intensiv 2002; 10(6): 261-274
DOI: 10.1055/s-2002-35516
Intensivmedizin
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Der neurologisch schwerstgeschädigte Patient im Spannungsfeld zwischen Bio- und Beziehungsmedizin[*]

Andreas Zieger
  • 1Evangelisches Krankenhaus Oldenburg, Abt. für Schwerst-Schädel-Hirngeschädigte (Frührehabilitation)
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Publication Date:
18 November 2002 (online)

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Einleitung

Angesichts der Kostendiskussion, der Diskussion um Priorisierung und Rationierung von Leistungen im Gesundheitswesen sowie der im bioethischen Diskurs zu Tage getretenen sozialen Spannungen und moralischen Verwerfungen erscheint eine Auseinandersetzung mit dem Schicksal derjenigen Patienten, die als „Schwächste” am Rande der Gesellschaft leben, besonders notwendig. Denn es geht im Antlitz des Anderen keineswegs nur um das Schicksal der Betroffenen, sondern zugleich auch um uns selbst und um unsere Selbstachtung [1]. Darin sind wir - um an Viktor von Weizsäckers „Sympathetik allen Lebendigens” [2] zu erinnern - als Menschen untereinander wie auch mit anderen Lebenswesen gleich, dass wir verletzlich sind und unser Leben endlich ist.

Ich möchte Ihnen eine Übersicht geben über die Lage neurologisch schwerstgeschädigter Patienten im Koma und Wachkoma im Spannungsfeld von Beziehungs- und Biomedizin. Ich werde versuchen, nachvollziehbar darzustellen, warum eine genaue Wahrnehmung und Beschäftigung mit schwerst hirngeschädigten Menschen und eine ethisch-moralische Rückbindung auf diese „Schwächsten aller Schwachen” lehrreiche Erkenntnisse freisetzen, die für eine neue soziale Wahrnehmung und Aufmerksamkeit, ein neues soziales Gewissen und eine neue solidarische Haltung mit beziehungsethischen Handlungsleitsätzen genutzt werden können [3] [4] [5] [6].

Der Gang meiner Argumentation wird folgendermaßen sein: Zuerst werde ich Ihnen das polare Spannungsfeld zwischen Beziehungs- und Biomedizin aufzeigen und eine Übersicht über die daraus resultierenden menschenmöglichen Umgangsformen mit Wachkoma-Patienten geben [4]. Dabei werde ich in besonderem Maße darstellen, wozu die folgenschweren Wandlungen des Biologiebegriffs geführt haben [7], wie wir sie heute in Gestalt einer sehr einseitigen, biotechnisch sehr erfolgreichen und machtvollen, aber humanmedizinisch äußerst zurückgebliebenen Biomedizin vorfinden. In einem zweiten Schritt werde ich aus beziehungsmedizinischer Sicht das Menschenbild vom schwerst hirngeschädigten Patienten als verletzliches und soziales Wesen entwickeln. Ich werde anhand von klinischen Erfahrungen demonstrieren, wie durch empathisches Wahrnehmen und Lesen im „Buch des Körpers” von Wachkoma-Patienten ein unmittelbarer Dialogaufbau möglich ist, gestützt auf kleine Zeichen und Regungen im verdeckten und offenen Verhalten („Biosemiologie”, „Körpersemantik”) [8] [9]. In einem dritten Schritt werde ich dann in Anlehnung an das neue WHO-Konzept [10] ein Verständnis von Rehabilitation darstellen, welches vom Zwei-Personen-Dialog über das Rehateam unter Einbezug der Angehörigen und des sozialen Umfelds konsequent zur Entwicklung von Trialog-Foren übergeht, d. h. Rehabilitation als Förderung von Autonomie-Entwicklung und konsequente Befähigung zur sozialen Teilhabe und sozialen Reintegration versteht. Das Problem der Wachkoma-Patienten und ihren mitgeschädigten Angehörigen kann erst auf diese Weise aus der intimen Privatheit und Abgeschiedenheit der überlasteten Familien ins öffentliche Bewusstsein gehoben und als soziales Problem verhandelt werden. Übrigens verstehe ich diese Tagung hier als ein solches Trialog-Forum [6]. Abschließend werde ich einige beziehungsethische Handlungsleitsätze zum „Gut-Menschsein” [11] und eine neue solidarische Haltung im Umgang mit Wachkoma-Patienten formulieren.

1 Vortrag zum Greifswalder Symposium „Die Versorgung des apallischen Patienten”, veranstaltet vom Institut für Medizinische Psychologie der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald (Prof. Dr. H.-J. Hannich) und dem Neurologischen Rehabilitationszentrum Greifswald (Chefarzt Dr. Treig), am 2. und 3. Juni 2000.