Dtsch Med Wochenschr 2002; 127(50): 2697
DOI: 10.1055/s-2002-36117
Leserbriefe
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Arzneimittelanwendung bei Alten- und Pflegeheimbewohnern im Vergleich zu Patienten in ambulanter Pflege bzw. ohne Pflegebedarf

Zum Beitrag aus DMW 39/2002, Seite 1995-2000
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Publication Date:
29 April 2004 (online)

Die Arbeit von Pittrow et al. [10] spiegelt den derzeitigen Konflikt zwischen Wissenschaft, Krankenkassen und praktischer Medizin wider. Von den Betriebskrankenkassen gefördert, kommt der Autor zu dem Schluss, dass sich „Hinweise auf Qualitätsmängel bei der Arzneitherapie geriatrischer Patienten“ ergeben. Pittrow unterstellt den niedergelassenen Ärzten mangelnde Kompetenz, ohne die flankierenden politischen Verhältnisse zu berücksichtigen. Er zitiert willkürlich immer diejenige wissenschaftliche Quelle, die die Kompetenz der Niedergelassenen besonders negativ erscheinen lässt - ein in Deutschland im Gegensatz zu angelsächsischen und skandinavischen Ländern üblicher Brauch des universitären Elfenbeinturmes.

Die Annahme der Prävalenz von Depression in Altenheimen von „etwa einem Drittel“ beispielsweise ist willkürlich. Wettstein et al. [1] beziffern die Zahl mit 6 - 12 %, Förstl et al. mit 16,5 % bei 70- bis 79-Jährigen und 22,4 % bei über 80-Jährigen [2], wobei letztere nicht nach der Behandlungsbedürftigkeit unterscheiden. Demnach ist die Versorgung der Heimbewohner über 60 Jahren mit 13 % Anxiolytika, wie von Pittrow gefunden, ausgezeichnet.

Neuroleptika werden gerade als psychomotorisch dämpfende Medikamente in der Geriatrie empfohlen [3]. Studien über den Einsatz von Neuroleptika in der Geratrie gibt es bislang nicht, so empfehlen Förstl u.Calabrese [4] ausdrücklich deshalb ein Neuroleptikum, „mit dem der Therapeut bereits ausreichende Erfahrungen gesammelt hat.“ Angesichts dieses wissenschaftlichen Defizits bei der Verordnung von Neuroleptika können die Rückschlüsse von Pittrow et al. nicht korrekt sein. Unberücksicht bleibt bei den Analysen die finanzielle Ausstattung der Altenheime. Leider müssen Heiminsassen ruhig gestellt werden mit Neuroleptika, weil die Personaldecke aus Geldmangel so dünn ist, dass die ebenso wichtige Milieutherapie unmöglich ist. Für Schlafstörungen wird das Benzodiazepin Oxzepam ausdrücklich von allen unten zitierten Autoren empfohlen.

Die Minderversorgung mit SSRI ist nachvollziehbar. Selbstverständlich sind die Vorteile dieser Antidepressiva bekannt. Nur war 1999 noch kein einziger SSRI als Generikum frei. Bei drohendem Regress verschreibt jeder Hausarzt die preiswerteren Trizyklika.

Das Verordnungsverhalten im Hinblick auf Statine war, nicht nur unter dem Budgetzwang, 1999 völlig korrekt: Erst die im Juli 2002 erschienene Heart Protection Study [5] hat den altersunabhängigen Nutzen von Statinen nachgewiesen. Diesen Erkenntnissen zufolge müssen die Arzneimittelobergrenze bei den Betriebskrankenkassen so erhöht werden, dass wir jedem Arteriosklerose-Risikopatienten Cholesterinspiegel-unabhängig 40 mg Simvastatin verschreiben dürfen.

Der Vorwurf, zuviel Digoxin anstatt Digitoxin zu verschreiben, muss vor allem den Kliniken gegenüber erhoben werden, denn fast ausschließlich dort werden Patienten auf dieses Medikament eingestellt.

Einseitig wird auch zum Thema Schmerzen zitiert. Wettstein [1] spricht von 25-50 % der > 60-Jährigen mit mäßigen bis starken Schmerzen. Füsgen [6] gibt die gleiche Zahlen an, bemängelt aber die ausdrücklich die mangelnde Datenlage. Auch Nikolaus [7] spricht nur von Schätzungen. Die Lehrbücher [8] [9] beziehen sich auf ebenfalls auf Schätzungen . Wir wissen zu wenig über die Prävalenz des Schmerzes bei geriatrischen Patienten. Klar ist lediglich, dass die gleichbleibende Schmerzempfindung, mehr als bei jüngeren Patienten moduliert wird [7].

Die Autoren der Studie [10] zitieren willkürlich nicht evidenzbasierte Arbeiten und werfen den niedergelassenen Ärzten Qualitätsmängel vor. Besser wäre es gewesen, zunächst Geld für evidenzbasierte Leitlinien zur Versorgung von Heimbewohnern zur Verfügung zu stellen.

Literatur

  • 1 Wettstein A, Conzelmann M, Heiß H W. Checkliste Geriatrie. Georg Thieme Verlag, Stuttgart 2001: 139
  • 2 Förstl H. Therapie neuro-psychiatrischer Erkrankungen im Alter;. Urban und Fischer, München 2001: 37
  • 3 Fülgraff, Palm. Pharmakotherapie. Urban und Fischer; München 2001: 452 ff.
  • 4 Förstl H. Demenzen in Theorie und Praxis. Springer, Berlin-Heidelberg-New York 2001
  • 5 Heart Protection Study Collaborative Group . MRC/BHF Heart Ptotection Study of cholesterol lowering with simvastatin in 20 536 high risk individuals: a randomised placebo controlled trial.  Lancet. 2002;  360 7-22
  • 6 Füsgen I. Der ältere Patient. Urban und Fischer, München 2000: 644 ff.
  • 7 Nikolaus T. Klinische Geriatrie. Springer, Berlin-Heidelberg-New York 2000: 376 ff.
  • 8 Cassel C. et al .Geriatric Medicine,. Springer, Ort 1997: 865 ff.
  • 9 Brocklehurst`s Textbook of Geriatric Medicien and Gerontoloy,. Churchill and Livingstone, Edinburgh-London 1998: 1424 ff.
  • 10 Pittrow D, Krappweis J, Kirch W. Arzneimittelanwendung bei Alten- und Pflegeheimbewohnern im Vergleich zu Patienten in ambulanter Pflege bzw. ohne Pflegebedarf.  Dtsch Med Wochenschr. 2002;  127 1995-2000

Autor

Dr. med. U. F. Gundel

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