PiD - Psychotherapie im Dialog 2003; 4(2): 192-197
DOI: 10.1055/s-2003-39517
Interview
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Aggression ja, aber warum?

Léon  Wurmser, Klaus  W.  Bilitza[1]
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Publication Date:
27 May 2003 (online)

PiD: Auf dem Einreiseformular in die USA muss mit einem Kreuzchen angegeben werden, ob man an einer schweren übertragbaren oder psychischen Krankheit leidet, oder ob man rauschgiftsüchtig ist. Herr Wurmser, Sie haben vor Jahren schon in Ihrem Buch „Die verborgene Dimension . . .” dafür plädiert, Sucht als Krankheit zu akzeptieren. Geschieht das heutzutage in Amerika? Wie sehen Sie es, passt diese Auffassung zu den befremdlichen Fragen bei der Einreise?

L. Wurmser: Steht das dort wirklich alles zusammen? Es ist doch eine anerkannte Krankheit.

PiD: Ja, alles zusammen: „Ja” oder „Nein”, ist anzukreuzen. Hat sich in Amerika im Verhältnis zu früher etwas geändert im Verständnis von Sucht?

L. Wurmser: Also ich glaube, es ist schon heute viel stärker anerkannt, dass es eine Krankheit ist. Dass es nicht nur eine Krankheit ist, sondern dass es auch ein schweres soziales Problem ist, vor allem ein großes strafrechtliches wegen der ganzen Gesetzgebung und damit mit viel Kontroversen verbunden. Aber die meisten sind heute schon auch der Meinung, dass psychische Störungen eine sehr starke Ursachenkomponente darstellen, nicht nur eine Folge der Drogensucht sind.

PiD: Also hat sich seit dem Erscheinen Ihres bekannten Buches auf Englisch etwas geändert?

L. Wurmser: Mein Buch erschien ja 1978, war eigentlich noch vorher geschrieben, also es ist beinahe 30 Jahre her, dass ich darüber geschrieben habe und auch öffentlich sehr viel darüber gesprochen habe. Es hat sich sicher viel dadurch verändert, dass manche prominenten Leute sich dazu bekannt haben, dass sie ein Problem vor allem mit Alkohol hatten, dass auch bei Verwandten von ganz Prominenten, besonders von Präsidenten, bekannt wurde, dass sie schwere Alkohol- oder Drogenprobleme hatten. Z. B. der Stiefvater von Bill Clinton oder der Bruder von Jimmy Carter oder die Nichte des jetzigen Präsidenten, die ja wegen Kokainsucht immer wieder in stationärer Behandlung ist, die Tochter des Jeb Bush, des Gouverneurs in Florida. Es ist heute aus Gründen der Prominenz vor allem, nicht aus Gründen eines tieferen Verständnisses ziemlich akzeptabel geworden, das als Krankheit anzuschauen, aber genauso, wie wenn ein Kranker gegen die Gesetze verstößt, ist alles eine Kombination von zwei Problemen. Wobei es viele Leute gibt, mich eingerechnet, die meinen, dass ein Teil der rechtlichen Probleme durch die Rechtgebung selber verursacht ist und dass wir wahrscheinlich viel rationalere Hilfsmaßnahmen geben können als es gegenwärtig erfolgt.

PiD: Denken Sie an die Folgekriminalität und die Beschaffungskriminalität?

L. Wurmser: Genau das, die Beschaffungskriminalität und die große Rolle, die die organisierten Verbrechenssyndikate dabei spielen können und dürfen, dadurch, dass die ganze Sache so ins Kriminalpolitische hineingeht. Ich glaube, wenn viel stärker Gewicht gelegt würde auf eine medizinische Behandlung, vor allem auch auf die psychologische Behandlung, und die entsprechenden Gelder dafür bereitgestellt würden und stationäre Behandlung finanziell leichter zugänglich wäre, dass man dann dem Problem viel eher auf diese Weise mit gewissen Regulationen - nicht mit voller Legalisierung, aber mit regulärer sanktionierter Abgabe gewisser Substanzen - viel eher beikommen könnte und dass dann besser behandelt werden könnte.

PiD: In Deutschland herrscht die Auffassung: Suchtkranke haben keine Lobby. Für viele Bereiche der Medizin werden sehr, sehr viel Gelder bereitgestellt, aber für die Suchtkranken wenig.

L. Wurmser: Das gilt ja im Allgemeinen für die psychischen Störungen. Die haben keine Lobby. Dabei sind sie es, jetzt allgemein gesagt, die zuerst unter die Räder kommen, wenn gespart wird. Ich sehe die ganze Suchtbehandlung schlicht als Teil der allgemeinen Behandlung psychisch Kranker und das, was für die eine Gruppe gilt, gilt für die Obergruppe der psychisch Kranken überhaupt.

PiD: In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der Rolle der Psychoanalyse im System der Suchtbehandlung in Amerika im Vergleich zu Deutschland.

L. Wurmser: Ich glaube, es ist in beiden Ländern so, dass es mutige Psychotherapeuten, Psychologen, Psychiater gibt, die sich psychoanalytisch, psychotherapeutisch eingehend und mit großer Einfühlsamkeit mit Suchtpatienten beschäftigen und dass die große Mehrzahl davor zurückschreckt wegen der Schwere der Problematik, oft auch weil die Behandlung von Suchtpatienten, z. B. in der Privatpraxis, es sehr viel schwerer macht, das Setting einzuhalten.
Da ist es wahrscheinlich in Deutschland insofern besser, als viel mehr gesundheitspolitisch gemacht wird als hier. Bis vor ganz kurzem ging es Deutschland doch wirtschaftlich ganz gut, die Ökonomie war nach meinem Eindruck viel mehr darauf angelegt, diesem schwachen Teil der Bevölkerung unter die Arme zu greifen. Eben ganz spezifisch den Suchtpatienten die Möglichkeit von relativ intensiver Behandlung zu geben, wenigstens über eine bestimmte Strecke von verbleibenden Stunden. Gerade in meinen Supervisionen in Deutschland habe ich sehr viele solcher therapeutischer Bemühungen verfolgen können.
Hier in Amerika ist das Gesundheitssystem schon seit etwa 15 Jahren so weit abgedrosselt worden und in Bezug auf Psychoanalyse und Psychotherapie so genötigt worden, dass es nur noch für Leute ist, die diese intensiven Behandlungen selber bezahlen können. Daher werden solche Behandlungen eigentlich viel spärlicher. Zudem gibt es recht wenig Kollegen, die den Mut haben, sich mit diesen Patienten psychoanalytisch auseinander zu setzen. Ich würde eigentlich vermuten, dass dies mehr in Deutschland geschieht. Ich meine, so ist es wenigstens bis vor kurzer Zeit gewesen.

PiD: Wenn wir versuchen zu verstehen, warum es so ist, könnten wir dazu Analogien heranziehen zwischen diesen Verhältnissen und den psychoanalytischen Konzepten, insbesondere natürlich auch den Konzepten, die Sie in Ihren Büchern beschrieben haben. Können wir nicht behaupten, es handelt sich um eine Über-Ich-Problematik, die sich hier abbildet, gewissermaßen auf der gesellschaftlichen Ebene verdoppelt? Was halten Sie von einem Zusammenhang zwischen der individuellen Über-Ich-Pathologie der Sucht und einer gesellschaftlich angelegten Über-Ich-Problematik der Sucht?

L. Wurmser: Also sicher ist eine wichtige Brücke zwischen den beiden die Grunddynamik bei Drogensüchtigen, oder ein Teil der Grunddynamik, nämlich das, was ich als „Flucht vor dem Gewissen” beschrieben habe, dass die Abwehr gegen das Über-Ich, eine Abwehr gegen die Gewissensseite, mithilfe der Droge darstellt, und das ist natürlich enorm provokant gegen die, die sich ans Über-Ich halten.

PiD: Genauer gegen die, die das Über-Ich vertreten?

L. Wurmser: Ja, die das Über-Ich vertreten, aber es auch schon in ihrem weiteren Leben als selbstverständlich oder auch als nicht selbstverständlich aufrechtzuerhalten suchten. Damit wird der Gesetzesbrecher im Allgemeinen und der Über-Ich-Bekämpfer durch Drogen im Speziellen zu einem Provokant, nämlich der, der abgewehrte Wünsche in „normale” verwandelt, der also die Rebellion gegen das Über-Ich verwirklicht. Wir alle haben einen starken Konflikt damit. Wir alle haben ein Gewissen, das uns vieles verbietet, das wir gerne hätten, und keiner von uns ist gefeit dagegen, dass er irritiert wird, wenn jemand anderer sich darum kneift. Und es ärgert uns!
Ich muss eigentlich auch sagen, mit zunehmendem Alter fällt es mir schwerer, mit diesen Patienten zu arbeiten. Vielleicht gerade aus diesen Gründen, die ich jetzt erwähne. Zwar verstehe ich soviel mehr, als ich vor 40 oder 30 Jahren verstanden habe, aber es gibt eine innere Veränderung. Nicht so sehr dass das Über-Ich stärker wird, das würde ich nicht sagen, sondern dass man es weniger versucht, dass man des inneren Kampfes müde wird.

PiD: Ich möchte Sie etwas Persönliches fragen, also nach Ihrer Gegenübertragung fragen. Würden Sie sagen, dass Sie müde werden, weil Sie milder werden und Sie merken, dass dieses zu wenig bewirkt? Oder ist es mehr, dass Sie daran müde werden, immer wieder eine bestimmte stringente Haltung einnehmen, Struktur geben zu müssen? Oder werden Sie müde, dass der Patient immer wieder und immer wieder dagegen angeht? Dass es iwie eine Sisyphusarbeit erscheint?

L. Wurmser: Es ist ja und nein, von allem etwas. Es ist nicht so sehr, dass ich eine sehr stringente Haltung einnehme. Ich versuche ja relativ wenig zur äußeren Autorität zu werden, um mit diesen Patienten zu arbeiten. Die soll eigentlich besser von anderen Faktoren in der Außenwelt vertreten werden. Aber es ist die Schwere des Kampfes, das sich ständig Wiederholende, das Heroische der Arbeit, wo ich sage, es ist schon genug.
Ich arbeite jetzt mit Patienten, die zwar immer noch schwer krank sind, aber wo mir auch eher ein Gefühl der Dankbarkeit, des Positiven entgegenkommt. Ich lehne die Patienten mit Drogensucht oder Alkoholismus nicht ab, aber es fällt mir schwerer. Wobei ich freilich sagen muss, dass sich meine ganze Arbeit radikal verschoben hat. Gerade wegen der Versicherungsproblematik habe ich viel weniger Patienten hier, viel mehr Supervisionen, vor allem durchs Telefon mit Europa. Und es gibt Patienten, die von Europa kommen, die mit mir in intensiven Intervallen arbeiten, und da ist die Auswahl plötzlich radikal anders. Im Moment habe ich sehr viel Suchtprobleme in den Supervisionen, aber keinen eigenen Fall mit Suchtproblematik und das ist für mich gut zu vertreten.

PiD: Ich kann das verstehen. Es gibt Ihnen eine große Befriedigung, mit Multiplikatoren zu arbeiten, und das, was Sie an Wissen und Erfahrung gesammelt haben, über Supervision zu verteilen.

L. Wurmser: Ganz richtig, und den Rücken stärken, neue Wege zu finden. Gerade mit so äußerst schweren Patienten, ohne dass ich mich selber in den heroischen Kampf hineinstürzen muss.

PiD: Junge Kollegen in Kliniken neigen anfänglich dazu, entweder auf die strenge Über-Ich-Seite zu geraten und sich dann im Zuge von projektiven Identifikationen damit zu identifizieren. Oder aber sie wehren diese Seite ab, um die narzisstische Gratifikation, als gute und erfolgreiche Therapeuten dazustehen, zu erlangen, und geraten so in Kollusion mit den Patienten.

L. Wurmser: Genau, beides ist eine Gefahr. Ich hab das schon einmal so beschrieben: neither collusion nor condemning, also weder Nachsicht noch Verurteilung. Das eine ist zuviel auf der Es-Seite stehend und das andere ist völlig auf der Über-Ich-Seite stehend. Das Richtige ist auf der Ich-Seite zu stehen, nämlich mit dem Patienten zu beraten: Was jetzt? Dass die Patienten selber anfangen, auf das Problem einzugehen. So wie ich es z. B. beim Fall Albert beschrieben habe. Das Eingehen ist eben weder Verurteilen noch Verzeihen.

PiD: <$>raster(11%,p)="LOGO_PID"<$>Sie sagten, Sie werden müder mit dieser Art von Therapie. Könnten wir diese Beobachtung auch einmal auf der Ebene der am Suchtgeschehen beteiligten Aggression betrachten? In der Psychoanalyse gab es bekanntlich von Anfang an große Diskussionen, ja sogar Kämpfe über die Rolle und die Bedeutung der Aggression und des Aggressionstriebes. 1908 hat Alfred Adler bekanntlich die Einführung eines Aggressionstriebes gefordert, und er musste gehen. Erst 1920 hat Freud den Aggressionstrieb wieder übernommen.
Ich dachte, vielleicht ist es für Sie möglich, diese Entwicklung in der analytischen Theoriebildung auch an sich selbst, der eigenen Entwicklung zu verstehen. Ändert sich etwas im Verständnis vom Menschen, wenn man älter wird, dass man seine Auffassungen ändert oder anders damit umgeht, natürlich auch mit dem analytischen Verständnis der Aggression des Menschen?

L. Wurmser: Ja, ja, ja. Meine eigene Einstellung zur Aggression ist die, die Stephan Mitchell vor etwa zehn Jahren sehr schön im Psychoanalytic Quarterly beschrieben hat. Ich habe das in meinem Buch „Magische Verwandlung und tragische Verwandlung” zusammengefasst, nämlich die Aggression zwar als etwas biologisch Gegebenes, aber psychologisch immer Sekundäres aufzufassen. It’s hard wired -, aber dass Sie ausgelöst wird, hat ihre Gründe. Es ist also nicht einfach ein Instinkt, der treibt wie der Hunger oder wie der Durst. Mit der Aggression sieht es eher wie mit den Verhältnissen in der Sexualität aus. Auch sie ist nicht einfach ein biologischer Trieb, der dann lange ruht, bis er sich Ventil sucht. Da bin ich sehr gleicher Meinung. Mitchell sagte, dass Aggression mobilisiert wird, wenn die Integrität des Selbst bedroht wird oder beschädigt wurde.
Ich setze es eher in Zusammenhang mit Scham bei tiefen Kränkungen, bei tiefen Verletzungen des Selbstgefühls, dass das eine ganz primäre Wurzel, primäre Quelle für Aggressionsauslösung ist. Auch das Ungerechtigkeitsgefühl, das Ressentiment ist eine weitere. Wenn man sich körperlich nicht gut fühlt, also wenn man sich auch körperlich geschädigt fühlt, mobilisiert das Aggression. Und natürlich gibt es auch hier eine endogene Pathologie, nämlich wenn fokale Zentren so beschädigt sind, dass da auch auf primärer körperlicher Ebene Aggression mobilisiert wird. Aber ich sehe vor allem den ersten Punkt als den psychotherapeutisch maßgeblichen. Meine Haltung gegenüber der Aggression ist deswegen auch eine ganz andere, als wenn man denkt, sie sei etwas Primäres, das eingeschränkt werden muss. Meine Einstellung ist: Aggression ja, aber warum? Was steht dahinter? Es steht immer etwas dahinter. Es ist immer begründet. Innerlich ist es begründet. Damit kann man arbeiten.

PiD: Ich habe vor einiger Zeit Freuds Auffassung zur Aggression wieder gelesen, und mir wurde klarer, ähnlich wie Sie sagen, dass Freud von Anfang an unter menschlicher Aggression den Aggressionstrieb als einen psychischen Trieb verstanden hat. Also der Trieb ist bei Freud eine psychische Kategorie, eine psychische Entwicklung, die natürlich übereinstimmt mit der Selbstentwicklung. Es ist ein sich entwickelndes, heute würde man sagen, motivationales System des Selbst, das in seiner Entwicklung gefährdet und gestört werden kann.

L. Wurmser: Ja, er hat ja in der Mittelphase seiner Triebtheorien den Selbsterhaltungs- oder Ich-Trieb der Libido gegenübergestellt und das würde dem viel mehr entsprechen, was ich sage. Und ich fand eigentlich seinen Übergang zum Todestrieb viel schwieriger nachzuvollziehen. Wohingegen Selbstbehauptung, oder wie er es auch sagt der Wunsch oder Trieb zur Bemeisterung, mir immer psychotherapeutisch viel mehr Sinn gab, mir sinnvoller erschien.
Auch Rangell hat vor etwa 30 Jahren das aufgeworfen, und vor 20 Jahren hat er sich auch dafür ausgesprochen, dass die mittlere Triebtheorie von Freud der klinischen Wirklichkeit am nächsten kommt.

PiD: Die Aggressionstheorie oder die Konzepte der Aggression spielen ja im Verständnis von Sucht eine große Rolle. Wir haben vorhin über die Abwehr gegen das Über-Ich und über strenge Sanktionen, die zur Über-Ich-Pathologie gehören, gesprochen. Als Folge werden Unbehagen und Spannungen ausgelöst. Würden Sie auch sagen, dass sich aus der Über-Ich-Pathologie also aggressive Entwicklungen aufbauen?

L. Wurmser: Es läuft ja eigentlich im Kreis. Je mehr Aggressionen, desto harscher das Über-Ich, je harscher das Über-Ich, desto mehr Aggressionen. Und es ist auf jeden Fall eine ganz in sich verzahnte Problematik. Aber ich sehe beide als sekundär an, wenn ich mit dem Patienten arbeite. Ich frage mich, was steht dahinter: zum Beispiel die Hilflosigkeit oder das Nichtgesehenwerden in der Familie durch die Eltern? Oder schwere körperliche Erkrankungen oder Behinderung von früher Kindheit an? Oder ein überstarkes Gewissen, das gefordert wird und dann umgekehrt zur Rebellion führen muss? Unterdrückte Aggressionen daheim? Traumata spielen eine Rolle, auch die gesamte Familiendynamik weit über Traumatisierungen hinaus muss mit in Anschlag gebracht werden.

PiD: In dem Zusammenhang sprechen Sie ja in Ihren Veröffentlichungen immer wieder von der schweren Neurose und manchmal gehen Sie davon aus, dass es eine herauszuarbeitende schwere Konfliktpathologie gibt, durch die die Entwicklung des Patienten zu verstehen ist. Gehen Sie auch demgegenüber, so ähnlich wie es Otto Kernberg sagt, davon aus, dass es Defizite in der psychischen Entwicklung gibt?

L. Wurmser: Wie in allem Psychischen sehe ich es nie, fast nie als ein Entweder-Oder, sondern als ein Sowohl-Als-Auch an. Und ich glaube, bei jeder Neurose spielen Defizite mehr oder weniger eine Rolle, die nachgeholt werden können oder auch nicht nachgeholt werden können. Gerade z. B. Defizite der Affektregulierung, die pan-phasisch sind und oft auf die frühe Entwicklungszeit zurückgehen, halte ich für enorm wichtig. Aber je schwerer solche Defizite, desto schwerer die Konflikte. Also ist es nicht entweder Defizit oder Konflikt: Je mehr das eine, desto stärker das andere. Je größer die Konflikte, desto größer die Defizite. Auch das ist ein Kreisvorgang, nicht ein Entweder-Oder.

PiD: Wird das vielleicht von Kernberg zu sehr kontrapunktisch gesehen?

L. Wurmser: Absolut. Ja, ich hab’ mich ja überhaupt weitgehend in meinen Theorien und auch in meiner Technik als Kontrapunkt zu Kernberg entwickelt. In meiner Arbeit mit diesen schwerkranken Patienten habe ich einen Pfad aufgenommen, der sehr dezidiert anders ist als der von Kernberg. Aber auch hier würde ich es nicht als Entweder-Oder sehen. In manchen Situationen sehe ich seine Zugangsweise als sehr notwendig an. Besonders in akuten Krisen und bei schweren Dekompensationen. Und umgekehrt, wenn ich seine Fallschilderungen heute höre, in der Folge, so wie er sie in Lindau gebracht hat, finde ich mich sehr stark übereinstimmend.
So ist vielleicht der Gegensatz im großen Ganzen eher artifiziell in der Theorie und in der Beschreibung, dass man eher theoretisch extremere Positionen vertritt als es dann am praktischen Fall so wäre. Aber wir haben auch schon am konkreten Fall kurz diskutiert und da ist seine Einstellung so viel konfrontativer als die meine. Meine Einstellung ist, dass ich im großen Ganzen viel besser fahre, wenn ich auf eine viel weniger konfrontative Weise vorgehe, aber dass es Momente gibt, in denen auch ich da zugreifen muss. Dabei spielt sicher auch die Persönlichkeit eine Rolle. Die eine Person fühlt sich mehr zu Hause, mehr komfortabel mit einem forscheren konfrontierenden Vorgehen und der entsprechenden Theorie und eine andere Person mehr mit einem entsprechenden Gegenstück.

PiD: Ich verstehe, es gibt mehrere Gründe für die Entwicklung des theoretischen Standpunktes? Könnte man vielleicht sagen, dass Sie der klassischen Psychoanalyse mit Theorie des Unbewussten, Triebtheorie und Strukturtheorie näher stehen als Kernberg mit der Entwicklung der Objektbeziehungstheorie? Würden Sie es so sehen?

L. Wurmser: Ich würde es eher so sagen, dass der Hauptunterschied der ist wie zwischen Anna Freud und Melanie Klein. Nämlich wie man mit inneren Konflikten umgeht. Ob man den inneren Konflikt von der Triebseite aus behandelt oder mehr von der Abwehrseite aus. Meine Haltung ist hier, viel mehr von der Abwehrseite auszugehen, von der Angst vor den Wünschen, den Affekten und Trieben, während Kernberg eher von einer direkten Konfrontation mit den Triebabkömmlingen und den Affekten ausgeht. Ich selber spreche eigentlich von einer Komplementarität auch hier von Objektbeziehungsanalyse oder Beziehungsanalyse - relational analysis - mit Strukturanalyse.
Intrapsychisch oder interpersonell, das sind falsche Entweder-Oder, auch heute wieder. Die Slogans sind zum Teil so übervereinfacht, so vieles, was unter Objektbeziehungstheorie läuft, ist im Grunde genommen Triebdynamik und nicht Objektbeziehung. So vieles, was unter Selbstpsychologie geht, ist wirklich Beziehungs-Theorie heute. Die Begriffe sind oft mehr plakativ als dass sie eine unterscheidbare Richtung widerspiegeln.

PiD: Aber es hat ja viele Konsequenzen für das Verständnis der Gegenübertragung. Das ist ja sehr entscheidend für den technischen Umgang mit dem Patienten, insbesondere auch mit Suchtpatienten.

L. Wurmser: Enorm wichtig.

PiD: Sie sagten ja, Sie verstehen Kernberg mehr von der Triebseite ausgehend und konfrontierend. Das würde ja auch heißen, dass man aus dieser Position mehr in die unmittelbare Interaktion eintritt. Heißt das, Sie arbeiten mehr aus einem Verstehen der Abwehr und also aus der Deutung dieser Abwehrseite, um sie dem Patienten zugänglich zu machen?

L. Wurmser: Ich glaube, die zwei Begriffspaare sind unabhängig voneinander. Das Begriffspaar „Abwehr gegenüber Trieb” und „interaktionell gegenüber intrapsychisch” sind zwei unabhängige Variablen. Wenn ich rückblickend auf meine eigenen Arbeiten mit Patienten schaue, war ich doch immer auch sehr interaktionell.
Ich war immer, auch wenn ich Lippendienst der klassischen Technik leistete, viel interaktiver als es z. B. meine Lehrer waren, und hab’ das eigentlich erst im Laufe der Jahrzehnte eingesehen, dass das richtig ist und dass ich mich nicht dafür schämen muss. Darum sag’ ich, die Polarität ist „intrapsychisch gegenüber interaktionell”, es ist beides nötig. Ich bin sehr aufs Intrapsychische orientiert, und ich achte auch sehr auf die Interaktion. Und damit brauche ich die Gegenübertragung auch sehr stark, aber es hängt davon ab. Das heißt nicht, dass ich mich ständig enthülle oder dass ich ständig meinen Ärger ausdrücke, ich bin sehr kontrolliert in der Weise, wie ich mich gegenüber dem Patienten zeige.
Aber es ist ein wichtiges Signal für mich, immer wieder ein Ansporn: Was versteh’ ich nicht und was kann mir Gegenübertragung zeigen? Oder wie kann ich es vermeiden, die Gegenübertragung zu missbrauchen? Ich sehe viel zu viel Bereitschaft, Aggressionen in der Gegenübertragung loszulassen. Ich halte das zumeist für verfehlt. Es gibt Momente, in denen es sehr wichtig und hilfreich ist zu sagen: „Aber jetzt ist genug!! Ich ertrag das nicht mehr!!” Das ist zum Beispiel ein ganz deutliches Auftreten. Aber das sind Ausnahmen, nicht wahr.

PiD: Das wäre dann technisch ein Offenlegen der eigenen Reaktion. Ein Offenlegen der Gegenübertragung.

L. Wurmser: Absolut, und das kommt bei mir vor, fast in jeder Behandlung vielleicht ein-, zweimal, aber selten, selten. Dann hat es auch sehr großes Gewicht, kann auch zum Abbruch führen. Umgekehrt habe ich auch schon ganz hoch aggressive Patienten gehabt, bei denen ich dann auch sehr ungeniert geantwortet habe, mit gleicher Münze geantwortet habe: „Sie stellen mich hier als einen totalen Idioten hin . . .!”

PiD: Damit kommen wir auf ein bekanntes Problem. Wir geraten, indem wir diese Entwicklung alle mitmachen - wir sind ja alle bereit im Sinne einer moderner werdenden Psychoanalyse auch das Gegenübertragungskonzept weiterzuentwickeln - manchmal auch an einen Punkt, an dem wir sagen müssen, das ist aber so nicht mehr „analytisch”. Man kann sich nicht nur aus seinem Verstehen heraus ausbreiten und ausleben, wir brauchen doch immer noch ein Stückchen gewissermaßen -

L. Wurmser: - Abwägen der Intuition -

PiD: - ja, im Sinne einer professionellen therapeutischen Ich-Spaltung, diese Begleitung in der therapeutischen Begegnung! Also, es kann nicht alles, was der Therapeut tut, im Nachhinein immer als sinnvoll begründet sein.

L. Wurmser: Sie sagen das ganz genau richtig, und ich habe die Sorge, dass manchmal gefährlicherweise eine Gegenrichtung eingeschlagen wird: Gegenüber der Spiegelhaltung, dieser absolut gehaltenen Neutralität und Abstinenz, ist es jetzt ein Mitagieren mit dem Patienten, und beides ist schädlich. Ich muss sagen, je länger ich arbeite, desto mehr sehe ich als die zwei zentralen Begriffe der ganzen Psychoanalyse und Psychotherapie „Konflikt und Komplementarität”. Alles muss vom Konflikt aus verstanden werden, aber dieser Widerstreit der Kräfte vor allem auch in dem, was Analytiker tun, muss auch komplementär verstanden werden.
Eben wie gesagt: genaue Übertragungsanalyse ja, aber Ausdrücken der Gegenübertragung nur unter bestimmten Bedingungen. Es muss beides in einer fein balancierten Komplementarität geschehen. Und jeder entscheidet die Balance etwas anders. Ich gehe sicher viel mehr in diese Richtung der Übertragungsanalyse, vor allem der Analyse der Abwehrvorgänge in der Übertragung (Übertragung von Abwehr und Über-Ich), und des Reflektierens als viele andere heute und weniger in das direkte Ausdrücken der Gegenübertragung, in das Mitagieren in der Interaktion. Es sollte eine weise Balance sein.

PiD: Welche Orientierung wollten Sie denn aufgrund Ihrer Erfahrung, auch in Lehre und Supervision, gerade den Kollegen geben, die jetzt heutzutage Psychoanalyse lernen, die ja genau in diese Strömungen geraten, so wie Sie sie gerade beschrieben haben? Was ist notwendig zu lernen, damit wir noch sagen können, das verstehen wir als analytisch?

L. Wurmser: Ich würde sagen, der Fokus in der analytischen Arbeit ist ständig die Frage, was ist der Konflikt jetzt im Moment und wie gehe ich am besten damit um, dass er vom Patienten verstanden und bearbeitet werden kann. Wenn ich agiere, verstehe ich nicht; und wenn ich ein kalter Fisch bin, ist mir die Konfliktbearbeitung auch nicht möglich. Sie geht verloren. Das Affektive gehört dazu, ich muss da sein, emotionell präsent sein in der analytischen Arbeit.

PiD: Wobei dieses zu entwickeln, verlangt ja wahrscheinlich auch eine bestimmte innere voranalytische Haltung, man könnte sagen, eine bestimmte humanitäre Haltung.

L. Wurmser: Ja, das humanistisches Herangehen.

PiD: Mir ist aufgefallen, Sie haben in Ihrem Buch „Die verborgene Dimension” beklagt, dass heutzutage in der Erziehung zu wenig für humanistische Bildung getan wird. Sehen Sie da Zusammenhänge zu dieser therapeutischen Grundhaltung?

L. Wurmser: Ja, die Verflachung des Denkens, die Übervereinfachungen sind eine ständige Gefahr. Die Bildung hat in der ganzen Welt heute eine so starke Gewichtung zugunsten des Technischen und weg von den humanistischen Fächern, vor allem auch von Geschichte und Literatur, dass wir es uns schwerer machen, mit Menschen umzugehen. Das Technologische steht leider zu sehr in einer Art Gegensatz zur Geschichte - und Psychoanalyse und Psychotherapie sind nun mal eben Individualgeschichte.

PiD: Herr Wurmser, wir nähern uns jetzt auch der 50-Minuten-Grenze, wir kommen zum Schluss. Wo könnten wir ansetzen in der analytischen Ausbildung, damit es weitergeht? Was ist wichtig in der analytischen Ausbildung, damit diese nicht verflacht oder sich in Richtung Rückschritt verändert? Was ist Ihre Idee, in welche Richtung sollten wir weiter arbeiten?

L. Wurmser: Im Grunde genommen möchte ich wiederholen, was ich vorhin gesagt habe: immer an „Konflikt und Komplementarität” denken, immer an die humanistische Seite und nicht nur an die humanitäre, sondern eben die humanistische Seite unserer Arbeit denken!
Dass eben Literatur uns näher steht als - sagen wir - psychologische Ausbildung und weit mehr als die medizinische Ausbildung. Psychologie und Medizin sind wertvolle Hilfsmittel, aber Literatur und die Geschichte sind ebenso unerlässliche Bestandteile, um gute Analytiker zu werden. Auch ein Verstehen der Religion, ein positives Bewerten der Religionsgeschichte, nicht im dogmatischen Sinne, sondern in der geschichtlichen Entwicklung dieser großen Mächte mit ihren gewaltigen Gefahren!
Das wäre das eine, das andere ist dieses dumme Alles-über-einen-Leisten-Schlagen. Zum Beispiel gehen so viele Fachleute heute lieber mit Medikamenten um, statt sich mit dem Innerpsychischen und Interaktionellen eines Patienten zu beschäftigen. Oder was ich für sehr verfehlt halte: diese Psychotherapierichtlinien in Deutschland von maximal 300 Analysestunden. Nämlich dass Patienten, die nicht analytisch behandelt werden können, manchmal trotzdem mit 240 bis 300 Stunden behandelt werden. Da könnte man einerseits viel einsparen, andererseits wird eine künstliche Grenze von 300 Stunden auch bei schwer Kranken gesetzt. Das ist doch - Entschuldigung! - hirnverbrannt! Die brauchen immer das Doppelte und Dreifache davon und lieber vier- oder fünfmal wöchentlich als dreimal wöchentlich, um wirklich voranzukommen. Aber mit jedem Patienten ist es anders. Ich habe sehr gute psychotherapeutisch wirksame Langzeittherapien gehabt mit Leuten, die ich nur zweimal wöchentlich oder sogar intermittierend gesehen habe. Ich hielte es für wünschenswert, dass eine viel größere Flexibilität gegeben wäre und dass die ökonomischen Gesichtspunkte zwar zu berücksichtigen sind, aber nicht immer in einer so standardisierten Weise angewandt werden sollten, sondern dass ein viel größerer Spielraum für Therapeuten und Patienten in beide Richtungen möglich wäre!
Es wird zu viel psychoanalytisch behandelt, was besser mit Psychotherapie behandelt werden kann, und viel zu wenig wird analytisch behandelt, indem man auf die 3-Stunden-Woche und die beschränkte Stundenzahl achten muss.

PiD: Das ist diese Künstlichkeit und Standardisierung von Psychotherapierichtlinien.

L. Wurmser: Das halte ich für etwas dem Geist der Psychoanalyse Feindliches.

PiD: Würden Sie dann sagen, es käme dem Geist der Psychoanalyse näher, wenn alles gar keine Kassenleistung wäre?

L. Wurmser: Das ist auch problematisch, wie ich es bei uns in USA sehe. Denn wenn die Patienten keine Kassenleistung erhalten, kommen sie auch nicht in die Analyse. Oder es sind dann nur die relativ Wohlhabenden, z. B. Ärzte, die es sich leisten können.
Gegenüber dem reglementierenden Vorgehen in Deutschland scheint mir Folgendes besser zu sein: nur 50 % Kostenübernahme durch die Kasse, aber dafür unbeschränkt in der Dauer und ohne die Frage, ob zwei-, drei-, vier- oder fünfmal wöchentlich.

PiD: Ja, das ist eine sehr originelle Idee, 50 % - aber dafür unbeschränkt. Ich möchte vorschlagen, dass wir mit diesem Blick auf die Realitäten und mit diesem Ausblick enden. Herzlichen Dank für das Gespräch.

1 Das Interview führte Klaus W. Bilitza am 27. 12. 02 in Towson, einer Kleinstadt in der Nähe von Baltimore MD USA, in der Praxis von Léon Wurmser.