Aktuelle Dermatologie 2002; 28(11): 393-397
DOI: 10.1055/s-2002-36135
Übersicht
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Die Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten (DGBG), 1902 - 2002

The German Society for Combatting Veneral Disease (DGBG), 1902 - 2002L.  Sauerteig1
  • 1Institut für Geschichte der Medizin, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
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Dr. phil. L. Sauerteig

Institut für Geschichte der Medizin · Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Stefan-Meier-Straße 26 · 79104 Freiburg

eMail: Lutz.Sauerteig@igm.uni-freiburg.de

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
13. Dezember 2002 (online)

Inhaltsübersicht #

Zusammenfassung

Um 1900 waren Geschlechtskrankheiten zu einem der zentralen Themen der Sozial- und Gesundheitspolitik geworden. In Deutschland sahen die Zeitgenossen in der Verbreitung der Geschlechtskrankheiten ein Symptom für den sittlichen Verfall der wilhelminischen Gesellschaft. Die Gründung der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten (DGBG) im Jahre 1902 ist vor diesem Hintergrund zu sehen. Die DGBG setzte sich in erster Linie für die Aufklärung der Bevölkerung über die Gefahren der Geschlechtskrankheiten ein. Innerhalb weniger Jahre wuchs die DGBG zu einem der zentralen sozialreformerischen Vereine heran. Insbesondere in den Jahren der Weimarer Republik gelang es der DGBG, als Expertengremium in entscheidendem Maße die Grundgedanken des 1927 verabschiedeten Gesetzes zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten mitzubestimmen. 1933 hörte die DGBG auf, als eigenständiger Verein zu existieren. Viele ihrer jüdischen Mitglieder wurden Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung. Nach mehreren Anläufen gelang es nach dem Zweiten Weltkrieg, die DGBG nunmehr in erster Linie als Fachgesellschaft der Venerologen wieder zu begründen.

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Abstract

Around 1900 venereal disease had become one of the most important issues in social and health policy. Germans of that period viewed the spread of venereal disease as a symptom of the moral decay in Wilhelminian society. It was in this setting that the German Society for Combatting Venereal Disease (DGBG) was founded in 1902. Its primary objective was to enlighten the population about the risks of venereal disease. Within a few years, the DGBG grew to become one of the key associations for social reform. Particularly in the years during the Weimar Republic, as a panel of experts the DGBG succeeded in having a crucial voice in the principles governing the 1927 Venereal Diseases Act. In 1933 the DGBG ceased to exist as an autonomous association. Many of its Jewish members became the victims of Nazi persecution. Following several attempts at reviving the DGBG, it was finally founded again after World War II, primarily as an organisation of professional venereologists.

Am 19. Oktober 1902 versammelten sich mehr als 400 Personen im völlig überfüllten Bürgersaal des Berliner Rathauses. Unter den Anwesenden befanden sich Ärzte, Sozial- und Gesundheitspolitiker, staatliche und kommunale Verwaltungsbeamte, Vertreter von Krankenkassen sowie eine Reihe von Mitgliedern der Frauenbewegung und der Sittlichkeitsvereine. Sie alle waren einem Aufruf einiger der führenden deutschen Venerologen gefolgt, eine Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten zu gründen (siehe Abb. [1]).

Wie ist diese öffentliche Aufmerksamkeit für das Thema Geschlechtskrankheiten zu erklären? Um 1900 waren Geschlechtskrankheiten in vielen europäischen Ländern zu einem der zentralen Themen der Sozial- und Gesundheitspolitik geworden, so auch in Deutschland [9]. Nach Veröffentlichung erster statistischer Angaben über die Verbreitung von Syphilis und Gonorrhö im deutschen Kaiserreich erregte das Thema über die Grenzen der Fachwelt hinaus das Interesse der staatlichen Gesundheitsverwaltungen und der allgemeinen Öffentlichkeit. Die statistischen Erhebungen und insbesondere die auf ihnen basierenden Schätzungen über die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten in der Bevölkerung dienten den Zeitgenossen als Indikator für den sittlich-moralischen Verfall, für die Degeneration der wilhelminischen Gesellschaft. Ärzte und Gesundheitspolitiker illustrierten mit den Statistiken die jedem einzelnen drohende Gefahr einer venerischen Infektion. Der geschlechtskranke, gefährliche Körper war um 1900 zum Sinnbild der Versuchungen einer als verwerflich empfundenen Moderne geworden. Insbesondere die Reize der Großstadt sah man im engen Zusammenhang mit den vernichtenden Wirkungen der Geschlechtskrankheiten und fürchtete eine „venerische Durchseuchung” der Gesellschaft.

Die einzige Strategie zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten war bis dahin die zu Beginn des 18. Jahrhunderts nach französischem Vorbild eingeführte Reglementierung und sittenpolizeiliche Überwachung der Prostitution gewesen. Im Zuge von Industrialisierung und Urbanisierung war in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts jedoch die Anzahl von Prostituierten in den deutschen Großstädten so erheblich angestiegen, dass es der Sittenpolizei nicht mehr gelang, die vorgeschriebenen Kontrollen auszuführen. Überhaupt nicht bekam die Sittenpolizei die wachsende Zahl der so genannten heimlichen Prostituierten in den Griff, die sich gezielt der Überwachung entzogen oder nur gelegentlich, in ökonomischen Notlagen, der Prostitution nachgingen. Ausgehend von der bürgerlichen Frauenbewegung formierte sich bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts scharfe Kritik an der sittenpolizeilichen Überwachung. Während die Frauenbewegung die Abschaffung der staatlichen Reglementierung forderte, kritisierten Ärzte nach der Jahrhundertwende in erster Linie die medizinische Ineffektivität der Überwachungspraxis und forderten Reformen [9].

Vor diesem Hintergrund ist die Gründung der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, der DGBG, zu sehen [9]. Mit den Worten „Das Vaterland ist in Gefahr, rettet das Vaterland!” rief der oberste preußische Medizinalbeamte, Martin Kirchner (1854 - 1925), auf der Gründungsversammlung im Oktober 1902 in Berlin dazu auf, dem Verein beizutreten [7]. Die DGBG entwickelte sich in den folgenden Jahren zu einem breiten Sammelbecken unterschiedlichster politischer, weltanschaulicher und sozialer Gruppierungen, die sich mit dem Thema Geschlechtskrankheiten beschäftigten.

Zum ersten Vorsitzenden bestimmte die Gründungsversammlung 1902 den Breslauer Venerologen Albert Neisser (1855 - 1916), der 1879 den Erreger der Gonorrhö entdeckt hatte. Schatzmeister und stellvertretender Vorsitzender wurde der Vorsitzende der Berliner Dermatologischen Gesellschaft, Edmund Lesser (1852 - 1918), der 1911 wegen Arbeitsüberlastung aus dem Vorstand ausschied. Sein Nachfolger wurde der Vorsitzende der Landesversicherungsanstalt Berlin, der Jurist Richard Freund (1859 - 1941), und von 1928 bis 1933 der Präsident des Reichsversicherungsamts Hugo Schäffer (1875 - 1945). Zum Generalsekretär wählte die Versammlung 1902 den Berliner Venerologen Alfred Blaschko (1858 - 1922) (siehe Abb. [2]). Da Neisser aufgrund seiner Lehrverpflichtungen und der Leitung der Hautklinik an Breslau gebunden war und sich für längere Zeit zu Forschungszwecken auf Java aufhielt, lag die Hauptlast der Geschäftsführung bei Blaschko. Er wurde zum Motor der DGBG. Nach Neissers Tod 1916 wählte man Blaschko zum ersten Vorsitzenden.

Die DGBG sollte nach Vorstellung ihrer Gründer zum Zentrum aller Aktivitäten zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten werden. In der Satzung hieß es über den Vereinszweck, die DGBG habe die Aufgabe übernommen, „der zunehmenden Verbreitung der Geschlechtskrankheiten im deutschen Volke entgegenzuarbeiten und die durch diese Krankheiten erwachsenden Gefahren zu bekämpfen” [8].

Als wichtigstes zu lösendes Problem bezeichnete das Gründungskomitee den völlig unzureichenden Wissensstand in der Bevölkerung über Geschlechtskrankheiten und ihre Verbreitung sowie den von ihnen ausgehenden gesundheitlichen Gefahren. Die Tabuisierung dieses Themas bewirkte, dass Geschlechtskranke lange stigmatisiert wurden. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts galten Geschlechtskrankheiten im Sozialversicherungsrecht beispielsweise als selbstverschuldet zugezogene Krankheiten, für welche die Solidargemeinschaft der Versicherten nicht in vollem Umfange aufzukommen habe. Geschlechtskranken wurden aber nicht nur Versicherungsleistungen vorenthalten, in den Krankenhäusern fanden sie oftmals Bedingungen vor, die mehr an Gefängnisse denn an Heilanstalten erinnerten [9].

Die weitgehende Tabuisierung des Themas Geschlechtskrankheiten in der Öffentlichkeit bewirkte, dass es bis Anfang des 20. Jahrhunderts auch keine Aufklärungskampagnen gab. Deutlich beklagte die DGBG die in allen Schichten der Bevölkerung sowie in der Gesetzgebung, der Verwaltung und bei Krankenhäusern und Krankenkassen verbreiteten Vorurteile gegenüber Geschlechtskranken [1] [3]. Der Verein sah daher seine vordringliche Aufgabe darin, Geschlechtskrankheiten zu einem öffentlich diskutierten Thema höchster sozialpolitischer Priorität zu machen und die Stigmatisierung Geschlechtskranker zu bekämpfen. Die Satzung [8] legte das Vorgehen der DGBG fest: „Durch Rede und Schrift” wollte man „Aufklärung über Wesen, Gefahren und soziale Bedeutung der Geschlechtskrankheiten in der Bevölkerung”, besonders unter der Jugend, verbreiten. Ein zweiter großer Aufgabenbereich betraf die Erstellung und Publikation von Statistiken.

In den folgenden Jahren organisierte die DGBG eine Vielzahl von öffentlichen Tagungen zu einer großen Bandbreite von Themen, die von der Prostitution bis zur Sexualerziehung reichten. Besonders intensiv arbeitete die DGBG auf dem Gebiet der Gesundheitserziehung. In Zusammenarbeit mit anderen Organisationen und Institutionen wie den Krankenkassen, den Landesversicherungsanstalten oder dem Deutschen Hygiene-Museum in Dresden veranstalteten die DGBG und ihre Ortsvereine Vortragsabende, Gesundheitsausstellungen, Theater- und Filmaufführungen und beteiligte sich sogar selbst an der Produktion von Aufklärungsfilmen [9]. Eine besondere Bedeutung maß Neisser auch der Pressearbeit zu [6]. Durch die Beeinflussung der lokalen Zeitungen suchte man eine verstärkte Berichterstattung über Ziele und Arbeit der DGBG zu erreichen. Der Vorstand versprach sich davon nicht nur eine bessere Information der Öffentlichkeit, sondern auch kostenlose Reklame für die DGBG. Nicht zu ihren Aufgaben rechnete die DGBG etwa, den Bau und Unterhalt von Spezialkliniken zu finanzieren. Dies war ihr schon allein aufgrund der beschränkten finanziellen Mittel nicht möglich. Die DGBG beschränkte sich in ihrer Tätigkeit auf die Möglichkeiten einer Pressure-group und auf die Gesundheitsaufklärung und -erziehung.

Die DGBG trat mit zwei Zeitschriften an die Öffentlichkeit. Zum einen die vom Vorstand redigierte „Zeitschrift für Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten”, die von 1902 bis 1922 erschien. Hier wurden in erster Linie wissenschaftliche Beiträge veröffentlicht. Zum anderen das eigentliche Organ der DGBG, die „Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten”, die zwischen 1902 und 1935 vertrieben wurden. Im Sommer 1935 stellte die DGBG das Erscheinen ihrer Zeitschrift ein und verfasste ab Juni 1935 nur noch eine 8- bis 16-seitige Beilage „Sozialhygiene der Geschlechtskrankheiten” in der „Dermatologischen Wochenschrift”. Neben den Zeitschriften gab die DGBG außerdem noch eine Reihe von kleineren, preiswerten Aufklärungsschriften heraus.

In relativ kurzer Zeit wuchs die DGBG zu einem einflussreichen Verein heran. Von Berlin ausgehend gründete sie ab 1902 in rascher Folge in vielen Städten Ortsgruppen und Zweigvereine, bis Anfang 1905 insgesamt 22. Bald hatte man jedoch mit den üblichen Problemen eines Vereins zu kämpfen. Der anfängliche Enthusiasmus ließ etwas nach, und einige der Ortsgruppen scheinen wohl nur auf dem Papier bestanden zu haben. Waren in den ersten Jahren die Mitgliederzahlen emporgeschnellt, von 650 bei der Gründung 1902 auf 1200 im Januar des folgenden Jahres und 4000 1905, so drohte in den folgenden Jahren die geringere Zunahme an Mitgliedern und die damit niedriger als erwartet ausfallenden Mitgliedsbeiträge zu einem finanziellen Problem zu werden. 1912 zählte man jedoch immerhin 5000 Mitglieder. Nach dem Ersten Weltkrieg in den Jahren der Weimarer Republik stiegen die Mitgliederzahlen nochmals erheblich an; 1930 zählte man ca. 10 000 Mitglieder [9].

Die meisten Mitglieder der DGBG kamen aus den für das Bildungsbürgertum charakteristischen Berufsgruppen, aus der höheren Verwaltungsbeamtenschaft waren Universitätsprofessoren, Gymnasiallehrer, Richter, kamen aus den akademischen freien Berufen, als größte Gruppe darunter die Ärzte, waren Apotheker, Rechtsanwälte, Naturwissenschaftler, Künstler, Schriftsteller und Journalisten. Aus ihnen rekrutierte sich praktisch ausschließlich die Führungsschicht der DGBG. Das Bemerkenswerte an der DGBG war jedoch, dass sie weit über dieses bildungsbürgerliche Milieu hinaus reichte. Unter ihren Mitgliedern befanden sich auch Feministinnen und Arbeiter, letztere waren allerdings eine Minderheit. Typisch für das Agieren des Generalsekretärs Alfred Blaschko war es, alle an dem Thema Geschlechtskrankheiten Interessierte in einem Verein zusammenzuhalten, obwohl sie aus zum Teil gegensätzlichen politischen Lagern kamen - Blaschko war Sozialdemokrat, Neisser dagegen ein Nationalliberaler - und die unterschiedlichsten gesellschaftlichen und sexualmoralischen Werthaltungen vertraten. Blaschko kam es darauf an, den Streit über die Strategien zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten und die Auseinandersetzung über die diesen Strategien zugrunde liegenden Werthaltungen innerhalb der DGBG zu führen [9].

Aufgabe der Ortsgruppen der DGBG war es, Vortrags- und Diskussionsabende für die Bevölkerung zu veranstalten und sich auf der lokalen Ebene mit den Mängeln in der Gesundheitsfürsorge zu befassen sowie Verbesserungsvorschläge bei den kommunalen Behörden durchzusetzen. Die Ortsgruppen waren insbesondere aufgerufen, den Umgang der Krankenkassen mit Geschlechtskranken zu überwachen und dabei gegebenenfalls unzureichende Leistungen der Kassen öffentlich anzuprangern. Des Weiteren sollten sich die Ortsgruppen um die Erfassung und Überwachung von Laienheilkundigen kümmern und Maßnahmen zur Bekämpfung der „Kurpfuscherei” auf lokaler Ebene ergreifen. Um die lokalen Einflussmöglichkeiten auszuweiten, sollten die Mitglieder Verbindungen zu anderen Vereinen und Organisationen knüpfen, die Themen der DGBG dort propagieren und wenn möglich, in ihnen maßgebliche Positionen mit Mitgliedern der DGBG besetzen [9].

Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges stellte für die DGBG eine Zäsur dar. Äußerst pessimistisch beschrieb Alfred Blaschko die Situation der DGBG im Oktober 1914: „Der furchtbare Krieg, der jäh wie ein Blitz aus heiterem Himmel über Europa hereingebrochen ist, hat wie so viele andere kulturelle Bestrebungen auch unsere Tätigkeit lahmgelegt”. War bisher die internationale Zusammenarbeit auf Kongressen etc. ein Zeichen dafür, wie auf hygienischem Gebiet „ein jedes Volk” die Kulturarbeit des anderen zu schätzen wusste, so beklagte Blaschko nun „diesen entsetzlichen Rückfall in die tiefste Barbarei” [2]. Aber schon wenig später erkannte die DGBG, dass gerade jetzt mehr denn je ihre Tätigkeit in der Gesundheitsaufklärung der Bevölkerung gefordert war [9].

Wie schon der Anstieg der Mitgliederzahlen seit dem Ersten Weltkrieg zeigte, erlebte die DGBG in den Jahren der Weimarer Republik ihre aktivste und wichtigste Phase. Der Einsatz der DGBG für die Gesundheitsaufklärung der Bevölkerung wurde in den folgenden Jahren in steigendem Maße von den Regierungen der Länder und der Reichsregierung finanziell unterstützt [9]. Mit ihren Aufklärungskampagnen trug die DGBG ganz wesentlich dazu bei, dass Geschlechtskrankheiten zunehmend als medizinisches Problem wahrgenommen wurden und nicht mehr in erster Linie als quasi „gerechte Strafe” für sittliche Verfehlungen [10].

Zudem sah die DGBG nun ihre große Chance kommen, sich auch als Expertengremium unentbehrlich machen zu können und so den Fuß in die Tür zu bekommen, hinter der die gesundheitspolitischen Entscheidungen in den folgenden Jahren fallen sollten. Erfolgreich gelang es ihr, nicht nur an den mehr als zehnjährigen Beratungen über das Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten beteiligt zu werden, sondern in entscheidendem Maße die Grundgedanken dieses 1927 vom Reichstag verabschiedeten Gesetzes mit zu prägen. Das Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, das mit einigen Modifikationen bis zur Verabschiedung des Infektionsschutzgesetzes im Jahr 2000 im Wesentlichen gültig geblieben war, ersetzte 1927 zum einen die sittenpolizeiliche Überwachung der Prostitution durch eine bei den Gesundheitsämtern angesiedelte medizinische Kontrolle. Zum anderen schränkte es das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen über seinen Körper einschneidend ein und verschärfte die staatlichen Eingriffsrechte. Mit Hinweis auf den Schutz der Allgemeinheit, der Nation und der „Rasse” führte die Reichsregierung unter anderem eine ärztliche Behandlungspflicht für Geschlechtskranke ein und verschärfte die Möglichkeiten, Geschlechtskranke zwangsweise ärztlich behandeln zu können. Dabei konnten die Gesundheitsämter auch auf die Hilfe der Polizei zurückgreifen. Andererseits bestimmte das Gesetz auch erstmals das Recht von Patienten, solchen Therapien ausdrücklich zustimmen zu müssen, die aufgrund ihrer Nebenwirkungen eine Gefahr für ihre Gesundheit darstellen konnten (wie die Behandlung mit Quecksilber und Salvarsan) [9].

Wie weit der Einfluss der DGBG in den 1920er -Jahren schließlich reichte, wird daran deutlich, dass die Reichsregierung den neuen Vorsitzenden der DGBG, den Venerologen Josef Jadassohn (1863 - 1936), für die Zeit der Gesetzesberatungen im Reichstag zu ihrem Kommissar ernannte. Der Vorsitzende der DGBG nahm also nicht nur an den Beratungen im Reichstag teil, sondern Jadassohn musste den Regierungsentwurf zum Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten im Reichstag erläutern und vor den Abgeordneten verteidigen. Die DGBG gehörte damit zu denjenigen Vereinen, die sowohl auf dem weiten Gebiet der Sozialreform und Sozialpolitik als auch in der Reform der Gesundheitsfürsorge in der Weimarer Republik bestimmend waren [9].

Der Niedergang der DGBG begann mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten. Josef Jadassohn, den man nach Blaschkos Tod 1922 zum Vorsitzenden gewählt hatte, trat am 29. März 1933 von seinem Amt zurück. Am 11. Mai wurde auf Anweisung von Reichsinnenminister Wilhelm Frick der Jenaer Dermatologe und Vorsitzende des thüringischen Landesverbandes der DGBG, Bodo Spiethoff (1875 - 1948), als Reichskommissar eingesetzt. Wohl auf Drängen Spiethoffs, der bereits seit Anfang 1931 Mitglied der NSDAP war, trat der gesamte Vorstand der DGBG geschlossen zurück und ein Notvorstand bildete sich. 1935 wurde die DGBG zusammen mit der „Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene” und anderen Vereinen dem „Reichsausschuss für Volksgesundheitsdienst” unterstellt. Damit hatte die DGBG offiziell aufgehört, als eigenständige Organisation zu existieren. Viele ihrer jüdischen Mitglieder sind in den folgenden Jahren Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung geworden. Die „Gleichschaltung” der DGBG war im Prinzip schon mit der Einsetzung Spiethoffs als Reichskommissar erfolgt. Wie Spiethoff auf der Mitgliederversammlung im November 1933 verkündete, werde die DGBG „fortan nicht mehr ihre eigene Politik machen”, d. h. Ziele verfolgen, „die den Grundsätzen des Staates, seinem Ethos nicht entsprechen”, sondern „im Geiste des Nationalsozialismus” arbeiten. Das bedeutete seiner Ansicht nach, die ethischen Ziele der DGBG nach der Maxime auszurichten: „Das Recht auf Eigenleben und Eigennutz findet seine Grenzen an den Lebensbelangen des Volkes” [5] [9].

Nach dem Zweiten Weltkrieg gelang es in mehreren Anläufen, die DGBG neu zu gründen [4]. Der Freiburger Dermatologe Alfred Stühmer (1885 - 1957) wurde auf der ersten ordentlichen Mitgliederversammlung nach dem Zweiten Weltkrieg 1955 zum Vorsitzenden gewählt. Nach Stühmers Tod zwei Jahre später schlief die Vereinstätigkeit wieder weitgehend ein. 1965 wurde in einem zweiten Anlauf die DGBG in Freiburg wieder zum Leben erweckt. Die Ursachen für den mühsamen Neubeginn der DGBG sind sicherlich mit darin zu suchen, dass das Thema Geschlechtskrankheiten weitgehend an öffentlicher Brisanz verloren hatte, auch wenn es in den Nachkriegsjahren noch von wichtiger gesundheitspolitischer Bedeutung blieb. Die DGBG entwickelte sich folglich mehr und mehr zu einer Fachgesellschaft von Venerologen. Erst mit dem Aufkommen von AIDS Anfang der 1980er-Jahre gewannen Geschlechtskrankheiten auch jenseits der Fachwelt wieder erheblich an Aufmerksamkeit. Auf diese veränderten Umstände reagierend, trägt die DGBG heute den Namen „Deutsche STD-Gesellschaft - Deutschsprachige Gesellschaft zur Prävention sexuell übertragbarer Krankheiten”.

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Abb. 1 Auszug aus dem Gründungsaufruf der DGBG, Juni 1902.

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Abb. 2 Alfred Blaschko (1858 - 1922).

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Literatur

  • 1 Aufruf zur Begründung einer Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten 1902/03 1: 1-3
  • 2 Blaschko A. Krieg und die Geschlechtskrankheiten.  Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 1914;  14 111
  • 3 Blaschko A. Die Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. Leipzig; Barth 1920
  • 4 Borelli S, Vogt H J, Kreis M. Geschichte der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. Berlin; Blackwell 1992
  • 5 Mitgliederversammlung der DGBG v. 18. 11. 1933. Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten 1933 31: 170-171
  • 6 Neisser A. Die Aufgaben der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten.  Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 1902/03;  1 30-40
  • 7 Pappritz A. (Bericht über die Gründungsversammlung der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten in Berlin am 19. Oktober 1902).  Soziale Praxis. 1902/03;  12 106
  • 8 Satzung. Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten 1902/03 1: 41
  • 9 Sauerteig L. Krankheit, Sexualität, Gesellschaft: Geschlechtskrankheiten und Gesundheitspolitik in Deutschland im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Stuttgart; Franz Steiner 1999
  • 10 Sauerteig L. Medizin und Moral in der Syphilisbekämpfung.  Medizin, Gesellschaft und Geschichte. 2000;  19 55-70

Dr. phil. L. Sauerteig

Institut für Geschichte der Medizin · Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Stefan-Meier-Straße 26 · 79104 Freiburg

eMail: Lutz.Sauerteig@igm.uni-freiburg.de

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Literatur

  • 1 Aufruf zur Begründung einer Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten 1902/03 1: 1-3
  • 2 Blaschko A. Krieg und die Geschlechtskrankheiten.  Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 1914;  14 111
  • 3 Blaschko A. Die Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. Leipzig; Barth 1920
  • 4 Borelli S, Vogt H J, Kreis M. Geschichte der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. Berlin; Blackwell 1992
  • 5 Mitgliederversammlung der DGBG v. 18. 11. 1933. Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten 1933 31: 170-171
  • 6 Neisser A. Die Aufgaben der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten.  Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 1902/03;  1 30-40
  • 7 Pappritz A. (Bericht über die Gründungsversammlung der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten in Berlin am 19. Oktober 1902).  Soziale Praxis. 1902/03;  12 106
  • 8 Satzung. Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten 1902/03 1: 41
  • 9 Sauerteig L. Krankheit, Sexualität, Gesellschaft: Geschlechtskrankheiten und Gesundheitspolitik in Deutschland im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Stuttgart; Franz Steiner 1999
  • 10 Sauerteig L. Medizin und Moral in der Syphilisbekämpfung.  Medizin, Gesellschaft und Geschichte. 2000;  19 55-70

Dr. phil. L. Sauerteig

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Abb. 1 Auszug aus dem Gründungsaufruf der DGBG, Juni 1902.

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Abb. 2 Alfred Blaschko (1858 - 1922).