Rofo 2003; 175(3): 325-327
DOI: 10.1055/s-2003-37826
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Medizin und Naturwissenschaft im Berufsbild des diagnostischen Radiologen

Medicine and Natural Science in the Profession of the Diagnostic RadiologistG.  van Kaick1 , W.  Semmler1
  • 1Forschungsschwerpunkt Radiologische Diagnostik und Therapie (E), Deutsches Krebsforschungszentrum Heidelberg
Further Information

Publication History

Publication Date:
12 March 2003 (online)

Das naturwissenschaftliche Denken hielt nach und nach Einzug in die Medizin, vor allem seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Hermann von Helmholtz [4] beschrieb diese Entwicklung schon 1869 anlässlich seines Vortrags auf einer der Versammlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte: „Die Zweifel an der vollen Gesetzmäßigkeit der Natur sind immer mehr zurückgedrängt worden, immer allgemeinere und umfassendere Gesetze haben sich enthüllt. Physiologie und Medizin haben einen seit Jahrtausenden nicht da gewesenen Aufschwung gewonnen, seit man mit Ernst und Eifer sich der naturwissenschaftlichen Methode, der genauen Beobachtung der Erscheinungen, dem Versuch zugewendet hat. Ich kann als früherer praktischer Arzt persönlich davon Zeugnis ablegen.”

Fast hundert Jahre später 1958 fasst Karl Jaspers [6] diese Entwicklung in seinem berühmten Beitrag „Der Arzt im technischen Zeitalter” zusammen: „Über das Wunder der modernen Medizin bedarf es kaum eines Wortes … Der Grund dieses Fortschritts ist die naturwissenschaftliche Forschung, und sie allein, von den exakten Wissenschaften bis zur Biologie.”

Die Radiologie als ein medizinisches Fachgebiet, das auf einer physikalischen Entdeckung begründet ist, wurde in diese Entwicklung voll einbezogen und hat sie in hohem Maße mit beschleunigt. Die Radiologie nimmt somit als ein physikalisch-technisch fundiertes Fach keine Sonderstellung ein, sondern ist Teil dieser Entwicklung.

Trotz der zugegebenen großen Fortschritte wundert sich Jaspers darüber, dass „eine Unzufriedenheit bei Kranken und Ärzten wächst. Seit Jahrzehnten ist zugleich mit dem Fortschritt die Rede von der Krise der Medizin, von Reformen, von Überwindung der Schulmedizin und Neugründungen der gesamten Krankheitsauffassung und des Arztseins”. Aus der Sicht des Patienten versucht er eine Erklärung zu geben: „Die Diagnostik geschieht durch immer zahlreicher werdende Apparate und Laboratoriumsuntersuchungen. - Der Kranke sieht sich in einer Welt von Apparaturen, in der er verarbeitet wird, ohne dass er den Sinn der über ihn verhängten Vorgänge versteht. Er sieht sich Ärzten gegenüber, deren keiner sein Arzt ist. Der Arzt selber scheint dann zum Techniker geworden.”

Gelten diese kritischen Überlegungen von Karl Jaspers auch für den Radiologen? - Sehr wohl! Der französische Radiologe und Neuroradiologe Picard [8] brachte dies bei seiner Marie Curie-Lecture auf dem ECR in Wien auf den Punkt: „Der Radiologe ist kein Fotograf und kein Service Provider, sondern Arzt und Kliniker. Er ist Partner im Team der Ärzte”. In die gleiche Richtung zielt die Analyse von Heller [3]: „Wir haben offenbar viel versäumt … es muss unser Anliegen sein, den Patienten die Tätigkeiten des Radiologen zu vermitteln und damit zur Vertrauensbildung in die Person des radiologisch tätigen Arztes beizutragen. Dazu müssen wir aber den Patienten sehen und mit ihm sprechen …” Im Zuge der Erfolgsgeschichte der modernen naturwissenschaftlich ausgerichteten Medizin ist die Wandlung bemerkenswert, die der berühmte Heidelberger Kliniker Ludolf Krehl [9] zu Beginn des 20. Jahrhunderts vollzog. Als ein naturwissenschaftlich denkender Arzt erreichte er die Gründung des Kaiser Wilhelm-Instituts für medizinische Forschung in Heidelberg. Andererseits erkannte er, dass man unter der Dominanz der naturwissenschaftlichen Schule das krankhafte Geschehen nur noch wie einen physikalisch-chemischen Prozess behandelte. Von da ausgehend entwickelt Krehl seine „Personale Medizin”: Der Mensch als ganzes muss zum Thema der Forschung werden. „Sind wir Ärzte, ist der kranke Mensch alles.”

Es ist eine der fast existentiellen Aufgaben der radiologischen Diagnostik, die klinische Präsenz und Kompetenz des diagnostischen Radiologen zu stützen und zu fördern. Seine Kernkompetenz ist die ärztliche Tätigkeit, für die er die verfügbaren modernen technischen Hilfsmittel benutzt.

Das Berufsbild des Radiologen ist zweifelsohne durch die Naturwissenschaften, insbesondere die Physik, geprägt. Dass er sich stärker mit physikalisch-technischen Fragen befassen muss als andere klinische Kollegen, ist Voraussetzung für seine radiologische Tätigkeit, das weist ihn noch nicht unbedingt als „Naturwissenschaftler” aus. Auf welchen Gebieten aber muss sich der Radiologe, vor allem wenn er wissenschaftlich interessiert ist, mit naturwissenschaftlichen und technischen Fragen befassen? Die wesentlichen Entwicklungsgebiete der Radiologie [5] sind:

Bildgebung, Informationstechnologie, Kontrastmittel, bildgesteuerte Eingriffe.

In dem Begriff „Bildgebung” ist auch die sog. „Biomedizinische Bildgebung”, die sich unter dem Einfluss der Molekularbiologie entwickelt, enthalten.

Wie sieht naturwissenschaftlich-radiologische Forschung in Bezug auf diese genannten Forschungsschwerpunkte in ihrer Umsetzung aus? Wichtigste Grundlage ist zweifellos die themenorientierte Arbeitsgruppe in der eigenen Abteilung.

Darüber hinaus sollten zur Katalyse radiologischer Forschung Abteilungen oder Sektionen für experimentelle Radiologie in genügender Zahl vorhanden sein, in denen je nach Ausrichtung ein Forum der Zusammenarbeit zwischen Radiologen, Medizinphysikern, EDV-Experten und Molekularbiologen geboten wird.

Leider ist die Situation solcher Einrichtungen in Deutschland für die diagnostische Radiologie wenig ermutigend. Es gibt im Unterschied zu den USA kaum vergleichbare Forschungseinrichtungen in Deutschland, die schwerpunktmäßig die methodischen Arbeiten auf dem Gebiet der biomedizinischen Bildgebung vorantreiben. Wie wichtig eine solche Zusammenarbeit zwischen diagnostischen Radiologen und experimentellen Radiologen ist, sieht man dort, wo es zu einer guten Kooperation gekommen ist mit dem Ergebnis hervorragender wissenschaftlicher Arbeiten und Publikationen. Die Lage in diesem angesprochenen Problemkreis wird freilich dadurch verschärft, dass ein starker Mangel an interessierten Bewerbern entstanden ist, nicht zuletzt dadurch, dass den Nachwuchswissenschaftlern - besonders aus der Medizinphysik - keine Anreize bzw. keine Chancen in ihrem Arbeitsfeld z. B. für attraktive selbständige Leitungsfunktionen geboten werden.

Die Realisierbarkeit dieser verschiedenen Forschungsmöglichkeiten einer naturwissenschaftlich orientierten Radiologie wirft ernste Fragen auf. Die Gebiete sind so komplex und umfassend, dass sie als „Feierabendforschung” kaum zu bewältigen sind. Für wissenschaftlich interessierte junge Radiologen müssen verstärkt Wege eröffnet werden, die dahin führen, dass ihnen der Freiraum gegeben wird, ein bis zwei Jahre ausschließlich auf einem dieser genannten Forschungsbereiche konzentriert arbeiten zu können. Allerdings geht diese Zeit für die Weiterbildung meistens verloren. Für eine akademische Karriere sollte eine solche Zeit jedoch Voraussetzung werden, wie das auch in anderen Fächern wie der Inneren Medizin, Chirurgie u.a. schon gehandhabt wird.

Häufig führt dann der Weg des wissenschaftlich Engagierten in die USA, die Zentren für experimentelle Radiologie mit Schwerpunkten der Informationstechnologie, Molekularbiologie, Kontrastmittelforschung u. a. auf hohem Niveau vorhalten. Die Probleme bei der Rückkehr nach Deutschland und der Wiedereingliederung in die radiologische Alltagsdiagnostik sind bekannt [1] und sollten nicht unterschätzt werden. „Die jungen Menschen jedenfalls, die mit relativ gut dotierten Stipendien im Ausland (meist in den USA) eine hochwertige Forschungsausbildung erhalten haben und mit Feuereifer als Kenner und Könner hochspezialisierter Methoden nach Deutschland zurückkehren, sind oft schon nach wenigen Monaten spurlos im Routinebetrieb der Klinik verschwunden.” Aber auch umgekehrt kann sich das Problem stellen: Wer sich als Radiologe mit ganzer Kraft in die Laborarbeit oder vergleichbare wissenschaftliche Aufgaben stürzt, fällt als anerkannter klinischer Radiologe unter Umständen zurück. Es taucht dann die bekannte, scherzhaft-makabre Frage auf: „Wollen Sie sich wirklich von einem Chirurgen operieren lassen, der mehrfach im Jahr als Erstautor in „Nature” publiziert?”

Und dennoch - wenn wir die radiologische Diagnostik erfolgreich in die Zukunft führen wollen, muss eine geradezu aggressive Forschungspolitik und Konzeption verfolgt werden. Dies verlangt eine gezielte Förderung von motivierten und begabten jungen Radiologen. Frühwald [1] fordert zu Recht wissenschaftliche Doktorandenschulen, Ausbildungsprogramme, Förderstrukturen und institutionalisierte Freistellung für Forschung und systematische Anleitung zur Einwerbung von Drittmitteln. Bei methodischen Entwicklungen wird häufig der Kontakt zur Industrie gesucht. Diese Zusammenarbeit ist leider z. T. immer noch mit gewissen Vorbehalten belegt, was bei einer klaren Aufgabenteilung und kritischen Analyse der Ergebnisse wirklich unangebracht ist.

Hoffnungsvoll stimmt der geplante Ausbau interdisziplinärer Zentren für klinische Forschung [10], die in Centers of Excellence übergehen sollen - wenn sich Radiologen hier entsprechend einbringen können!

Ein ein- bis zweijähriger Aufenthalt in den USA ist grundsätzlich sehr zu empfehlen und stellt immer noch eine gute Basis für die weitere akademische Karriere dar. Aber wäre nicht ein europäisches Institut für experimentelle Radiologie denkbar, an dem begabte Nachwuchsradiologen mit Stipendien unter der Leitung von international ausgewiesenen Forschem arbeiten könnten, etwa vergleichbar mit dem Europäischen Molekular-Biologischen Labor, das eine Spitzenposition in der molekularbiologischen Forschung einnimmt. Über Industriebeteiligung könnten Lokalität und Einrichtung, über staatliche Zugaben die Stellen der wissenschaftlichen Leiter und über Stipendien die Mehrzahl der jungen Mitarbeiter finanziert werden. Ein solches Vorhaben wäre dann realisierbar.

Naturwissenschaftliches Denken in der Medizin hat zunehmend auch über die präzise geplanten klinischen Studien Eingang gefunden [7]. Für die Bewertung neuer therapeutischer Ansätze sind diese Studien eine wesentliche Voraussetzung. Anhand der Ergebnisse dieser Studien kommt es im nächsten Schritt zur Metaanalyse oder zur „Evidence Based Medicine”. Diese hat zwar für die Beurteilung neuer Therapien, aber noch nicht genügend für neue diagnostische Verfahren, gerade in der radiologischen Diagnostik, Eingang gefunden. Der Wert dieser Studien für Wissenschaft und Klinik ist hoch einzustufen, wenn sie gut geplant und durchgeführt werden. Ist diese Qualität jedoch nicht gegeben, sind sie nicht nur wertlos, sondern haben fast immer große Kosten verursacht und ärztliche Aktivität gebunden. Hinzu kommt, dass falsche Ergebnisse z. T. schwerwiegende Langzeitfolgen durch irreführende Konsequenzen nach sich ziehen. Wie sehr die Bedeutung der Planung, Überwachung und Auswertung klinischer Studien erkannt wurde, zeigt die Gründung von inzwischen 12 Koordinationsstellen für klinische Studien an verschiedenen Universitäten Deutschlands.

Hier kommen wir wieder zurück zu dem Ausgangspunkt, dass das naturwissenschaftliche Denken seinen Preis hat, zumindest dahingehend, dass der einzelne Patient im Rahmen von Studien sich als ein Sandkorn empfindet, das sozusagen namenlos die Statistik bereichert. Aber das sollte man nicht beklagen; bei gut geplanten und durchgeführten Studien sind diese sowohl für den einzelnen Patienten als auch für die weitere Entwicklung der klinischen Medizin von Vorteil, und der behandelnde Arzt kann sich dennoch auf seine oben definierten Aufgaben konzentrieren.

Das Szenario der vielfältigen Kontaktstellen von Radiologie und Naturwissenschaft mag irritieren - aber es ist vor allem begeisternd, wenn man an die sich erschließenden Entwicklungsmöglichkeiten für eine diagnostische Radiologie denkt. Bei allen zugegebenermaßen bestehenden Schwierigkeiten, die unser Fach bedrängen [2], bleibt ein optimistischer Ausblick auf die Zukunft vorherrschend. Die Verbindung der klinischen Radiologie mit den modernen naturwissenschaftlichen Entwicklungen lässt uns teilhaben an dem allgemeinen wissenschaftlichen Fortschritt, ja wir werden zu Ärzten, die diese Verbindung geradezu gewährleisten. Der Radiologe muss trotz naturwissenschaftlicher Interessen, Forschung und Spezialisierung in erster Linie Arzt bleiben. Seine Kernkompetenz sind seine guten klinisch-radiologischen Kenntnisse und Erfahrungen, die ihm den entsprechenden Status im Kreis der Kliniker gewährleisten. Er muss in die naturwissenschaftlichen Fragen seines Fachs eingedacht und auf Teilgebieten ggfs. als Forscher aktiv sein. Er darf jedoch nicht die Rolle des Medizinphysikers oder des Molekularbiologen übernehmen wollen, vielmehr ist angezeigt, das Wissen dieser Experten im Rahmen interdisziplinärer Aktivitäten zu nutzen.

Die Worte von Ludolf Krehl, dem großen Heidelberger Kliniker und Wissenschaftler, sind nach 100 Jahren immer noch wegweisend [9]: „Die ideale Therapieform basiert auf der naturwissenschaftlich fundierten rationalen Diagnostik” - „Wir wollen Ärzte heranbilden, die, aufgewachsen auf dem Boden strengster biologischer Schulung, diese doch nur verwenden, um dem Kranken ein Helfer zu sein in aller seiner Not.”

Literatur

  • 1 Frühwald W. Medizinische Forschung in Deutschland - Gegenwart und künftige Aspekte.  Fortschr Röntgenstr. 1999;  171 181-186
  • 2 Hamm B. Herausforderungen der Radiologie in Gesellschaft und Wissenschaft.  Fortschr Röntgenstr. 2000;  172 859-864
  • 3 Heller N. Radiologische Horizonte - diagnostische Radiologie: Bild, Anspruch und Wirklichkeit.  Fortschr Röntgenstr. 1999;  171 177-180
  • 4 von Helmholtz H. Über die Entwicklungsgeschichte der neueren Naturwissenschaften (1869). In: Autrum HJ (Hrsg) Von der Naturforschung zur Naturwissenschaft. Heidelberg; Springer 1987: 32-62
  • 5 Günther R W. Diagnostische und interventionelle Radiologie im 21. Jahrhundert.  Fortschr Röntgenstr. 2000;  172 1-4
  • 6 Jaspers K. Der Arzt im technischen Zeitalter (1958). In: Autrum HJ (Hrsg) Von der Naturforschung zur Naturwissenschaft. Heidelberg; Springer 1987: 545-566
  • 7 Knopp M V, Floemer F, Zuna I, van Kaick G. Studiendesign in der klinisch radiologischen Forschung.  Radiologe. 1998;  38 241-247
  • 8 Picard L. Verantwortlichkeit und Ethik in der Radiologie.  Radiologe. 2001;  41 454-456
  • 9 Schipperges H. Ärzte in Heidelberg. Edition Braus Heidelberg; 1995: 201
  • 10 Thomas H. Neue Konzepte der Forschungsförderung.  Fortschr Röntgenstr. 1998;  168 4-6

Prof. Dr. med. Gerhard van Kaick

Forschungsschwerpunkt Radiologische Diagnostik und Therapie (E), Deutsches Krebsforschungszentrum

Im Neuenheimer Feld 280

69120 Heidelberg

Phone: 0049/6221/42-2600

Fax: 0049/6221/42-2595

Email: g.vankaick@dkfz.de