz” aller geeigneter und ungeeigneter ärztlicher und nichtärztlicher Bemühungen. Vor allem von Behandlungen dieser einfachen Wunden stammen die vielseitigen, teilweise anekdotenhaften Berichte über geeignete Wundtherapeutika unterschiedlichsten Coleurs.

Pathophysiologisch kommt es bei der primären Wundheilung nach Freisetzung von Wundmediatoren aus Thrombozyten (Zytokine und Wachstumsfaktoren) zu einer Stimulation einer lokalen Immunreaktion [3]. Einwandernde Immunzellen, vor allem Makrophagen und Lymphozyten, stimulieren über lösliche und membrangebundene Mediatoren ein komplexes Netzwerk aus Wundzellen und Extrazellulärmatrix [4]. Auch Fibroblasten, Endothel- und Epithelzellen interagieren über auto- und parakrine Mechanismen. Im Rahmen eines geordneten zeitlichen und örtlichen Ablaufs der Heilung kommt es zur Bildung der Wundmatrix, vor allem von Kollagen durch Fibroblasten, und zur Neubildung von Gefäßen und zur Aussprossung des Epithels (Abb. [1]).

Gelingt eine normale Heilung nicht, so führt eine persistierende Entzündungsreaktion, ausgelöst durch wiederholte Traumata, durch eine Ischämie oder durch eine Infektion, zu einer gestörten Heilung. Pathophysiologisch spiegelt sich dies in einem Mangel stimulierender Faktoren und/oder in einem Überschuss kompromittierender Faktoren wider. Das Ungleichgewicht von stimulierenden und hemmenden Faktoren führt schließlich zu einer gestörten Heilung. In Deutschland leiden mehr als zwei Millionen Patienten an chronisch nicht heilenden Wunden. Dies unterstreicht die medizinische und sozioökonomische Bedeutung dieses Problems.

Hinsichtlich der verschiedenen Wundarten unterscheiden wir zwischen primär und sekundär heilenden Wunden. Wie behandeln wir nun diese Wunden? Geschlossene, primär heilende Wunden, beispielsweise nach Verletzungen oder saubere Operationswunden, werden mit einem trockenen, sterilen Verband bedeckt. Nach ein bis zwei Tagen können diese Verbände abgenommen werden, die Fäden oder Klammern werden nach wenigen Tagen entfernt. Sekundär heilende offene Wunden, beispielsweise Verbrennungswunden, infizierte operative Wunden oder chronische Wunden, wie so genannte „offene Beine” oder Druckgeschwüre, werden einer feuchten Behandlung zugeführt. Nur im feuchten Milieu können körpereigene Abwehrmechanismen wirken und Wundzellen eine Heilung herbeiführen.

Was verstehen wir unter einer Wundinfektion? Eine durch Keime hervorgerufene Entzündung, die zu einer Rötung und Schwellung sowie zu vermehrten Schmerzen im Bereich der Wundregion führt. Ähnlich wie bei der Diagnose eines Harnwegsinfektes kann eine Wundinfektion auch über eine quantitative Bakteriologie mit mehr als 105 Keimen/cm3 Gewebe definiert werden. In den wenigsten Kliniken besteht jedoch die Möglichkeit einer solchen quantitativen Bakteriologie, so dass man sich meist auf die genannten klinischen Kriterien verlassen muss. Als klassisches Beispiel gilt das Erysipel, hierbei findet sich oft eine ausgeprägte Rötung und Schwellung der betroffenen Region.

Eine gelblich-weißlich belegte offene Wunde ist jedoch nicht zwangsläufig infiziert, sondern meist nur kontaminiert bzw. kolonisiert. Hierbei kommt es nicht zu einer relevanten lokalen Entzündungsreaktion. Bei einer chronisch nicht heilenden Wunde muss aber auch in diesem Fall ein Wunddebridement, also eine Wundreinigung, durchgeführt werden. Der Begriff Debridement stammt von Le Dran aus dem Jahre 1173. Das chirurgische Debridement wird mit dem Skalpell oder einem scharfen Löffel durchgeführt. Ziel ist eine saubere Wunde mit einem dunkelroten Wund- bzw. Granulationsgewebe.

Wie führen wir nun eine feuchte Wundbehandlung sekundär heilender Wunden durch? Der klassische Verband ist der feuchte Verband mit physiologischer Kochsalzlösung (Abb. [3]). Angefeuchtete Kompressen werden in die Wunde eingelegt. Anschließend erfolgt eine Auflage mit einer Fettgaze, um die Feuchtigkeit länger in der Wunde zu halten und um die Wunde nach außen in einem gewissen Maße zu versiegeln. Darüber wird lediglich ein steriler, trockener Schutzverband gelegt. Moderne Verbände, wie Hydrocolloide, Hydrogele oder Schaumverbände sind teurer, erhöhen aber den Patientenkomfort. Im Gegensatz zu Kochsalzverbänden, die möglichst zweimal täglich gewechselt werden sollten, können die genannten Semi-okklusiv-Verbände meist zwei Tage belassen werden [5]. „Semi-okklusiv” werden diese Verbände bezeichnet, weil die Polyurethanverbindungen für Wasserdampf durchlässig sind und somit ein geeignetes Wundmilieu hinterlassen. Ein endgültiger Beweis, dass diese modernen Verbände auch zu einer vermehrten Abheilung chronischer Wunden führen, ist bislang in kontrollierten Studien jedoch nicht nachgewiesen worden. Sie sehen, dass sowohl ökonomische Aspekte als auch die Akzeptanz bei Ärzten und Patienten die Wahl einer Behandlungsmethode, unabhängig vom wissenschaftlich erwiesenen Behandlungsvorteil, maßgeblich beeinflussen.

Liegen großflächige Wunden mit einem sauberen Granulationsgewebe vor, so sollte auf plastische Deckungsverfahren, z. B. über eine Lappenplastik oder eine Hautverpflanzung, zurückgegriffen werden. Das häufigste Verfahren ist die so genannte Mesh-Graft-Spalthauttransplantation (Abb. [4]). Hierbei wird dem Patienten, meist vom Oberschenkel oder Gesäß, mit einem Elektromesser, einem Dermatom, eine hauchdünne tangentiale Hautschicht, um 0,3 - 0,4 mm dick, entnommen. Anschließend erfolgt z. B. über Schablonen eine Gitterbildung, wodurch einerseits Fläche gewonnen wird, andererseits auch überschüssiges Wundsekret der zu transplantierenden Wunde abfließen kann. Dieses Transplantat dient dabei nicht nur als Abdeckung für die neue Wunde sondern gleichzeitig als biologisch aktiver Verband. Zellen dieser neuen Haut produzieren Wundfaktoren, die andere Zellen der Wunde zu einer schnelleren Heilung stimulieren. Alternativ gibt es heute die Möglichkeit, über die künstliche Herstellung biokompatibler Konstrukte (Bioengineering) so genannte Kunsthaut zu verwenden [6]. Zugelassen ist in den USA ein Präparat mit dem Namen Apligraf®, das aus menschlichen Bindegewebszellen (Fibroblasten), eingelagert in Rinderkollagen, und aus einer Deckschicht aus menschlichen Hornzellen (Keratinozyten) besteht. Die menschlichen Zellen stammen aus Neugeborenen-Vorhaut. Histologisch ähneln diese Konstrukte der normalen Haut, Hautanhangsgebilde fehlen jedoch. Aufgrund des Rinderkollagenanteils und den jüngsten Diskussionen um BSE sind die Zulassungsverfahren in Deutschland jedoch ins Stocken geraten. Das Prinzip dieser künstlichen Haut basiert wieder auf der Idee eines biologisch aktiven Verbandes. Die Hautzellen produzieren Faktoren, die die Zellen des Empfängers zum Wachstum anregen. Histologische Untersuchungen haben gezeigt, dass nach vier Wochen nach Übertragung dieser künstlichen Haut kein fremdes Gewebe mehr in den Wunden nachweisbar ist. Somit wird das Transplantat nicht dauerhaft vom Empfänger integriert, sondern es kommt zu einem vollständigen Abbau. Technisch wird die künstliche Haut auf einer Nährsubstanz angeliefert, aus ähnlichen Gründen wie bei der autologen Mesh-Graft wird eine Gitterbildung durchgeführt und das Präparat wird anschließend auf die Wunde aufgelegt. Der Vorteil liegt zum einen in der Möglichkeit, dieses Verfahren ambulant durchzuführen, zum anderen entfällt die Narkose und es wird keine zweite Wunde im Bereich der Entnahmestelle gesetzt. Dem gegenüber steht das bereits erwähnte, wenn auch nur minimale Infektionsrisiko bei der Verwendung fremden menschlichen oder gar xenogenen Materials und der nicht unerheblichen Kosten um etwa 1000 $ pro handtellergroßem Konstrukt. Diese „Kunsthaut” muss pro Wunde bis zu viermal aufgetragen werden.

Als weitere moderne Behandlungsoption bei chronisch nicht heilenden Wunden existiert die Therapie mit gentechnisch hergestellten Wachstumsfaktoren. Das einzige zugelassene Präparat ist bislang Platelet-derived Growth Factor (PDGF)-BB, ein ursprünglich aus Blutplättchen isolierter Wachstumsfaktor. Dieser Faktor ist für die Lokalbehandlung von neuropathischen, chronischen Fußwunden bei Diabetikern in Deutschland zugelassen. Die Verbesserung der Heilung in spezialisierten Zentren liegt bei etwa 10 - 30 %. Schnelleres Heilen heißt jedoch nicht besseres Heilen. In den vorgelegten Studien hatten sowohl Kontrollpatienten als auch Patienten, die mit PDGF-BB behandelt wurden binnen 3 Monaten 30 % Rezidive. Auch ist das Präparat nicht billig. In Deutschland kostet eine 15-g-Tube, die bei kleinen Ulzera etwa 3 - 4 Wochen reicht, zwischen 300 und 500 Euro. Auch hier stehen wieder teuere Behandlungskosten einem möglichen Behandlungsvorteil, damit einer Behandlungsverkürzung und somit Kosteneinsparung gegenüber. Ökonomische und politische Aspekte bestimmen die Anwendung und Verbreitung solcher neuer Therapieverfahren mit.

Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen nun noch anhand von drei Beispielen die eben ausgeführten Behandlungskonzepte illustrieren:

Die häufigste Ursache chronisch nicht heilender Wunden ist die chronisch venöse Insuffizienz (Abb. [5]). Etwa 70 % aller chronischen Wunden lassen sich hierauf zurückführen. Pathophysiologisch liegt diesen Wunden ein gestörter Venenfluss zugrunde, der zu einer lokalen Entzündungsreaktion mit nachfolgender Narbenbildung führt. Spontan oder als Folge von Bagatellverletzungen kommt es schließlich zu Wunden am Unterschenkel, die teilweise über viele Jahre persistieren, sich zum Teil verschließen, um nach wenigen Monaten wieder erneut aufzutreten. Diese Wunden können ein beträchtliches Ausmaß annehmen, bis hin zur gesamten Zirkumferenz des Unterschenkels. Therapeutisch stehen hier ein Debridement und eine anschließende feuchte Wundbehandlung im Vordergrund. Bei größeren Wunden sollte eine Mesh-Graft-Deckung erfolgen. Wesentliche Begleittherapie ist die Kompressionsbehandlung mit elastischen Binden. Bei Therapieresistenz bzw. nach Abschluss der Heilung sollte eine Evaluation der Venenverhältnisse erfolgen, um eine operative Sanierung der oberflächlichen und Perforansvenen durchführen zu können.

Als weitere häufige Ursache chronisch nicht heilender Wunden ist das diabetische Fußsyndrom zu nennen (Abb. [6]). Etwa 20 % aller Diabetiker erleiden im Laufe ihrer Erkrankung eine Wunde am Fuß. Die geschätzten Krankenhauskosten zur Behandlung des diabetischen Fußsyndroms überschreiten alle anderen stationären Behandlungskosten diabetischer Komplikationen. Wir unterscheiden den neuropathischen vom ischämischen Typ. Etwa 50 - 60 % der Patienten leiden an einem neuropathischen Typ, weitere 20 % an einem ischämischen Typ. Bei den übrigen Patienten liegen beide Formen vor (Mischtyp). Bei der neuropathischen Form kommt es in erster Linie durch die ausgeprägte sensible Neuropathie zu plantaren Wunden im Vorfußbereich. Die Durchblutung ist bei diesen Patienten nicht eingeschränkt. Therapeutisch steht auch hier ein Debridement mit einer feuchten Wundbehandlung, beispielsweise mit feuchten Kochsalzkompressen, im Vordergrund. Begleitend muss eine konsequente Druckentlastung durch ein geeignetes orthopädisches Schuhwerk, also zum Beispiel durch einen Vorfußentlastungsschuh, erfolgen. Ferner sollte immer eine Optimierung der diabetischen Stoffwechsellage angestrebt werden. Dem ischämischen Typ liegt eine Durchblutungsstörung im Bereich der Beinarterien zugrunde, ähnlich wie bei Durchblutungsstörungen anderer Ursache (Abb. [7]). Bei diabetischen und nichtdiabetischen Durchblutungsstörungen muss nach Kontrolle einer akuten Infektion zunächst die Gefäßsituation abgeklärt werden und, wenn möglich, einer Verbesserung der Durchblutung durch interventionelle (z. B. Angioplastie) oder chirurgische (Bypass) Maßnahmen erfolgen. Anschließend erfolgt die definitive chirurgische Sanierung der Wunde. Auch hier sollten feuchte Verbände angelegt werden.

Zusammengefasst beinhaltet eine „richtige” Wundbehandlung heute bei primär heilenden, geschlossenen Wunden folgende Aspekte: Traumatische Wunden werden gereinigt und, wenn möglich, primär verschlossen, ähnlich wie frische, nicht infizierte Operationswunden. Der Wundverschluss muss spannungsfrei erfolgen. Anschließend wird ein trockener, steriler Verband angelegt. Wärme, Ruhe, ausreichende systemische Sauerstoffversorgung und eine ausreichende Schmerztherapie wirken sich günstig auf die Wundheilung aus. Wasserkontakt, also zum Beispiel duschen, ist ab dem ersten oder zweiten Tag nach dem Wundverschluss problemlos möglich.

Bei sekundär heilenden, offenen Wunden erfolgt zunächst die Infektkontrolle und, wenn erforderlich, ein Debridement. Eine Antibiotikabehandlung ist nur bei Infektionen, nicht jedoch bei einer Kontamination notwendig. Lokal erfolgt eine feuchte Wundbehandlung, bei größeren Defekten kommen plastische Operationsverfahren zur Anwendung. Begleitend muss eine Behandlung der Grunderkrankung bzw. der Ursache der Heilungsstörung erfolgen. Wachstumsfaktoren sollten nur in Zentren und bei ausgewählten Patienten zur Anwendung kommen. Der künstliche Hautersatz ist Gegenstand aktueller klinischer Studien. Ein Gentransfer der Erbinformation von Wundfaktoren zur Beeinflussung der Heilung wird gegenwärtig noch in experimentellen Studien getestet.

Eine „richtige” Wundbehandlung bleibt also weiterhin abhängig von wissenschaftlichen Erkenntnissen, den jeweiligen politischen und ökonomischen Verhältnissen sowie von der Akzeptanz bei den handelnden Ärzten und den Patienten. Was heute „richtig” ist, ist möglicherweise in einigen Jahren wieder nichtig.

Abb. 1 Vereinfachtes Schema der Wundphysiologie akuter Wunden.

Abb. 2 Prävalenz und Pathogenese chronisch nicht heilender Wunden.

Abb. 3 Feuchter Verband bei sekundär heilenden Wunden: mit physiologischer Kochsalzlösung getränkte Kompressen.

Abb. 4 Plastische Deckung mit Spalthaut-Mesh-Graft und Entnahme vom ventralen Oberschenkel.

Abb. 5 Pathogenese und Therapiekonzept bei venösen Ulzera (chronisch venöse Insuffizienz Grad III).

Abb. 6 Pathogenese und Therapiekonzept beim diabetischen Fußsyndrom.

Abb. 7 Pathogenese und Therapiekonzept bei ischämischen Ulzera (arterielle Verschlusskrankheit Grad IV).

Literatur

  • 1 Rüster D. Alte Chirurgie - Von der Steinzeit bis zum 19. Jahrhundert. Berlin; Ullstein 1999
  • 2 Margolis D J, Crombleholme T, Herlyn M. Clinical Protocoll: Phase I trial to evaluate the safety of H5.020CMV.PDGF-B for the treatment of a diabetic insensate foot ulcer.  Wound Rep Reg. 2000;  8 480-493
  • 3 Schäffer M, Becker H D. Immunregulation der Wundheilung.  Chirurg. 1999;  70 897-908
  • 4 Schäffer M, Barbul A. Lymphocyte function in wound healing and following injury.  Br J Surg. 1998;  85 444-460
  • 5 Coerper S, Schäffer M, Enderle M, Schott U, Köveker G, Becker H D. Die chirurgische Wundsprechstunde: Ein interdisziplinäres Zentrum zur Behandlung chronischer Wunden durch standardisierte und kontrollierte Therapiekonzepte.  Chirurg. 1999;  70 480-484
  • 6 Falanga V, Margolis D, Alvarez O. et al . Rapid healing of venous ulcers and lack of clinical rejection with an allogeneic cultured skin equivalent.  Arch Dermatol. 1998;  134 293-300

Antrittsvorlesung vom 31.10.2001, Chirurgische KLinik Tübingen

Priv.-Doz. Dr. Michael Schäffer

Klinik für Allgemeine Chirurgie

Hoppe-Seyler-Str. 3

72076 Tübingen

Phone: + 49-7071-2986611

Fax: + 49-7071-295600

Email: michael.schaeffer@med.uni-tuebingen.de