Angesichts der Kostendiskussion, der Diskussion um Priorisierung und
Rationierung von Leistungen im Gesundheitswesen sowie der im bioethischen
Diskurs zu Tage getretenen sozialen Spannungen und moralischen Verwerfungen
erscheint eine Auseinandersetzung mit dem Schicksal derjenigen Patienten, die
als „Schwächste” am Rande der Gesellschaft leben, besonders
notwendig. Denn es geht im Antlitz des Anderen keineswegs nur um das Schicksal
der Betroffenen, sondern zugleich auch um uns selbst und um unsere
Selbstachtung [1]. Darin sind wir - um an Viktor
von Weizsäckers „Sympathetik allen Lebendigens”
[2] zu erinnern - als Menschen untereinander wie
auch mit anderen Lebenswesen gleich, dass wir verletzlich sind und unser Leben
endlich ist.
Ich möchte Ihnen eine Übersicht geben über die Lage
neurologisch schwerstgeschädigter Patienten im Koma und Wachkoma im
Spannungsfeld von Beziehungs- und Biomedizin. Ich werde versuchen,
nachvollziehbar darzustellen, warum eine genaue Wahrnehmung und
Beschäftigung mit schwerst hirngeschädigten Menschen und eine
ethisch-moralische Rückbindung auf diese „Schwächsten aller
Schwachen” lehrreiche Erkenntnisse freisetzen, die für eine neue
soziale Wahrnehmung und Aufmerksamkeit, ein neues soziales Gewissen und eine
neue solidarische Haltung mit beziehungsethischen Handlungsleitsätzen
genutzt werden können [3]
[4]
[5]
[6].
Der Gang meiner Argumentation wird folgendermaßen sein:
Zuerst werde ich Ihnen das polare Spannungsfeld
zwischen Beziehungs- und Biomedizin aufzeigen und eine Übersicht über
die daraus resultierenden menschenmöglichen Umgangsformen mit
Wachkoma-Patienten geben [4]. Dabei werde ich in
besonderem Maße darstellen, wozu die folgenschweren Wandlungen des
Biologiebegriffs geführt haben [7], wie wir sie
heute in Gestalt einer sehr einseitigen, biotechnisch sehr erfolgreichen und
machtvollen, aber humanmedizinisch äußerst zurückgebliebenen
Biomedizin vorfinden. In einem zweiten Schritt werde
ich aus beziehungsmedizinischer Sicht das Menschenbild vom schwerst
hirngeschädigten Patienten als verletzliches und soziales Wesen
entwickeln. Ich werde anhand von klinischen Erfahrungen demonstrieren, wie
durch empathisches Wahrnehmen und Lesen im „Buch des
Körpers” von Wachkoma-Patienten ein unmittelbarer Dialogaufbau
möglich ist, gestützt auf kleine Zeichen und Regungen im verdeckten
und offenen Verhalten („Biosemiologie”,
„Körpersemantik”) [8]
[9]. In einem dritten Schritt werde
ich dann in Anlehnung an das neue WHO-Konzept [10] ein
Verständnis von Rehabilitation darstellen, welches vom
Zwei-Personen-Dialog über das Rehateam unter Einbezug der Angehörigen
und des sozialen Umfelds konsequent zur Entwicklung von Trialog-Foren
übergeht, d. h. Rehabilitation als Förderung von
Autonomie-Entwicklung und konsequente Befähigung zur sozialen Teilhabe und
sozialen Reintegration versteht. Das Problem der Wachkoma-Patienten und ihren
mitgeschädigten Angehörigen kann erst auf diese Weise aus der intimen
Privatheit und Abgeschiedenheit der überlasteten Familien ins
öffentliche Bewusstsein gehoben und als soziales
Problem verhandelt werden. Übrigens verstehe ich diese Tagung hier als ein
solches Trialog-Forum [6]. Abschließend werde ich einige beziehungsethische
Handlungsleitsätze zum „Gut-Menschsein” [11] und eine neue solidarische Haltung im Umgang mit
Wachkoma-Patienten formulieren.
1 Vortrag zum Greifswalder Symposium „Die Versorgung des
apallischen Patienten”, veranstaltet vom Institut für Medizinische
Psychologie der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald (Prof. Dr. H.-J.
Hannich) und dem Neurologischen Rehabilitationszentrum Greifswald (Chefarzt Dr.
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Korrespondenzanschrift
Priv.-Doz. Dr. med. Andreas Zieger
Evangelisches Krankenhaus Oldenburg, Station für
Schwerst-Schädel-Hirngeschädgte (Frührehabilitation)