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DOI: 10.1055/s-2002-36030
Neuropsychologie der multiplen Sklerose
Neuropsychology of Multiple Sclerosis- Zusammenfassung
- Abstract
- Einleitung
- Neuropsychologische Diagnostik
- Aufmerksamkeitsstörungen und Chronic-Fatigue-Syndrom
- Gedächtnis
- Allgemeine Intelligenzleistungen
- Kognitive Flexibilität
- Läsionssitus, Atrophie und kognitive Defizite
- Zusammenfassung
- Literatur
Zusammenfassung
Kognitive Störungen sind im Rahmen einer multiplen Sklerose häufig. Sie betreffen insbesondere die Bereiche der Aufmerksamkeit des Gedächtnisses und der mentalen Flexibilität. Patienten mit einem chronisch-progredienten Krankheitsverlauf haben in der Regel eine deutlichere Ausprägung dieser Defizite. Kognitionsstörungen sind weniger mit dem Behinderungsgrad als vielmehr mit der Hirnaffektion (Läsionsausmaß und Atrophiegrad) korreliert. Aufgrund ihrer hohen Alltagsrelevanz sollten kognitive Defizite in Zukunft auch im Rahmen von Therapiestudien als relevante Outcome-Parameter mehr Berücksichtigung finden.
#Abstract
Cognitive dysfunctions are common in multiple sclerosis. Attention, memory, and mental flexibility were most pronounced in cognitive domains vulnerable to MS. Patients with progredient multiple sclerosis have a more distinct occurence of this deficits. Cognitive dysfunctions correlate only modestly with the level of disability but are strongly related to lesion burden and brain atrophy. Because of their impact on daily life cognitive deficits should become a relevant outcome parameter in future studies.
#Einleitung
Die multiple Sklerose (MS) ist eine der häufigsten neurologischen Erkrankungen des frühen und mittleren Erwachsenenalters. Bei vielen Patienten fällt der Manifestationszeitpunkt mit der Lebensperiode der beruflichen und sozialen Etablierung zusammen.
Hierbei ist die eingeschränkte Erwerbsfähigkeit von großer psychosozialer Bedeutung. Neben einer physischen Behinderung sind es insbesondere die psychologischen und kognitiven Leistungsbeeinträchtigungen, die darüber entscheiden, inwieweit ein MS-Patient trotz dieser Erkrankung einer Erwerbstätigkeit im vollen oder reduzierten Umfange nachgehen kann. Aktuellere Studien heben hierbei insbesondere den kognitiven Status als wichtigen Prädiktor für den Verbleib in der Arbeitswelt hervor [1].
#Neuropsychologische Diagnostik
Die klinische Neuropsychologie befasst sich mit der Erfassung und Behandlung von zentralnervös bedingten Störungen der kognitiven Leistungsfähigkeit. Dabei sind Vigilanz, Konzentration und Aufmerksamkeit, geistiges Tempo, Sprache, Gedächtnis, mentale Flexibilität und Problemlösungsfähigkeit wesentliche Komponenten dieses kognitiven Gefüges. Die Leistungsfähigkeit innerhalb dieser verschiedenen Bereiche kann in der klinischen Praxis mittels neuropsychologischer Tests erfasst werden. Kognitive Störungen können - je nach zugrunde liegender Hirnaffektion - entweder zu Teilleistungsstörungen oder zu globalen Hirnleistungsdefiziten führen.
Entgegen veralteter Annahmen erreichen neuropsychologische Globalsyndrome bei MS-Patienten selten das Ausmaß einer Demenz. Vielmehr finden sich häufiger Aufmerksamkeits- und Gedächtnisstörungen sowie Beeinträchtigungen der mentalen Flexibilität. Aktuelle Studien gehen von einer Vorkommenshäufigkeit dieser Defizite bei ca. 50 % der MS-Patienten aus (Abb. [1]). Da kognitive Defizite im Krankheitsverlauf für individuelle private und berufliche Zukunftsplanung entscheidend sind, und auch die Lebensqualität mitbeeinflussen, ist eine neuropsychologische Diagnostik nicht nur im neurorehabilitativen Sektor, sondern bereits im neurologisch-akutklinischen Bereich von besonderer Wichtigkeit.
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Abb. 1 Prozentuale Häufigkeit kognitiver Dysfunktionen bei multipler Sklerose nach Rao et al. [17].
Die therapeutische Compliance kann über kognitive Leistungsaspekte ebenfalls optimiert werden, und dieser Aspekt gewinnt dementsprechend auch bei der Einschätzung pharmakotherapeutischer Effizienz sowohl im Individualfall als auch im Rahmen kontrollierter Studien zunehmend an Bedeutung. Im Folgenden wird die Erfassung der kognitiven Leistungsfähigkeit anhand der spezifischen neuropsychologischen Partialleistungen, soweit diese im Rahmen der bei multipler Sklerose auftretenden kognitiven Störungen wesentlich sind, dargestellt.
#Aufmerksamkeitsstörungen und Chronic-Fatigue-Syndrom
Aufmerksamkeitsleistungen sind von grundlegender Bedeutung für eine effektive Informationsverarbeitung. Nach modernem Verständnis lassen sich verschiedene Aufmerksamkeitsbereiche unterscheiden, die je nach Art, Ausmaß und Lokalisation einer Hirnschädigung im unterschiedlichen Maße beeinträchtigt sein können.
Die Aktiviertheit (oder „alertness”) bezieht sich auf die allgemeine Wachheit („tonische alertness”), einschließlich der Fähigkeit, diese im Hinblick auf einen erwarteten Reiz zu steigern („phasische alertness”). Mit selektiver Aufmerksamkeit ist die Fähigkeit gemeint, sich auf einen bestimmten Reiz zu konzentrieren und dabei irrelevante Gesichtspunkte oder Störreize erfolgreich zu unterdrücken. Dagegen ist unter geteilter Aufmerksamkeit die Fähigkeit zu verstehen, mehrere Reizbedingungen simultan zu beachten. Unter Vigilanz wird die Fähigkeit zur Aufrechterhaltung eines Aufmerksamkeitsfokus unter Anstrengung (entgegen einer Ermüdungstendenz) verstanden. Hierbei wird, je nach Reizdichte, zwischen Vigilanz im engeren Sinne (d. h. wenige, über einen längeren Zeitraum verteilte Reize, z. B. Radarbeobachtungssituation) und Daueraufmerksamkeit (d. h. viele, in kurzer Zeit aufeinander folgende Reize, z. B. Fließbandtätigkeit) unterschieden.
Durch computergesteuerte Verfahren lassen sich diese verschiedenen Aufmerksamkeitsbereiche recht zuverlässig erfassen, wobei dies meist über die Messung von differenziellen Reaktionszeiten geschieht. In verschiedenen Studien konnte gezeigt werden, dass Störungen in den genannten Aufmerksamkeitsbereichen einerseits vom Behinderungsgrad und der affektiven Lage unabhängig auftreten, andererseits bereits im Zuge leichter kognitiver Beeinträchtigungen vorhanden sein können. Hierbei ist nicht die Aufmerksamkeitsspanne reduziert, sondern eher die komplexen Aufmerksamkeitsleistungen betroffen [2].
Auch bei kognitiv nicht beeinträchtigten MS-Patienten kann im Einzelfall mit zunehmender Testdauer eine Zunahme der Reaktionslatenzen beobachtet werden, was als Ausdruck einer erhöhten Ermüdbarkeit aufgefasst werden kann [3]. Ausgeprägte und länger andauernde, bzw. periodisch wiederkehrende, Phasen der Ermüdbarkeit werden unter dem definitorisch nicht einheitlich verwendeten Begriff des „Chronic-Fatigue-Syndroms” (CFS) subsumiert. Das Chronic-Fatigue-Syndrom kann im Rahmen der MS unabhängig von neurologischen Beeinträchtigungen bestehen und wird von 40 % der MS-Patienten als Hauptbeschwerde angegeben.
In der Abgrenzung von MS-Patienten mit CFS gegenüber anderen, nicht an einer MS erkrankten CFS-Patienten zeigt sich, dass MS-Patienten mit CFS-Beschwerden häufiger kognitiv beeinträchtigt sind, ihre Stimmungslage dagegen deutlich weniger depressiv gefärbt ist. Häufig werden zur Objektivierung von CFS-bezogenen Beschwerden sowie zur Erfassung von depressiven Zustandsbildern Fragebogen herangezogen, was nicht unproblematisch ist, da viele Depressionsfragebogen einen hohen „somatischen Load” aufweisen und diese Fragebogen somit die körperlichen Beschwerden als Ausdruck einer Depression in den Vordergrund stellen können. Bei MS-Patienten kann dies aufgrund der krankheitsinhärenten somatischen Defizite zu einer Überbewertung des affektiven Zustandsbildes führen.
#Gedächtnis
Gedächtnisstörungen finden sich bei ca. 30 - 50 % der MS-Patienten. Am ehesten ist hierbei das sog. Arbeitsgedächtnis („working-memory” oder „online-memory”) betroffen, d. h. während die Behaltensspanne weitgehend intakt ist, haben die betroffenen Patienten haben Mühe, mehrere, zur Erfassung einer Information notwendigen Schritte parallel auszuführen (vgl. Abb. [2 a]). Dieses ist insofern von hoher alltagspraktischer Bedeutung, als dass derartige Anforderungen insbesondere an hochtechnisierte Arbeitsplätze oft gestellt werden. Praktisch macht sich eine reduzierte Arbeitsgedächtniskapazität als „Lernschwierigkeit” bemerkbar, d. h. infolge eines eingeschränkten Arbeitsgedächtnisses kommt es zu einer reduzierten Lernleistung (Abb. [2 b]). Die auf einer eingeschränkten Arbeitsgedächtniskapazität basierende Reduktion der Lernfähigkeit spiegelt sich auch in einem veränderten „seriellen Positionseffekt” wider (vgl. Abb. [2 c]). Während bei der freien Wiedergabe einer längeren Wortliste bei gesunden Probanden insbesondere die zuerst gehörten Worte (so genannte „primacy-effect” - spiegelt den Anteil der Worte die in das Langzeitgedächtnis transferiert wurden wider) und die zuletzt gehörten Worte wiedergegeben werden (so genannte „recency-effect” - spiegelt den Anteil der noch im Kurzzeitgedächtnis vorhandenen Worte wider), findet sich bei MS-Patienten (insbesondere mit einem chronisch-progredienten Krankheitsverlauf) eine Abflachung des „primacy-effects”. Dies kann als mangelnde Transferleistung in das Langzeitgedächtnis auf der Grundlage einer reduzierten Arbeitsgedächtniskapazität interpretiert werden.
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Abb. 2 Auswirkungen kognitiver Defizite auf das Arbeitsgedächtnis bei Patienten mit multipler Sklerose (Erläuterungen s. Text).
Die verbale Merk- und Lernfähigkeit kann beispielsweise über verbale Lern- und Merkfähigkeitstest erfasst werden (Erlernen von Wortlisten). Mit speziellen Testbatterien kann man verschiedene Aspekte von Lernen und Gedächtnis erfassen. Hier sind insbesondere die revidierte Wechsler-Memory-Scale (WMS-r) [4] sowie der Rivermead Behavioural Memory Test (RBMT) zu nennen [5]. Mit der WMS-r lassen sich vielfältige Aspekte der Aufmerksamkeit, des verbalen und sprachfreien Kurzzeit- und Langzeitgedächtnisses sowie der Lernkapazität erfassen. Eine detaillierte Beschreibung oben genannter Verfahren zur Erfassung der Gedächtnisleistungen findet sich bei Calabrese [6]. Auch die visuell-räumlichen Gedächtnisleistungen werden bei MS-Patienten nahezu konsistent als reduziert beschrieben und in einigen Untersuchungen als vergleichsweise schlechter als die Verballeistungen angegeben. Insgesamt sind die Gedächtnisstörungen bei Patienten mit einem chronischen Verlauf häufiger und in ihrer Qualität deutlicher ausgeprägt [7].
#Allgemeine Intelligenzleistungen
Die sprachlichen Leistungen von MS-Patienten sind in der Regel nicht beeinträchtigt, so dass Sprachstörungen bei MS-Patienten eher eine Ausnahmeerscheinung bleiben. Dies liegt daran, dass Sprache im Gehirn weit verzweigt repräsentiert ist. Dementsprechend können vordergründig gute Verballeistungen von tatsächlich vorhandenen intellektuellen Defiziten ablenken können.
Ziel der Durchführung eines Intelligenztests bei MS-Patienten sollte jedoch nicht allein die Bestimmung eines IQ-Wertes sein, sondern die differenzielle Erfassung verschiedener intellektueller Leistungsbereiche im Sinne einer „Profildarstellung”. Gleichzeitig wird aus der vorangegangenen Argumentation deutlich, dass eine Einschätzung der intellektuellen Leistungsfähigkeit nicht allein auf verbal orientierten Testverfahren basieren sollte.
Als Diagnostikum eignet sich hierfür beispielsweise der reduzierte Wechslersche Intelligenztest (WIP) [8]. Diese in der klinischen Praxis gut eingeführte Testbatterie erlaubt eine verhältnismäßig zeitökonomische Darstellung des intellektuellen Leistungsspektrums anhand einer Auswahl verbaler und anschauungsgebundener bzw. visuokonstruktiver Subtests.
Bei Anwendung dieses Verfahrens zeigen sich deutliche, vom MS-Verlaufstyp abhängige Unterschiede: Während Patienten mit einem chronischen Verlauf eher eine allgemeine, homogene Reduktion über sämtliche Leistungsbereiche aufweisen, zeigen sich bei den Patienten mit schubförmigem Verlauf größere Leistungsvarianzen.
Hinsichtlich der Progredienz der allgemeinen kognitiven Leistungsfähigkeit konnte gezeigt werden, dass bereits das Ausgangsprofil der geistigen Leistungsfähigkeit Aussagen über deren Stabilität über die Zeit erlaubt [9]. Dementsprechend sind eingehende neuropsychologische Untersuchungen zu einem frühestmöglichen Zeitpunkt indiziert.
#Kognitive Flexibilität
Problemlösendes Denken und sequenzielle Handlungskontrolle, d. h. die zur Erstellung eines prospektiven Handlungsentwurfes sowie zur Gewährleistung einer situationsadäquaten Verhaltensanpassung aufeinander bezogenen Teilschritte werden unter dem Begriff der „kognitiven Flexibilität” subsumiert.
Klinisch lassen sich solche Teilleistungen mit Planungs- und Kategorisierungsaufgaben erfassen. Hierzu gehört beispielsweise der Wisconsin-Card-Sorting-Test (WCST) [10], bei welchem eine Serie von Karten nach bestimmten Kriterien sortiert werden müssen, wodurch sich der Flexibilitätsaspekt anhand der Strategie beim Sortieren erfassen lässt. Eine weitere Aufgabe zur Überprüfung des vorausschauenden Planungsverhaltens ist der „Turm-von-Hanoi”, eine Problemlösungsaufgabe, bei welcher verschieden große, aufeinander liegende Scheiben von einer Ausgangsposition durch einzelne, zu planende Züge über eine Zwischenstation unter Beachtung bestimmter Regeln in eine bestimmte Endposition gebracht werden müssen. Auch hier lassen sich über die Auszählung der benötigten Züge sowie der Regelverstöße Rückschlüsse auf die zielorientierte Koordination und abstrakte Problemlösungsfähigkeit ziehen.
Es muss jedoch betont werden, dass die Alltagsanforderungen bei solchen Verfahren nur unzureichend abgebildet werden. Die Ergebnisse derartiger Tests bei MS-Patienten zeigen, dass insbesondere das zerebrale und hier insbesondere frontale Befallsmuster und weniger das Läsionsvolumen eine Rolle zu spielen scheint [11]. Damit bestätigt sich auch an dieser Patientenpopulation die notwendige Funktionsintegrität des Frontalhirns sowohl für koordinative als auch für abstrakte Denkoperationen. Trotz der kritischen, koordinativen Rolle des Frontalhirns bei der Ausführung komplexer Handlungsabfolgen sind darüber hinaus auch Gedächtnis- und Verbalisationsprozesse und damit auch andere, mit der Frontalregion verbundene Hirnstrukturen beteiligt, so dass die Diagnose „Frontalhirnsyndrom” eine unzulässige Verkürzung darstellen würde. Vielmehr sollte auf neuropsychologisch-verhaltensneurologischer Ebene mit Bezug auf die verhaltensrelevanten Planungs-, Handlungs- und Koordinierungsdefizite der deskriptive Terminus „Dysexekutivsyndrom” gebraucht werden.
#Läsionssitus, Atrophie und kognitive Defizite
Während kognitive Beeinträchtigungen kaum mit dem Behinderungsgrad korreliert sind, zeigt sich ein deutlicher Zusammenhang zwischen Läsionsmuster und kognitivem Leistungsprofil. Hierbei führen extensive, periventrikuläre Läsionen zu einer allgemeinen Leistungsreduktion. Das Läsionsvolumen allein ist jedoch nicht für die spezifischen neuropsychologischen Symptome verantwortlich. Vielmehr kommt es hier auf die Läsionsverteilung an. So können neurologisch „stumme”, juxtakortikale Läsionen die kognitive Leistungsfähigkeit erheblich beeinträchtigen [12]; räumlich disseminierte und zeitlich auf einander folgende, kortexnahe Läsionen dagegen langfristig zu multiplen Unterbrechungen kortikokortikaler Verbindungen führen und mit den kortiko-subkortikal netzwerkartig angelegten Informationsverarbeitungssystem interferieren.
Das tatsächliche Läsionsausmaß wird im Rahmen einer routinemäßigen MRT-Untersuchung eher unterschätzt und kann mittels spezieller MRT-Sequenzen reliabler zur Darstellung gebracht werden [13]. Patienten mit einem chronisch-progredienten Krankheitsverlauf haben in der Regel deutlichere Gedächtnisstörungen sowie eine homogene, global-intellektuelle Leistungsbeeinträchtigung, während Patienten mit einem schubförmigen Verlaufstyp eine große Leistungsvariabilität aufweisen. Diese Leistungsunterschiede der MS-Subtypen erklären sich aus den unterschiedlichen zerebralen Befallsmustern und können im Rahmen eines „kognitiven Schwellenmodells” interpretiert werden [14]: Während großflächige, periventrikulär-konfluierende Läsionsmuster (die bei Patienten mit chronisch-progredientem Verlaufstyp nach langer Krankheitsdauer häufiger anzutreffen sind) sowohl zur Beeinträchtigung gedächtnisrelevanter, periventrikulär-limbisch lokalisierter Verarbeitungsschleifen als auch zu einer allgemeinen intellektuellen Nivellierung führen, können vereinzelte Läsionen dagegen - je nach Größe und Lokalisation - distinkte neuropsychologische Teilleistungsstörungen verursachen und erst ab einer quantitativen „Schwelle” zu einem generalisierten Leistungsdefizit führen.
Neben dem durch einen akuten Entzündungsprozess verursachten Axon- und Myelinverlust, über welchen sich das Läsionsausmaß bestimmt, ist auch der frühe Atrophiegrad für die Entwicklung der kognitiven Defizite entscheidend [15]. Dementsprechend gilt es, eine auf positive Beeinflussung dieser Parameter gerichtete Therapie möglichst früh im Krankheitsverlauf zu beginnen, wodurch, wie eine Studie von Fischer u. Mitarb. [16] belegt, durchaus therapeutische Effekte erzielt werden können. In dieser Phase-III-Studie wurden insgesamt 166 Studienteilnehmer vor und nach Interferon-β-1a-Therapie neuropsychologisch untersucht, wobei die Tests verschiedene Leistungsbereiche (Gedächtnis bzw. Informationsverarbeitung, räumliches Vorstellungsvermögen bzw. Problemlösung, Sprache und Aufmerksamkeitsspanne) umfassten (Abb. [3]). Darüber hinaus wurde zur kontinuierlichen Veränderungsmessung eine kurze Testbatterie mit einer Auswahl der oben genannten Verfahren alle sechs Monate durchgeführt. Es konnte gezeigt werden, dass die Interferon-β-1a-Behandlung einen deutlichen Effekt auf die Stabilisierung bestimmter kognitiver Funktionen hatte (Abb. [4]).
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Abb. 3 Veränderung verschiedener kognitiver Leistungsbereiche nach zweijähriger Therapie mit Avonex® oder Plazebo gemessen mittels einer kurzen neuropsychologischen Testbatterie [16].
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Abb. 4 Kognitive Leistungsentwicklung unter der zweijährigen Therapie mit Avonex plus Plazebo.
Zusammenfassung
Kognitive Störungen sind im Rahmen einer multiplen Sklerose häufig. Sie betreffen insbesondere die Bereiche der Aufmerksamkeit des Gedächtnisses und der mentalen Flexibilität. Patienten mit einem chronisch-progredienten Krankheitsverlauf haben in der Regel eine deutlichere Ausprägung dieser Defizite. Kognitionsstörungen sind weniger mit dem Behinderungsgrad als vielmehr mit der Hirnaffektion (Läsionsausmaß und Atrophiegrad) korreliert. Aufgrund ihrer hohen Alltagsrelevanz sollten kognitive Defizite in Zukunft auch im Rahmen von Therapiestudien als relevante Outcome-Parameter mehr Berücksichtigung finden.
#Literatur
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6 Calabrese P.
Klinisch-neuropsychologische Gedächtnisdiagnostik - Grundlagen und Verfahren. In: Markowitsch HJ (Hrsg) Enzyklopädie der Psychologie, Bd. II. Göttingen; Hogrefe 1997 - 7 Calabrese P, Haupts M, Gehlen W. Verlaufsabhängige Gedächtnisstörungen und Läsionsmuster bei multipler Sklerose. Neurol Rehabil. 2000; 6 184-188
- 8 Dahl G. Reduzierter Hamburg Wechsler Intelligenztest (WIP). Königstein; Hain-Verlag 1972
- 9 Amato M P, Ponziani G, Pracucci G. et al . Cognitive impairment in early-onset multiple sclerosis. Pattern, predictors, and impact on everyday life in a 4-year follow-up. Arch Neurol. 1995; 52 168-192
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- 12 Lazeron L HC, Langdon D W, Filippi M. et al . Neuropsychological impairment in multiple sclerosis patients: the role of (juxta) cortical lesions on FLAIR. Mult Scler. 2000; 6 280-285
- 13 Rovaris M, Filippi M, Mincucci L. et al . Cortical/subcortical disease burden and cognitive impairment in patients with multiple sclerosis. Am J Neuroradiol. 2000; 21 402-408
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14 Calabrese P.
Neuropsychologische Defizite bei entzündlichen Erkrankungen des ZNS. In: Sturm W, Herrmann M, Wallesch C-W (Hrsg) Lehrbuch der klinischen Neuropsychologie 2000. Lisse; Swets & Zeitlinger Publishers 2000 - 15 Zivanidov R, Sepcic J, Nasuelli D. et al . A longitudinal study of brain atrophy and cognitive disturbances in the early phase of relapsing-remitting multiple sclerosis. J Neurol, Neurosurg Psychiatry. 2001; 70 773-780
- 16 Fischer J S, Priore R L, Jacobs L D. et al and the Multiple Sclerosis Collaborative Research Group . Neuropsychological effects of interferon β-1a in relapsing remitting multiple sclerosis. Ann Neurol. 2000; 48 885-892
- 17 Rao S M, Leo G J, Bernardin L, Unverzagt F. Cognitive dysfunction in multiple sclerosis: I. Frequency, patterns, and prediction. Neurology. 1991; 41 685-691
Dr. med. Pasquale Calabrese
Neurologische Universitätsklinik (Knappschaftskrankenhaus) Bochum
In der Schornau 23 - 25
44892 Bochum
Literatur
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- 16 Fischer J S, Priore R L, Jacobs L D. et al and the Multiple Sclerosis Collaborative Research Group . Neuropsychological effects of interferon β-1a in relapsing remitting multiple sclerosis. Ann Neurol. 2000; 48 885-892
- 17 Rao S M, Leo G J, Bernardin L, Unverzagt F. Cognitive dysfunction in multiple sclerosis: I. Frequency, patterns, and prediction. Neurology. 1991; 41 685-691
Dr. med. Pasquale Calabrese
Neurologische Universitätsklinik (Knappschaftskrankenhaus) Bochum
In der Schornau 23 - 25
44892 Bochum
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Abb. 1 Prozentuale Häufigkeit kognitiver Dysfunktionen bei multipler Sklerose nach Rao et al. [17].
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Abb. 2 Auswirkungen kognitiver Defizite auf das Arbeitsgedächtnis bei Patienten mit multipler Sklerose (Erläuterungen s. Text).
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Abb. 3 Veränderung verschiedener kognitiver Leistungsbereiche nach zweijähriger Therapie mit Avonex® oder Plazebo gemessen mittels einer kurzen neuropsychologischen Testbatterie [16].
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Abb. 4 Kognitive Leistungsentwicklung unter der zweijährigen Therapie mit Avonex plus Plazebo.