Einleitung
Einleitung
Seit den 80er Jahren ist die Beziehung zwischen Suchterkrankungen und sexuellem Missbrauch
in der klinischen Forschung von zunehmendem Interesse. Bisher existieren keine allgemein
akzeptierten Bezeichnungen oder Definitionen für sexuellen Missbauch [1], was sich auf die epidemiologischen Untersuchungen auswirkt [2]. Nach Finkelhor [3] ist davon auszugehen, dass 10-15 % der Frauen und 5-10 % der Männer der Normalbevölkerung
in Europa und den Vereinigten Staaten bis zum Alter von 16 Jahren mindestens einmal
zu einem „sexuellen Körperkontakt” gezwungen werden. Die Quote von „Missbrauch überhaupt”
(d. h. auch ohne „sexuellen Körperkontakt”) wird auf bis zu 25 % geschätzt. Missbrauch
zum Geschlechtsverkehr (d. h. vaginale, orale oder anale Penetration) betrifft 2-2,3
% aller Mädchen und 1-1,5 % aller Jungen bis zum 16. Lebensjahr [3]. Physische Misshandlung und sexueller Missbrauch treten dabei überfällig häufig
gemeinsam auf [4 ;6] und ziehen schwerwiegendere Folgen nach sich als eine Missbrauchsform allein [7].
Zur Entwicklung differenzieller Behandlungsstrategien bei Drogenabhängigkeit erscheint
es sinnvoll, Untergruppen mit besonderen Risikokonstellationen wie komorbider psychischer
Störung oder Realtraumatisierung zu erarbeiten [8]. Die Ergebnisse der Epidemiologic-Catchment-Area-Studie [9] deuteten darauf hin, dass Frauen nach sexuellem Missbrauch ein erhöhtes Risiko für
die Entwicklung einer Substanzabhängigkeit haben. Während Alkoholkonsum eher als Folge
eines Missbrauchs angesehen wurde, kam dem Missbrauch bezüglich des Konsums anderer
Drogen sowohl die Rolle eines Verursachers als auch einer Folgeerscheinung zu. Jarvis
et al. [10] verglichen im Kindesalter sexuell missbrauchte abhängige Frauen (Alkohol und verschiedene
andere Substanzen, u. a. Heroin und Stimulanzien) mit nicht missbrauchten Frauen.
Es fanden sich keine deutlichen Unterschiede in der Schwere der Abhängigkeit. Missbrauchte
Frauen konsumierten allerdings mehr Stimulanzien, waren jünger bei der ersten Intoxikation
und konsumierten früher inhalative Drogen. Die ebenfalls untersuchten, nicht in Behandlung
stehenden missbrauchten Frauen mit Suchterkrankungen waren häufiger außerhalb der
Familie missbraucht worden, während die missbrauchten Frauen ohne Suchterkrankungen
einen Missbrauch in der eigenen Familie erlitten hatten. Newton-Taylor et al. [11] untersuchten eine Gruppe von 3642 Studentinnen. 15 % gaben an, sexuell missbraucht,
24 % physisch misshandelt worden zu sein. Missbrauch und Misshandlung waren mit erhöhtem
Alkohol- und Drogenkonsum sowie verschiedenen Essstörungen assoziiert.
Kreyssig [12] beziffert den Anteil sexuell missbrauchter an allen drogensüchtigen Frauen in Deutschland
mit ca. 70 %, betont aber gleichzeitig das Fehlen einer ausreichenden Anzahl entsprechender
deutschsprachiger Untersuchungen. Die Münchner Arbeitsgruppe von Schäfer et al. [13] untersuchte Patienten mit polyvalentem Substanzgebrauch hinsichtlich eines sexuellen
Missbrauchs vor dem 16. Lebensjahr. 70 % der Frauen und 56 % der Männer gaben bei
einer weiten Missbrauchsdefinition im Interview an, sexuell missbraucht worden zu
sein, in 50 % der Fälle geschah dies durch Freunde oder Angehörige. 50 % der Frauen
und 40 % der Männer gaben an, vor dem 16. Lebensjahr gegen ihren Willen Geschlechtsverkehr
gehabt zu haben. Die Ergebnisse scheinen allerdings vor dem Hintergrund einer heterogen
zusammengesetzten Untersuchungsgruppe (unterschiedliche primär gebrauchte Suchtstoffe)
schwer interpretierbar. Die von Schäfer et al. untersuchten Patienten sahen selbst
keinen kausalen Zusammenhang zwischen ihren Missbrauchserfahrungen und dem polyvalenten
Drogenkonsum. Teegen u. Zumbeck [14] untersuchten die Prävalenz traumatischer Erfahrungen und posttraumatischer Belastungsstörungen
bei 122 opiatabhängigen Patienten (26 Frauen, 96 Männer). Einen sexuellen Missbrauch
vor dem 14. Lebensjahr konnten sie in ihrem standardisierten Interview bei 38,5 %
der Frauen und 4,2 % der Männer nachweisen. 42,3 % der Frauen gaben an, im Laufe ihres
Lebens vergewaltigt worden zu sein.
Gossop et al. [15] fanden in einer Studie an Heroinabhängigen heraus, dass sich 17 % der Frauen und
6 % der Männer prostituieren. Prostitution war dabei mit einem erhöhten Schweregrad
der Abhängigkeit assoziiert. In einer Untersuchung von 51 Prostituierten [16] gaben 53 % der Frauen an, der Tätigkeit nachzugehen, um ihren Drogenkonsum finanzieren
zu können. Der überwiegende Anteil dieser Frauen war heroinabhängig. Die Hälfte der
Frauen gab an, erst nach dem Beginn der Drogenproblematik mit der Prostitution angefangen
zu haben.
Kilpatrick et al. [17] beschrieben die Verbindung zwischen Substanzabhängigkeit und traumatisierenden Erfahrungen
als Zirkel, in dem das Trauma die Gefahr für die Entwicklung süchtigen Verhaltens
und das süchtige Verhalten wiederum die Gefahr erneuter Traumatisierungen erhöht.
Die vorliegende Studie untersucht das Vorliegen sexueller Missbrauchserfahrungen opiatabhängiger
Frauen in einer deutschen Großstadt. Insbesondere soll die Beziehung zwischen sexuellem
Missbrauch und anderen Traumatisierungen, sozioökonomischen Merkmalen, biografischen
Faktoren, Suchtentwicklung und psychiatrischen Symptomen bzw. komorbiden Diagnosen
untersucht werden.
Die Erhebung des Missbrauchs wurde mit Hilfe des EuropASI (deutsche Version [18]) durchgeführt. Najavatis et al. [19] untersuchten die Trauma-Items des Addiction-Severity-Index als Screening-Instrument
hinsichtlich Sensitivität und Spezifität in Beziehung zu einem anderen Trauma-Instrument
und der aktuellen Diagnose einer PTSD bei kokainabhängigen Patienten. Für sexuellen
Missbrauch und physische Misshandlung war die Spezifität des ASI höher als die Sensitivität,
während für die PTSD-Diagnose die Sensitivität höher als die Spezifität war. Der ASI
zeigte sich geeigneter zur Erhebung sexueller als physischer Traumatisierungen.
Die Studie versucht, die folgenden Fragestellungen zu beantworten:
-
Lassen sich die Prävalenzangaben aus anderen Studien für die untersuchte Stichprobe
bestätigen?
-
Kommen sexuell missbrauchte, opiatabhängige Frauen aus einem familiären Umfeld, in
dem gehäuft Suchtprobleme der Eltern auftreten und wenn ja, welche?
-
Welchen Einfluss hat der sexuelle Missbrauch auf Merkmale der Suchtentwicklung wie
z. B. Einstiegsalter, Dauer der Abhängigkeit, Überdosierungen, körperliche Probleme?
-
Finden sich bei sexuell missbrauchten, opiatabhängigen Frauen bestimmte psychische
Symptome bzw. komorbide psychiatrischen Diagnosen häufiger?
Methoden
Methoden
Die Ausgangserhebung einer Studie zum Langzeitverlauf von Opiatabhängigkeit wurde
genutzt, um eine repräsentative Gruppe opiatabhängiger Frauen bezüglich sexueller
Missbrauchserfahrungen zu untersuchen. Die Gruppe opiatabhängiger Frauen (n = 75)
wurde 1995 bis 1997 in verschiedenen Bereichen des Drogenhilfesystems (Entzugs-, Substitutionsbehandlung,
stationäre Therapie, sozialtherapeutische Wohngemeinschaften, Beratungseinrichtungen)
in Hamburg erhoben.
Erhebungsinstrumente
Zur Beschreibung der psychiatrischen Symptomatik und des psychischen Befundes kam
das Composite-International-Diagnostik-Interview CIDI
[20] zur Anwendung. Die psychosoziale Lebenssituation, der gesundheitliche Zustand, der
lebensbiografische Hintergrund sowie Drogenkarriere und Konsummuster sind mit dem
Addiction-Severity-Index EuropASI (deutsche Version [18]) erhoben worden. Bei beiden Untersuchungsinstrumenten handelt es sich um standardisierte
Erhebungsmethoden, die bereits in vielen anderen Studien mit Drogenabhängigen zum
Einsatz gekommen sind und über eine befriedigende bis gute Reliabilität und Validität
verfügen.
Die Durchführung der Interviews oblag geschulten Mitarbeitern des Forschungsprojekts.
Der Ort des Interviews entsprach den Einrichtungen, in welchen sich die Klienten aufhielten
bzw. mit denen sie in regelmäßigem Kontakt standen. Die Auswahl der Probanden erfolgte
zufällig, d. h. danach, welcher Proband zu welchem Zeitpunkt des Besuchs der Interviewer
Zeit hatte oder einen Termin vereinbaren konnte. Nach Aufklärung, Einwilligung und
Teilnahme an der Untersuchung erhielten die Probanden eine Aufwandsentschädigung von
30,- DM.
Wie oben dargestellt erfolgte die Erhebung des Missbrauchs mit Hilfe des EuropASI.
Die Fragen lauteten: „Hat eine der obigen Personen (gemeint sind: Mutter, Vater, Brüder/Schwestern,
Lebensgefährte/Gatte, Kinder, andere wichtige Familienmitglieder, gute Freunde, Nachbarn,
Kollegen) Sie misshandelt bzw. missbraucht?
-
emotional (durch harte Worte)
-
physisch (körperlich Schaden zugefügt)
-
sexuell (sexuelle Annäherung oder erzwungene Sexualkontakte)”.
Angegeben werden konnten Missbrauchserfahrungen insgesamt sowie in den letzten 30
Tagen. Des Weiteren konnten Missbrauchserfahrungen als Antwort auf eine offene Frage
angegeben werden: „Nennen Sie 3 wichtige Konflikte oder Kränkungen, die Sie als zentral
für ihren Lebenslauf empfinden.”
Stichprobe
Von insgesamt 75 Frauen wurden 31 Frauen der sexuellen Missbrauchsgruppe zugeordnet,
die Vergleichsgruppe bildeten die übrigen 44 Frauen. Das Alter der Frauen betrug durchschnittlich
27,36 (± 6,1) Jahre. Der EuropASI erhebt nicht Merkmale wie Alter beim Missbrauch,
Dauer des Missbrauchs, Altersunterschied zwischen Täter und Opfer, genauere Beschreibung
des Traumas (z. B. penetrative bzw. nichtpenetrative Kontakte) und der Täterperson.
Statistik
Die statistische Auswertung erfolgte mit SPSS 6.1.1 für Windows. Die Signifikanzprüfung
erfolgte mit dem Students-t-Test für unabhängige Stichproben sowie dem Chi-Quadrat-Test
bei Nominaldaten.
Ergebnisse
Ergebnisse
Soziodemografische Merkmale der Stichprobe
Tab. 1 Soziodemografische Merkmale
| Variable |
sex. Missbrauch (n = 31) |
kein Missbrauch (n = 44) |
Statistik |
| Alter (Jahre) |
26,9 |
27,7 |
n. s. |
| Schulbildung (Jahre) |
10,3 |
11,3 |
[*]** |
| längste Arbeitslosigkeit (Monate) |
66,5 |
34,0 |
[*]* |
| Berufsausbildung (%) |
32,3 |
45,5 |
n. s. |
| Kinder (%) |
48,8 |
22,7 |
* |
| Prostitution (%) |
54,8 |
25,0 |
** |
|
* p ≤ 0,05
** p ≤ 0,01
|
Die soziodemografischen Merkmale der Stichprobe können der Tab. [1] entnommen werden. Das durchschnittliche Alter der Frauen lag bei 27,36 Jahren. 40
% (n = 30) der Gesamtstichprobe gaben an, allein stehend zu sein, 32 % (n = 24) waren
in einer festen Beziehung. Gruppenunterschiede zwischen sexuell missbrauchten und
nicht missbrauchten Frauen traten hinsichtlich dieser Merkmale nicht auf.
Sexuell missbrauchte Frauen berichteten aber insgesamt häufiger eine problematische
schulische und berufliche Entwicklung. Sie besuchten kürzer die Schule und waren bis
zum Zeitpunkt der Erhebung im Mittel doppelt so lang arbeitslos. Deutlich häufiger
gaben die sexuell missbrauchten Frauen Prostitution als Geldquelle zum Lebensverdienst
an. Eine signifikant größere Gruppe der sexuell missbrauchten Frauen hatten eigene
Kinder.
Prävalenz der Missbrauchserfahrungen und -formen
Tab. 2 Koexistenz verschiedener Missbrauchsformen
| Variable |
sex. Missbrauch (n = 31) in % |
kein Missbrauch (n = 44) in % |
Statistik |
physisch letzte 30 Tage insgesamt |
32,3 90,3 |
9,3 59,1 |
[*]
*** |
emotional letzte 30 Tage insgesamt |
41,9 96,8 |
25,6 65,9 |
[*]**
[***]
|
|
* p ≤ 0,05
** p ≤ 0,1
*** p ≤ 0,005
|
Von den Opiatabhängigen, die sexuelle Missbrauchserfahrungen angegeben hatten, berichteten
26,7 %, auch innerhalb der letzten 30 Tage vor Befragung sexuell missbraucht worden
zu sein. Physische und emotionale Traumatisierungen zeigten sich in der Koexistenz
mit sexuellem Missbrauch signifikant häufiger als in der Gruppe der nicht sexuell
missbrauchten Frauen. Dennoch hatte auch diese Gruppe sehr häufig physische (59,1
%) und/oder emotionale (65,9 %) Missbrauchserfahrungen.1
Kommen sexuell missbrauchte, opiatabhängige Frauen aus einem familiären Umfeld, in
dem gehäuft Suchtprobleme der Eltern auftreten?
Tab. 3 Suchtprobleme der Eltern
| Variable |
sex. Missbrauch (n = 31) in % |
kein Missbrauch (n = 44) in % |
Statistik |
| Mutter |
|
|
|
|
|
| Alkoholprobleme |
19,4 |
|
20,5 |
|
n. s. |
| Drogenprobleme |
29 |
|
9,1 |
|
[*]* |
| psych. Probleme |
32,3 |
|
31,8 |
|
* |
| Vater |
|
|
|
|
|
| Alkoholprobleme |
64,5 |
|
22,7 |
|
[*]*** |
| Drogenprobleme |
16,1 |
|
4,5 |
|
n. s. |
| psych. Probleme |
25,8 |
|
25 |
|
[*]** |
|
* p ≤ 0,05
** p ≤ 0,1
*** p ≤ 0,005
|
Die Mütter sexuell missbrauchter Frauen litten häufiger unter Drogenproblemen, wobei
keine genauere Aussage über Substanzen, Konsummuster o. Ä. getroffen werden kann.
Für die Mütter der missbrauchten Frauen konnten auch mehr psychische Probleme nachgewiesen
werden. Bei den Vätern hingegen war das hauptsächlich konsumierte Suchtmittel Alkohol.
Sexuell missbrauchte Frauen berichteten nahezu dreimal so häufig über einen problematischen
Alkoholkonsum des Vaters wie nicht missbrauchte.
Welchen Einfluss hat der sexuelle Missbrauch auf Merkmale der Suchtentwicklung?
Tab. 4 Ausgewählte Verlaufsparameter der Drogenabhängigkeit
| Variable |
sex. Missbrauch (n = 31) |
kein Missbrauch (n = 44) |
Statistik |
| Heroin (Einstiegsalter) |
19,2 (± 6,7) |
19,8 (± 4,3) |
n. s. |
| Jahre Heroingebrauch |
5,4 (± 3,4) |
5,6 (± 3,5) |
n. s. |
| ungewollte Überdosierungen |
2,2 (± 2,8) |
1,2 (± 1,7) |
[*]** |
| gewollte Überdosierungen |
0,7 (± 1,1) |
0,2 (± 0,5) |
[*]* |
| Alkohol bis Trunkenheit (Einstiegsalter) |
13,0 (± 2,2) |
14,0 (± 2,5) |
* |
| Kokain (Einstiegsalter) |
18,6 (± 5,3) |
19,9 (± 4,7) |
n. s. |
| Kokain (letzte 30 Tage) |
12,0 (± 12,86) |
6,6 (± 10,1) |
* |
| stationär im Krankenhaus wegen körperlicher Probleme |
6,4 (± 6,4) |
3,4 (± 3,9) |
* |
|
* p ≤ 0,05
** p ≤ 0,1
|
Sexuell missbrauchte und nicht missbrauchte Frauen zeigten keine signifikanten Unterschiede
bezüglich des Einstiegsalters in den Heroingebrauch und der Jahre des Konsums. 19
von 31 sexuell missbrauchten und 18 von 44 nicht sexuell missbrauchten Frauen hatten
Erfahrungen mit Langzeittherapien. Sexuell missbrauchte waren insgesamt kürzer (10,97
± 7,7 vs. 11,61 ± 11,09; t (35) = 0,21; n. s.) in Therapie und schlossen diese seltener
ab (0,36 ± 0,48 vs. 0,56 ± 0,51; t (35) = 1,47; n. s.), auch diese Unterschiede waren
nicht signifikant. Die abstinenten Phasen nach Behandlung dauerten bei sexuell missbrauchten
Frauen kürzer an als in der Vergleichsgruppe (7,51 ± 8,78 vs. 10,58 ± 2,34; t (72)
= 1,09; n. s.).
Ein Ergebnis, das im Zusammenhang mit suizidalen Tendenzen (s. a. Tab. [5]) von Interesse ist, findet sich hinsichtlich der Überdosierungen. Während sexuell
missbrauchte Frauen ungewollte Überdosierungen nicht signifikant häufiger angaben
als nicht sexuell missbrauchte, waren diese Unterschiede bei gewollten Überdosierungen
signifikant.
Sexuell missbrauchte Frauen begannen früher Alkohol bis zur Trunkenheit zu konsumieren
und konsumierten in den letzten 30 Tagen vor Befragung häufiger Kokain. Ansonsten
fanden sich in Bezug auf die Substanzen Alkohol, Kokain und Benzodiazepine sowie hinsichtlich
Politoxikomanie keine unterschiedlichen Konsummuster bei den untersuchten Gruppen.
Einen Hinweis auf vermehrte gesundheitliche Probleme der sexuell missbrauchten Frauen
gibt die Anzahl stationärer Krankenhausbehandlungen. Hinsichtlich HIV- oder Hepatitis-Infektionen
ergaben sich keine Unterschiede zwischen den Gruppen.
Finden sich bei sexuell missbrauchten opiatabhängigen Frauen bestimmte psychische
Symptome bzw. komorbide psychiatrische Diagnosen häufiger?
Tab. 5 Psychische Probleme
| Variable |
sex. Missbrauch (n = 31) in % |
kein Missbrauch (n = 44) in % |
Statistik |
| Gedächtnis/ Konzentration |
71 |
61,4 |
n.s |
| Depression |
77,4 |
63,6 |
n. s. |
| Angst/Spannung |
77,4 |
47,7 |
[*]** |
| Halluzinationen |
22,6 |
11,4 |
n. s. |
| Gewalttätigkeit |
41,9 |
15,9 |
[*]* |
| Suizidgedanken |
80,6 |
52,3 |
* |
| Suizidversuche |
67,7 |
31,8 |
[*]*** |
|
* p ≤ 0,05
** p ≤ 0,01
*** p ≤ 0,005
|
Der sexuelle Missbrauch ist mit deutlich mehr psychischen Problemen, die nicht direkt
als Resultat des Drogen- oder Alkoholmissbrauchs bewertet wurden, assoziiert. Einerseits
wurde häufiger über Angst- und Spannungszustände berichtet. Andererseits scheint eine
erhöhte Schwierigkeit, eigenes gewalttätiges Verhalten zu kontrollieren, im Zusammenhang
mit sexuellem Missbrauch zu stehen. Es fand sich ein erhöhtes Vorkommen sowohl von
Suizidgedanken als auch Suizidversuchen.
Tab. 6 Komorbide Diagnosen nach ICD-10
| Störungen |
sex. Missbrauch (n = 31) in % |
kein Missbrauch (n = 44) in % |
Statistik |
| F2 Schizophrenie |
- |
- |
|
| F25 schizoaffektive |
6,5 |
- |
[*]* |
| F3 affektive |
54,8 |
36,4 |
n. s. |
| F40 phobische |
67,7 |
34,1 |
** |
| F44 dissoziative |
16,1 |
4,5 |
* |
| F4 neurotische/ Belastungs-/ somatoforme |
74,2 |
40,9 |
[*]** |
| F5 Essstörungen |
12,9 |
4,5 |
n. s. |
|
* p ≤ 0,1
** p ≤ 0,005
|
Sexueller Missbrauch im Zusammenhang mit Opiatabhängigkeit vergrößert bei Frauen insbesondere
das Risiko einer komorbiden neurotischen/Belastungs- und/oder somatoformen (ICD-10;
F4) Störung. Am deutlichsten zeigte sich dieses Ergebnis hinsichtlich phobischer Störungen.
Hinsichtlich schizoaffektiver (F25), affektiver (F3), dissoziativer (F44) und Essstörungen
(F5) zeigten sich in der statistischen Analyse nur Trends.
Diskussion
Diskussion
Wir haben mit Hilfe des EuropASI, der als Screening-Instrument zur Erfassung sexuellen Missbrauchs [19] verwendet wurde, eine Prävalenz von 41,3 % bei der untersuchten Gesamtstichprobe
erhoben. Obwohl es sich eher um eine weite Definition („sexuelle Annäherung oder erzwungene
Sexualkontakte”) handelt, bleibt gleichzeitig zu bedenken, dass bei nur einer (relativ
undifferenzierten) Frage die Prävalenzzahlen eher unterschätzt werden [21]. Die Größenordnung entspricht aber anderen Ergebnissen aus dem deutschen Sprachraum
und liegt deutlich über der der Normalbevölkerung [12]. Die Koexistenz mehrerer Traumatisierungsformen erhöht das Risiko psychischer Störungen.
Obwohl physische und emotionale Traumatisierungen bei sexuell missbrauchten wie nicht
missbrauchten häufig waren, hatten über 90 % der sexuell missbrauchten Frauen im Laufe
ihres Lebens die beiden anderen Formen der Traumatisierung zusätzlich erlebt. Anhand
der zusätzlichen narrativen Angaben zu den drei wichtigsten Konfliktbereichen, die
in den meisten Fällen mit der quantitativen Erhebung zu sexuellen oder physischen
Traumatisierungen kongruent angegeben wurden, lässt sich absehen, dass viele Frauen
innerhalb der Familie (insbesondere durch die Väter) sexuell missbraucht worden sind.
Mit der Einschränkung, dass keine genauen Zeitangaben für den Missbrauch vorliegen,
liegt daher dennoch nahe, dass dieser häufig vor dem Beginn des Opiatkonsums lag.
Das familiäre Umfeld der sexuell missbrauchten Frauen ist dabei stark durch den Alkoholkonsum
der Väter beeinträchtigt. Dem Alkohol kommt in diesem Zusammenhang möglicherweise
eine aggressionsfördernde bzw. Hemmungen abbauende Wirkung zu. Die Mütter hingegen
leiden häufiger unter psychischen Problemen und konsumieren mehr Drogen. Viele Verlaufsparameter
der Opiatabhängigkeit zeigten keine Unterschiede zwischen missbrauchten und nicht
missbrauchten Frauen. Dies stützt die Ergebnisse von Jarvis [10], die im Gegensatz zu früheren Studien ebenfalls keinen früheren Beginn oder größeren
Schweregrad der Abhängigkeit bei sexuell missbrauchten Frauen nachweisen konnte. Ein
neues Ergebnis konnten wir hinsichtlich der Überdosierungen feststellen. Sexuell missbrauchte
Frauen berichteten häufiger, sich bewusst Überdosierungen verabreicht zu haben. Dies
scheint in Verbindung mit den suizidalen Tendenzen dieser Gruppe von großer Bedeutung
und ist in diesem Zusammenhang in bisherigen Studien unseres Wissens nach nicht beschrieben
worden.
Ein im Zusammenhang mit der familiären Situation wichtiges Ergebnis, das andere Studien
bestätigt, ist die schlechtere Schulbildung der Gruppe der sexuell missbrauchten Frauen
(vgl. [10]). Sexuell missbrauchte Frauen gaben längere Phasen von Arbeitslosigkeit an als nicht
missbrauchte. Gleichzeitig gibt es mehr Mütter unter den sexuell missbrauchten Frauen.
Über 50 % der Missbrauchsgruppe gaben Prostitution als Geldquelle an. Anzunehmen sind
hier auch aktuelle (26,7 % gaben an, in den letzten 30 Tagen sexuell missbraucht worden
zu sein) und zukünftige sexuelle Traumatisierungen und ein erhöhter Schweregrad der
Abhängigkeit. Der Anteil an Prostituierten in der Gesamtstichprobe war mehr als doppelt
so hoch wie in einer Londoner Studie von Gossop et al. [15]. Die Ergebnisse von Liebschutz et al. [22] konnten teilweise in unserer Stichprobe wiederholt werden, wonach sexuell missbrauchte
Frauen häufiger wegen körperlicher Probleme stationär im Krankenhaus aufgenommen wurden
als die Frauen der Vergleichsgruppe.
Es gibt eine Reihe von Untersuchungen, die zeigen, dass Angst und Angstäquivalente
zu den Folgen von Missbrauchserleben gehören. Eine Untersuchung von Sedney und Brooks
[23] zeigt, dass Angst besonders bei in ihrer eigenen Familie missbrauchten Frauen häufiger
auftritt. In der hier untersuchten Gruppe opiatabhängiger Frauen finden sich sowohl
berichtete Angst- und Spannungszustände als auch nach ICD-10 klassifizierte phobische
Störungen. Auch diese Ergebnisse legen den Verdacht des Missbrauchs in der eigenen
Familie nahe. Wie sich der Zusammenhang inhaltlich darstellt, sollte Gegenstand zukünftiger
Forschung sein.
Insbesondere hinsichtlich Depressivität und affektiver Störungen konnten wir die Ergebnisse
anderer Studien nicht bestätigen. In unserer Untersuchung zeigte sich allenfalls ein
Trend hin zu mehr depressiver Symptomatik. Ein Coping-Mechanismus bei frühen Traumatisierungen
ist Dissoziation. Auch für dissoziative Störungen konnte in unserer Untersuchung nur
ein Trend nachgewiesen werden.
Methodische Einschränkungen dieser Untersuchung betreffen insbesondere die Erhebung
des sexuellen Missbrauchs. Zwar scheint der ASI als Screening-Instrument geeignet,
wünschenswert ist aber eine differenziertere Erhebung. Der ASI bot jedoch den Vorteil,
dass er ein weit verbreitetes Untersuchungsinstrument ist, das eine Vergleichbarkeit
mit anderen Studien gewährleistet.
Es existieren verschiedene Erklärungsmodelle zum Zusammenhang zwischen Missbrauchserfahrungen
und Sucht. Kreyssig [12] ist der Meinung, dass der Missbrauch von Suchtmitteln Schutz vor den negativen Gefühlen
infolge des Missbrauchs bedeutet und damit als eine Art Überlebensstrategie zu verstehen
ist. In diesem Sinne ist auch die Annahme zu verstehen, dass missbrauchte Frauen Suchtmittel
im Sinne einer Selbstmedikation benutzen, um negative Affektzustände wie Angst und
Depression zu bewältigen [8]
[24]. Die Stigmatisierung durch den Drogenkonsum, die schwierigen Lebensbedingungen vieler
abhängiger Frauen sowie die Möglichkeit eigener erhöhter Aggressionsbereitschaft in
Konfliktsituationen könnten weitere Erklärungen für ein erhöhtes Risiko für traumatisierende
Lebensereignisse bilden [25].
Insgesamt zeigen die Ergebnisse dieser Untersuchung, dass Einfluss und Zusammenhang
von sexuellem Missbrauch und Opiatabhängigkeit komplex sind und durch verschiedene
andere Traumata sowie elterliche Suchterkrankungen moderiert werden. Deutlich wird
aber auch, dass es sich um eine Gruppe handelt, die mit besonderen Risikokonstellationen
(häufiger psychische Störungen, Suizidalität, Überdosierungen, Prostitution, körperliche
Probleme) besondere Behandlungsstrategien erforderlich macht. Dazu müssen Missbrauchserfahrungen
exploriert und in Behandlungskonzepte einbezogen und funktionale Zusammenhänge zwischen
Sucht und sexuellen Traumatisierungen erfasst werden.
Literatur