Was sind die Leitlinien medizinischer und psychosozialer Versorgung
im Gefängnis: Woran haben sich diese Hilfen zu orientieren? Ein zentraler
Grundsatz, Gegenstand vieler internationaler Kongresse, Resolutionen und
Empfehlungen, ist das Äquivalenzprinzip, d. h., die medizinischen
und psychosozialen Standards innerhalb sollen denen außerhalb des
Vollzugs angepasst werden. Die WHO beispielsweise hat in den allgemeinen
Grundsätzen ihrer Richtlinien zu „HIV-Infektion und AIDS im
Gefängnis” ausgeführt: „Alle Gefangenen haben ein Recht
auf Gesundheitsfürsorge, einschließlich vorbeugender
Maßnahmen, das derjenigen in der Allgemeinbevölkerung entspricht und
Diskriminierung vermeidet, dies insbesondere im Hinblick auf ihren rechtlichen
Status und ihre Nationalität” (WHO 1993). Der Europarat hat sich
ebenso geäußert (Council of Europe 1993). Auch die European Prison
Rules, die neueste Fassung der „Minimalen Standardbestimmungen der
Vereinten Nationen” enthalten diesen Kernsatz, ebenso wie Resolutionen,
wie z. B. des International Council of Prison Medical Services 1996:
„Die medizinische Betreuung in Gefängnissen sollte mindestens
gleich gut wie außerhalb der Gefängnisse sein ...” (vgl.
Bolli 1996, S. 4).
Angleichung an erprobte, bewährte und somit erfolgreiche Arbeit
draußen sollte also die normative Leitlinie für die
„Gesundheitspolitik und -praxis” im Strafvollzug sein.
Gesundheitliche Verbesserungen für die Gefangenen sind auf dieser
Grundlage anzumahnen und durchzusetzen. Doch wie steht es mit der
Effektivität der Gesundheitsdienste und konkret der Hilfen für
drogenabhängige Straftäter? Was wissen wir über den
Gesundheitszustand der Gefangenen, was über den der Bediensteten -
was angesichts der vielen Fehltage in dieser Berufsgruppe ebenfalls gefragt
werden muss? Welche Studien gibt es grundsätzlich über den
Zusammenhang von Freiheitsentzug, einschränkender physischer Realität
und Gesundheit? Welche Auswirkung hat die Organisation der Gesundheitsdienste
(Vertragsärzte von draußen oder Anstaltsärzte) auf deren
Inanspruchnahme und auf das Arzt-Patient-Verhältnis - wird es
aufgrund der nicht vorhandenen freien Arztwahl als
„Zwangsverhältnis” wahrgenommen? Wie steht es mit dem
legalen und illegalen Drogenkonsum: Kann erzwungene Abstinenz durchgehalten
werden oder wird das Konsummuster deformiert und bleibt risikobehaftet in und
kurz nach der Haft? Welches Wissen haben Gefangene über
drogenkonsumbedingte Risiken, aber auch: Welche Kompetenzen haben sie?
Antworten auf diese Fragen können auch in diesem Heft nur
bruchstückhaft und für Teilbereiche der Suchtproblematik gegeben
werden, beispielsweise können wir die Situation von Gefangenen mit
Alkoholproblemen in diesem Rahmen nicht näher beleuchten.
Die Forschung auf dem Sektor der Suchtkrankenhilfe in
„totalen Institutionen” wird bis auf wenige Ausnahmen kaum
gefördert, das föderale System trägt nicht gerade zu einem
Gesamtüberblick bei, die Transparenz der Gesundheitsversorgung ist gering
- Qualitätssicherungsmaßnahmen greifen nur zum Teil. Es gibt
wenig aggregierte und mit Informationssystemen über kommunale
Suchthilfestrukturen vernetzte Daten, so dass wir geneigt sind, von einer
„Prison Health” und einer „Public
Health”-Diskussion zu sprechen.
Die Autoren dieses Hefts bemühen sich gleichwohl um einen
Über- und Durchblick: über die Drogenhilfe im Vollzug allgemein,
deren (Struktur-)Probleme und Fallstricke. Vor allem geht es uns am Beispiel
des Umgangs mit Drogenkonsum und Infektionskrankheiten darum, die Gesundheit
eines großen Teils der Gefangenen (etwa 20 %) zu
thematisieren und die Hilfemaßnahmen auf Angemessenheit zu untersuchen.
Weil der Anteil der KonsumentInnen legaler wie illegaler Drogen im Strafvollzug
seit Jahren steigt, muss auch das Prinzip der Äquivalenz umgesetzt werden:
Die Differenzierung der Drogenhilfe außerhalb muss im Gefängnis ihre
Entsprechung finden.
Einzelne Beiträge befassen sich vor allem mit der Schnittstelle
von drinnen und draußen: Haftentlassung und das hohe
Mortalitätsrisko; anderen Beiträgen geht es um die Infektionsrisiken
in Haft (mit HIV/AIDS und Hepatitiden) und geeignete
Präventionsmaßnahmen. Untersucht werden auch die traditionell
abstinenzorientierten Angebote für Gefangene, die sich verpflichten, in
der Anstalt drogenfrei zu leben.
Allen Beitragenden geht es im Kern um eine Erhöhung der
Kompetenzen der Gefangenen angesichts der Tatsache, dass oftmals eine
Ressourcenverringerung stattfindet - mit all ihren Symptomen von
Unselbstständigkeit, Lethargie, Depressionen, Interessen- und
Mutlosigkeit, Passivität. Die totale Institution
‚Gefängnis’ muss als überwiegend ressourcenverringernd
begriffen und Formen der Ressourcenförderung und der erweiterten
Handlungskompetenz müssen erarbeitet werden.
Fachliche Diskussion und Praxis der Gesundheitsförderung
(erprobt in Schulen, Krankenhäusern, Städten) könnten als eine
Vorlage dienen, auch die Lebens- und Gesundheitsbedingungen Gefangener und der
im Strafvollzug Beschäftigten zu überprüfen. Keppler macht in
seinem Beitrag über den Wandel von der „Gefangenenfürsorge zur
Gesundheitsförderung” deutlich - ausgehend von der
Erkenntnis, dass Gesundheit mehr ist als die Abwesenheit von Krankheit -,
dass nämlich für die Stärkung protektiver Faktoren die
jeweiligen Lebens-, Arbeits-, Lern- und hier die Vollzugsbedingungen mit
berücksichtigt werden müssen. Das umfasst neben der Einbeziehung der
spezifischen Lebens- und Arbeitsbedingungen im Gefängnis auch die
materiellen, baulichen, personellen, kommunikativen und kooperativen
Gegebenheiten des Gefängnisses. Ein systemischer Blick auf das
Gefängnis ist gefordert, der lebensweltbezogen,
fächerübergreifend und kontextorientiert Lebensqualitäten unter
den gegebenen Bedingungen des Freiheitsentzugs weiterentwickeln hilft. Vor
diesem Hintergrund wird deutlich, dass eine Diskussion von ‚Healthy
Prisons’ von mehreren Disziplinen geführt werden muss: Erkenntnisse
aus Sozial-, Gesundheits-, Politik- und Rechtswissenschaften müssen
miteinander verbunden werden, um die Bedingungen und Entwicklungspotenziale
einer Gesundheitsförderung im Gefängnis zu analysieren. Gelingt in
Zukunft keine intensivierte Vernetzung von Public Health und Prison
Health-Programmen, werden wir nicht in der Lage sein, die Ineffizienz des
gesamten Versorgungssystems wahrzunehmen und wirksam zu mindern - eine
Ineffizienz, die durch die - je nach Perspektive - einseitige
Ausblendung des jeweils anderen Teils der Lebenswirklichkeit vieler zwischen
den Räumen fluktuierender Drogengebraucher entsteht.