RSS-Feed abonnieren
DOI: 10.1055/s-2003-38707
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
Psychopharmaka-Verordnungen - Ergebnisse und Kommentare zum Arzneiverordnungsreport 2002
Korrespondenzadresse
Prof. Dr. med. Jürgen Fritze
Asternweg 65
50259 Pulheim
Quelle: Schwabe U, Paffrath D (Hrsg): Arzneiverordnungsreport 2002. Springer-Verlag Berlin-Heidelberg 2003, ISBN 3-540-43624-3
Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
16. April 2003 (online)
- Zusammenfassung
- Neue Neuropsychopharmaka
- Qualität der Versorgung und Einsparpotenziale
- Generika
- Verordnungsspektren Antidepressiva
Zusammenfassung
Der jährlich erscheinende Arzneiverordnungsreport gibt auch in diesem Jahr wichtige und spannende Informationen über das Verordnungsverhalten der niedergelassenen Ärzteschaft bezüglich der 2500 meistverordneten Präparate. Er hat - wie jedes Jahr - für Aufregung gesorgt, u.a. mit der These, durch Umstellung von Originalpräparaten auf Generika, Verzicht auf die Verordnung teurer Analogpräparate („me-too-Präparate”) und Verzicht auf „umstrittene” Arzneimittel hätten sich 4,2 Mrd. Euro, also fast 20 % der Ausgaben für die ambulante Arzneimitteltherapie zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), einsparen lassen.
Unter den 33 im Jahre 2001 neu zugelassenen Wirkstoffen („Fricke Liste”) finden sich drei Neuropsychopharmaka: Almotriptan (Almogran®), Galantamin (Reminyl®) und Glatirameracetat (Copolymer-I; Copaxone®).
#Neue Neuropsychopharmaka
Almotriptan ist das fünfte Pharmakon aus der Gruppe der Triptane (Serotonin-1B/1D-Agonisten) zur Behandlung des akuten Migräneanfalls. Almotriptan wird im Report der Bewertungsgruppe C („Analogpräparat mit keinen oder nur marginalen Unterschieden zu bereits eingeführten Präparaten”) zugeordnet und als besonderer Nachteil die gegenüber dem ersten Triptan (Sumatriptan; Imigran®) um rund zwei Euro höheren Kosten der Einzeldosis herausgestellt. Der unter Almotriptan signifikant seltenere Brustschmerz wird als diesen Preisunterschied nicht rechtfertigend angesehen. Tatsächlich kann man sich fragen, ob es der inzwischen vier Triptane neben Sumatriptan bedarf. Alle vier sind teurer als Sumatriptan.
Die Triptane sind damit ein typisches Beispiel für die Debatte um Analogpräparate. In dieser nur auf die Kosten fokussierenden Debatte fehlt die Abwägung, welcher Wert auch begrenzten Vorteilen beizumessen ist. Es fehlt die sorgfältige gesundheitsökonomische Analyse jenseits der Kosten der Einzeldosis. Der Beitrag auch begrenzter Verbessrungen als Stimulus für Fortschritte wird ignoriert. Und schließlich - auch wenn es pharmakodynamisch oder pharmakokinetisch (noch) nicht erklärt werden kann: Nicht jeder Patient respondiert auf jedes Arzneimittel einer Gruppe von sog. Analogpräparaten in gleicher Weise, bei dem einen lässt sich der Migräneanfall mit Sumatriptan und nicht Almotriptan kupieren, beim anderen umgekehrt (oder einem anderen Triptan). Folglich sind Analogpräparate nicht frei austauschbar, folglich sind sog. Analogpräparate nicht generell analog, folglich werden sie gebraucht. Ob der Preis zu hoch ist, werden die Gesetze des Marktes regeln, erst recht wenn das Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung (BMGS) bzw. im Nachgang zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 17.12.2002 künftig wieder die GKV Festbeträge festlegt.
Glatirameracetat ordnet der Report der Bewertungsgruppe A („innovative Struktur bzw. neuartiges Wirkprinzip mit therapeutischer Relevanz”) zu und anerkennt damit, dass Glatirameracetat eine echte Alternative zu den b-Interferonen in der Therapie der schubförmig verlaufenden Multiplen Sklerose darstellt, auch wenn Differenzialindikationen bisher nicht etabliert sind.
Auch in diesem Jahr können die Antidementiva dem Stigma von Arzneimitteln „mit umstrittener Wirksamkeit”, nämlich mit begrenzter Wirksamkeit, nicht entrinnen. Die allermeisten bei chronischen Krankheiten eingesetzten Medikamente haben eine begrenzte Wirksamkeit; um dem Wettbewerb der Krankheiten um die Ressourcen keinen Vorschub zu leisten, soll auf einen Vergleich der NNT (number needed to treat) zwischen Antidementiva und z.B. Lipidsenkern verzichtet werden. Rund 30 % der Kranken unter Cholinesterasehemmern erleben eine Besserung, 40 % bleiben unverändert, rund 30 % verschlechtern sich gegenüber der Ausgangslage. Da es sich um eine im Spontanverlauf progrediente Krankheit handelt, sind als Responder alle gegenüber der Ausgangslage gebesserten (ca. 30 %) und unveränderten (ca. 40 %) Kranken zu werten. Dies ignoriert der Report.
Der Report bleibt wie in früheren Jahren bei der Stigmatisierung der Antidementiva, obwohl er den Cholinesterasehemmern sogar eine Wirkung zubilligt, die nicht bewiesen ist, nämlich eine Progressionsverzögerung der Alzheimer-Demenz um fünf Monate. Leider hält aber der klinische Gewinn durch Cholinesterasehemmer nach derzeitigem Wissen nur solange an wie das Arzneimittel eingenommen wird. Die Krankheitsprogression wird also nicht verlangsamt. Verbessert wird „nur” die klinische Symptomatik unter Therapie; nach Absetzen verschlechtert diese sich in wenigen Wochen so, als wäre der Kranke nie behandelt worden. Gerade deshalb ist es so wichtig, die Therapie der Demenz mit Cholinesterasehemmern als Dauertherapie zu verstehen. Dann ist der Gewinn eines halben Jahres sehr wohl humanitär und klinisch hoch relevant: Ein halbes Jahr entspricht rund 0,7 % der Lebenserwartung eines GKV-Versicherten, und zwar bei besserer Lebensqualität. Eine Lohnsteigerung um 0,7 % würde wohl niemand als Banalität ablehnen.
Dennoch meint der Report, „wegen der insgesamt marginalen Effekte in der Langzeitanwendung und der weiterhin unklaren Bedeutung für die praktische Therapie ist eine Empfehlung für eine routinemäßige Anwendung der Acetylcholinesterasehemmer aus den bisher vorliegenden Studiendaten nicht ableitbar”. Und er sieht „für eine generelle Substitution der (den Markt unverändert anführenden) Ginkgopräparate und anderen älteren Antidementiva” keinen Anlass. Dies obwohl die unter Mitwirkung von Autoren des Arzneiverordnungsreportes entwickelte Vorschlagsliste zur sog. Positivliste vorsieht, gerade die „anderen älteren Antidementiva” künftig nicht mehr zu Lasten der GKV verordnen zu können (obwohl Vergleichsstudien zwischen den traditionellen Nootropika und Cholinesterasehemmern fehlen). Das entspricht erneut implizit der Empfehlung der Nicht-Behandlung von Demenzkranken, die im Report 2001 explizit gegeben wurde.
Vor diesem Hintergrund verwundert es wenig, dass Galantamin den Bewertungsgruppen A/D („innovative Struktur bzw. neuartiges Wirkprinzip mit therapeutischer Relevanz” bzw. „nicht ausreichend gesichertes Wirkprinzip oder unklarer therapeutischer Stellenwert”) zugeordnet wird. Die Empfehlung, „Trotz des nur geringen klinischen Nutzens kann die Anwendung dieser Stoffgruppe indiziert sein, wenn die Diagnose durch einen Spezialisten gestellt wurde und vor der Verschreibung kognitive Funktionen, klinischer Gesamtstatus und die Alltagsaktivitäten analysiert wurden”, ist exemplarisch für die Suggestivität in weiten Teilen des Reports: Die Suggestion lautet, im Zweifelsfall besser auf die Verordnung zu verzichten. Die an die Verordnung geknüpfte Bedingung („wenn ...”) ist pseudologisch, denn ohne verlässliche Diagnostik und Diagnose ist eine Verordnung niemals indiziert.
#Qualität der Versorgung und Einsparpotenziale
Erfreulich - und im geschilderten Kontext erfreulich inkonsequent - ist das Anerkenntis des Reports, dass nur 22 % der Kranken mit leichter bis mittelschwerer Demenz mit Cholinesterasehemmern oder dem Glutamat-Antagonisten Memantin behandelt werden, wobei die Behandlung der übrigen fast 80 % mit Nootropika als Fehlversorgung bezeichnet wird. Die notwendigen Mehrkosten einer Substitution durch Cholinesterasehemmer oder Memantin werden mit 160 Mio. Euro beziffert. Damit geht der Report implizit davon aus, dass alle Alzheimer-Patienten mit diesen Arzneimittel behandelt werden sollten. Erfreulich ist auch, dass sich die Autoren hier die Argumentationsschiene der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) gegenüber dem Sachverständigenrat für die konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (zu finden bei www.dgppn.de oder www.svr-gesundheit. de) zu eigen gemacht hat (ohne sie allerdings zu zitieren). Die Regeln der Logik verlässt der Report aber mit der These, diese Arzneimittel kämen „nur bei der Neueinstellung der Therapie (soll wohl heißen, bei Ersteinstellung) von Alzheimerpatienten” in Frage; zu den Einschlusskriterien der Zulassungsstudien gehörte nicht, dass die Kranken noch nie behandelt worden wären.
Ähnlich anerkennt der Report (und macht sich anscheinend auch hier die Argumentationsschiene der DGPPN gegenüber dem Sachverständigenrat zu eigen) eine Unterversorgung depressiv Kranker, indem das Verordnungsvolumen der Antidepressiva - auch wenn es sich seit 1992 nahezu verdoppelt hat - nur ausreicht, um „etwa die Hälfte der Patienten mit schwerer Depression täglich mit einem Antidepressivum” zu behandeln. Unter Einbezug von Johanniskrautextrakten wären es 64 %. Der diesen Ergebnissen zugrunde liegende Kalkulationsweg bleibt allerdings Geheimnis der Autoren. Entscheidend und positiv ist die Wahrnehmung der Unterversorgung.
Im Vergleich zum Vorjahr abgemildert, wenn auch immer noch wenig pharmakologisch und sehr ökonomisch motiviert sind die Vorschläge zur Substitution im Bereich der sog. Analogpräparate bei den Antidepressiva. Unverändert können die Substitutionsvorschläge auch lebensbedrohliche Folgen zeitigen: Citalopram und Sertralin durch Fluoxetin substituieren zu wollen, ignoriert das dem Fluoxetin eigene Interaktionspotenzial. Warum innerhalb der Gruppe der selektiv-serotonergen Antidepressiva (SSRI) - wenn man schon substituieren soll - Fluoxetin dem Fluvoxamin vorgezogen werden soll, nur weil Fluvoxamin nicht (mehr) zu den 2500 verordnungshäufigsten Präparaten gehört, will nicht recht einleuchten. Die gegenüber dem Vorjahr unveränderte Empfehlung, innerhalb der Gruppe der trizyklischen Antidepressiva Opipramol und Nortriptylin durch Amitriptylin zu substituieren, kann z.B. Stürze mit Schenkelhalsfrakturen und Verkehrsunfälle nach sich ziehen. Fast lustig wirkt die ernsthaft erwogene und nur wegen „begrenzter Beleglage” verworfene Empfehlung von Amitripylinoxid (statt Amitriptylin) zur Substitution, denn die unter Mitwirkung von Autoren des Arzneiverordnungsreportes entwickelte Vorschlagsliste zur sog. Positivliste sieht gerade (mit fragwürdiger Berechtigung) vor, Amitriptylinoxid aus dem GKV-Leistungskatalog zu eliminieren.
#Generika
Wenn auch die Therapieempfehlungen des Arzneiverordnungsreports also mit Vorsicht zu genießen sind, so ist er doch für die Verordner besonders wichtig, indem er Benchmarks liefert. Inzwischen haben Generika einen Verordnungsanteil von 49,9 % und einen Umsatzanteil von 30,8 % erreicht; im generikafähigen Markt ist der Verordnungsanteil der Generika weiter auf inzwischen 72,9 % und einen Umsatzanteil von fast 66,4 % gestiegen. Wie hoch der Generika-Anteil im Generika-fähigen Antidepressiva- und Neuroleptika-Markt ist, lässt sich dem Arzneiverordnungsreport leider nicht direkt entnehmen, da nur über die umsatzstärksten Pharmaka berichtet wird. Immerhin liegt - soweit aus den Daten ableitbar - der Anteil generisch verordneten Amitriptylins als unverändert führendem Antidepressivum bei rund 62 % (2000: 54 %) der Verordnungen (DDD) bzw. 56 % (2000: 48 %) der Umsätze und für Doxepin bei 74 % (2000: 70 %) bzw. 65 % (2000: 61 %). Bei den Neuroleptika erfolgen rund 57 % (2000: 50 %) der Perazin-Verordnungen (DDD) generisch, für Levomepromazin unverändert rund 54 %, für Haloperidol rund 43 % (2000: 42 %). Die erst Mitte 2002 wirksam gewordene neue Aut-Idem-Vorschrift konnte sich bei den Psychopharmaka nicht auswirken, da die Voraussetzung von mindestens fünf Artikeln im unteren Preisdrittel nicht erfüllt wurde.
#Verordnungsspektren Antidepressiva
Die Anzahl verordneter Tagesdosen (DDD) von Antidepressiva (DDD +13 %) ist trotz allgemein rückläufiger Verordnungen weiter gestiegen [Abb. 1], was auf einen weiteren Rückgang der Unterbehandlung depressiv Kranker hoffen lässt. Die Umsatzsteigerung (+19 %) ist überproportional im Vergleich zur generellen Umsatzsteigerung [Abb. 1], was einem vermehrten Einsatz der modernen Antidepressiva entspricht [Abb. 2].
Die modernen Antidepressiva haben bei Mitberücksichtigung niedrig dosierter Neuroleptika und Johanniskraut-Extrakte inzwischen einen Anteil von ca. 32 % (1998: 16 %, 1999: 21 %, 2000: 27 %) der gesamten Antidepressiva-Verordnungen (DDD; [Abb. 2]) und ca. 56 % am Umsatz [Abb. 3]. Der Anteil der verordneten Tagesdosen (DDD) moderner Antidepressiva an den chemisch definierten Antidepressiva im engeren Sinne liegt bei 42 %. Wie anderenorts (Neurotransmitter 12/2 (2001) 30-31) beschrieben, wäre nach medizinischen Kriterien zu erwarten, dass der Verordnungsanteil der modernen Antidepressiva an den Antidepressiva-Gesamtverordnungen bei annähernd 50 % läge.
Sowohl pharmakodynamisch als auch klinisch ist unverständlich, warum der Arzneiverordnungsreport Venlafaxin in treuer Tradition der Gruppe der selektiv-serotonergen Antidepressiva (SSRI) zuschlägt. Wenn auch dosisabhängig, so hemmt Venlafaxin nicht nur die synaptische Wiederaufnahme von Serotonin, sondern auch die von Noradrenalin. Dieser duale Effekt ist klinisch relevant, indem er die höhere Rate vollständiger Remissionen unter mittleren bis hohen Dosen von Venlafaxin im Vergleich zu SSRI sowie einen möglicherweise früheren Wirkungseintritt erklärt. Entsprechend führt das anatomisch-therapeutisch-chemische Klassifikationssystem (ATC-System) der Weltgesundheitsorganisation Venlafaxin in einer gesonderten Gruppe (ATC-N06AX) neben den SSRI (ATC-N06A). Deshalb präsentiert auch diese Analyse des Arzneiverordnungsreports seit Jahren die Daten zu Venlafaxin gesondert.
#Neuroleptika
Die Verordnung von Neuroleptika ist weitgehend stabil geblieben. Die Definition von DDD ist für Neuroleptika besonders schwierig und variiert von Jahr zu Jahr, sodass die nominale Zunahme von +3 % nicht sicher interpretiert werden kann. Die Umsatzsteigerung (+22 %) ist überproportional im Vergleich zur generellen Umsatzsteigerung [Abb. 1], was einem vermehrten Einsatz der modernen, nebenwirkungsärmeren (und teureren) atypischen Neuroleptika entspricht.
Die atypischen Neuroleptika [Abb. 4] im engeren Sinne haben mit einem Anteil von 23 % gegenüber 2000 bei den verordneten Tagesdosen um 5 %-Punkte gewonnen (ca. 64 % des Umsatzes, [Abb. 5]). Die atypischen Neuroleptika setzen sich also trotz Budgetdrucks und der damit verbundenen persönlichen Risiken für den Arzt weiter durch. Wie anderenorts (Neurotransmitter 12/1 (2001) 40-43) beschrieben, wäre nach medizinischen Kriterien zu erwarten, dass der Anteil der verordneten Tagesdosen der atypischen Antipsychotika an den Neuroleptika-Gesamtverordnungen bei annähernd 25 % läge. Damit hat der Anteil im Jahr 2001 (23 %) nahezu den Schätzwert erreicht.
#Antidementiva/Nootropika
Trotz weiter rückläufiger Verordnungen (-2 %; [Abb. 1]) sind die Umsätze [Abb. 1] der Antidementiva erstmals seit Jahren gestiegen (+7 %; im Arzneiverordnungsreport sind die Zahlen hier nicht ohne weiteres nachvollziehbar). Die Cholinesterasehemmer haben bei der Alzheimer-Demenz die Kranken unverändert nicht sachgerecht erreicht: Donepezil und Rivastigmin hatten im Jahre 2001 einen Anteil von nur 4,2 % (2000: 2,9 %) an den Verordnungen (DDD; [Abb. 6]), aber immerhin von 20,2 % (2000: 15,6 %) am Umsatz [Abb. 7]; Galantamin wurde erst im Jahr 2001 zugelassen. Memantin - dem im Jahr 2002 formal die europäische Zulassung für Demenz erteilt wurde, verzeichnet einen wachsenden Anteil von inzwischen 6,7 % an den Tagesdosen und 18 % an den Umsätzen. Ginkgo-biloba-Extrakte dominieren dennoch unverändert mit 57 % der Tagesdosen und 42 % der Umsätze dieses Indikationsgebiet ([Abb. 6] & [7]).
#Entwöhnungsmittel
Wenig konsequent ist, dass die Arzneimittelrichtlinien (AMR) des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen nach § 92 SGB V die Verordnung von Mitteln zur Raucherentwöhnung (Bupropion (Zyban®); Nikotin) zulasten der GKV ausschließen, die Verordnung von Mitteln zur Unterstützung der Alkoholentwöhnung (Acamprosat (Campral®)) aber zulassen. Entsprechend taucht Bupropion im Arzneiverordnungsreport nicht auf. Der Ausschluss von Mitteln zur Raucherentwöhnung ist zwar im Sinne der Kostendämpfung unter kurzfristiger Perspektive verständlich. Vor dem Hintergrund der Analysen von WHO und Weltbank, wonach Rauchen weltweit der entscheidende gesundheitsschädigende Risikofaktor sein wird, ist der Ausschluss aber wahrscheinlich fragwürdig, nämlich ökonomisch kurzsichtig.
Acamprosat wird in Anlage 4 der AMR ausdrücklich als verordnungsfähig genannt, wobei „zur Vermeidung eines nicht sachgerechten Einsatzes auf die bestimmungsgemäße Anwendung von Acamprosat ausschließlich als Zusatztherapeutikum im Rahmen einer psychosozial betreuten Abstinenzbehandlung” hingewiesen wird. Die Verordnungen von Acamprosat sind seit Jahren rückläufig. Das Verordnungsvolumen kann nur einen minimalen Bruchteil der Alkoholkranken adäquat versorgen. Acamprosat ist grundsätzlich über einen Zeitraum von mindestens einem Jahr zu verordnen. Geht man mit der Deutschen Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (DHS) von 1,6 Mio. Alkoholkranken in Deutschland aus, so reicht das Verordnungsvolumen gerade aus, um nominal 0,5 % der Kranken zu behandeln. Diese theoretische Bedarfsdeckung von nur 0,5 % ist vermutlich zu pessimistisch, indem vermutlich 80 % der Alkoholkranken für diese Therapie nicht erreichbar sind. Unter dieser Prämisse wäre der Bedarf aber immer noch nur zu weniger als 3 % gedeckt.
Dieser Unterversorgung will der Arzneiverordnungsreport anscheinend durch negative Suggestionen Vorschub leisten: Von den 17 publizierten, doppelblinden, plazebokontrollierten Studien mit insgesamt über 4500 Patienten zitiert der Arzneiverordnungsreport nur zwei, von denen eine keine Überlegenheit gegenüber Plazebo nachweisen konnte. Tatsächlich aber war Acamprosat in 15 der 17 Studien dem Plazebo signifikant überlegen, mit einer Effektstärke von rund 50 %. Die negative englische Studie erklärt sich vermutlich daraus, dass hier die Kranken nicht unmittelbar nach Entgiftung, sondern erst acht Wochen später rekrutiert wurden. Die deutsche Studie untersuchte auch ein Jahr nach Ende der Behandlung: Die Abstinenzrate war nach einem Jahr bei den zuvor mit Acamprosat behandelten Kranken mit 40 % immer noch signifikant höher als bei den mit Plazebo (17 %) behandelten.
#Korrespondenzadresse
Prof. Dr. med. Jürgen Fritze
Asternweg 65
50259 Pulheim
Quelle: Schwabe U, Paffrath D (Hrsg): Arzneiverordnungsreport 2002. Springer-Verlag Berlin-Heidelberg 2003, ISBN 3-540-43624-3
Korrespondenzadresse
Prof. Dr. med. Jürgen Fritze
Asternweg 65
50259 Pulheim
Quelle: Schwabe U, Paffrath D (Hrsg): Arzneiverordnungsreport 2002. Springer-Verlag Berlin-Heidelberg 2003, ISBN 3-540-43624-3