Alkohol- und Drogenkonsum im 21. Jahrhundert
Alkohol- und Drogenkonsum im 21. Jahrhundert
In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurde zunehmend deutlich, dass Alkohol-
und Drogenkonsum (auch Heroin oder Kokain) nicht notwendigerweise zu Missbrauch oder
Abhängigkeit führen und dass Cannabis keine Einstiegsdroge zu Kokain- oder Heroinabhängigkeit
ist. Zudem ist inzwischen allgemein bekannt, dass viele (illegale) Drogen nur zeitweilig
und fast ausschließlich in bestimmten Übergangsphasen im Leben konsumiert werden.
Dies gilt eindeutig für Cannabis und Kokain und wahrscheinlich auch für XTC. Zudem
fluktuiert der Gebrauch dieser Substanzen im Laufe der Zeit und passt sich den Trends
der Jugendkulturen an.
Die Konsummuster der eher traditionellen Drogen wie Tabak und Alkohol (und Kaffee)
weichen sehr hiervon ab. Alkohol- und Tabakkonsum war in der westlichen Welt eng mit
dem steigenden Lebensstandard nach dem 2. Weltkrieg verbunden; seit den 90er-Jahren
sind die Konsummuster stabil. Wer mit dem Konsum dieser Substanzen anfängt, tendiert
dazu, weiter zu konsumieren, wobei eine beträchtliche Minderheit die Kontrolle verliert
und süchtig wird. Der fortgesetzte Tabakkonsum hängt sicherlich mit seinem hohen Missbrauchspotenzial
zusammen. Fortgesetzter Alkoholkonsum dagegen scheint mit der sozialen Rolle zusammenzuhängen,
die der Alkohol in modernen westlichen Gesellschaften spielt, sowie mit dem Trinkritual,
das für die meisten Konsumenten die Basis für langen kontrollierten Konsum bietet.
Insgesamt ist Drogenkonsum - als bewusster und beabsichtigter Weg, andere Bewusstseinszustände
herbeizuführen - ein weitgehend akzeptiertes Element des modernen Lebens mit seinen
liberalen Werten und hohem Toleranzniveau. Darüber hinaus spielt der sozial akzeptierte
und oft stark ritualisierte Konsum neuer Drogen eine Rolle bei „cocooning events”
und in neuerer Zeit bei Raves und in Discos. Angesichts der gegenwärtigen Entwicklungen
in Europa scheint es nicht länger undenkbar, dass sich in den nächsten 30-50 Jahren
eine weitere Liberalisierung und wahrscheinlich vollständige Legalisierung mit einem
staatlich kontrollierten Markt aller Drogen in der westlichen Welt entwickeln wird.
Alles in allem scheint der Konsum von Alkohol und Drogen mit Verfügbarkeit und Wohlstand
zusammenzuhängen, während die Sucht nach Alkohol und Drogen immer noch mit Armut und
fehlenden Entfaltungsmöglichkeiten zusammenhängt. Dies trifft sowohl innerhalb der
ethnischen Gruppen als auch zwischen den ethnischen Gruppen zu; höhere Suchtraten
finden sich in den sozial unteren Klassen und bei ethnischen Minderheiten mit ihren
sozialen Benachteiligungen.
Sucht im 21. Jahrhundert
Sucht im 21. Jahrhundert
Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wurde Suchtverhalten allgemein als Resultat oder
Ausdruck moralischer Schwäche und antisozialen Lebenswandels gesehen (moralisches Modell): Regelmäßige Trunkenheit galt als Trunksucht und nicht als Alkoholsucht. Folglich
wurden Süchtige ins Gefängnis geschickt, um sie von der übrigen Gesellschaft zu trennen
oder um sie zu verantwortlichen Bürgern moralisch umzuerziehen. Zudem wurde eine allgemeine
Reformbewegung zur Förderung der Moral der sozial Unterprivilegierten populär, der
sich fortschrittliche Abstinenz-Aktivisten und politische Reformer anschlossen. Die
industrielle Revolution assoziierte den Alkohol mit verringerter Effizienz und Produktivität
und Alkohol schien alle Übel der sich entwickelnden urbanen Szene zu verschlimmern.
In dieser Zeit wurde ebenfalls der Konsum von Opiaten und Kokain zunehmend suspekt
und mit den gleichen Übeln wie Alkohol assoziiert.
In den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts fand eine Verschiebung der Verantwortlichkeit
für Suchtverhalten statt, die allmählich von der unmoralischen Person auf die gefährliche
(d. h. suchtauslösende) Substanz übertragen wurde (pharmakologisches Modell). Folglich war die einzig „rationale” Antwort eine starke Abstinenzbewegung mit totaler
Alkoholprohibition (einschließlich Opiaten und Kokain): Jeder Einzelne war ein potenzielles
Opfer der gefährlichen Substanz und die einzige Lösung schien ein totales Verbot des
Übels selbst, nämlich Alkohol und Drogen, zu sein. Folglich wurden mit großer Eile
und großer Überzeugung nationale Gesetze gegen Alkohol und internationale Gesetze
gegen Rauschgifte verabschiedet. Die meisten totalen Prohibitionsversuche führten
jedoch zur Herstellung von häufig gefährlichen (z. B. Methylalkohol) illegalen Produkten
von hoher Konzentration (z. B. Spirituosen) und geringer Qualität, zu illegalen Vertriebskanälen
und vermehrter Kriminalität von Herstellern, Verteilern und Kunden. Die positiven
Effekte für die nationale Gesundheit wurden zudem oft infrage gestellt. Dieses pharmakologische
Suchtmodell scheint in Bezug auf Alkohol völlig veraltet, aber trotzdem berufen sich
viele Bürger und Politiker darauf, wenn es um das Suchtpotenzial von Kokain und Heroin
geht. Wieder wird totale Prohibition propagiert und wieder findet ein „Drogenkrieg”
statt, wieder mit den gleichen Nutznießern und den gleichen Opfern.
Mit der Blütezeit der Psychoanalyse in den 30er-Jahren wurde das psychodynamische
Suchtmodell populär. Nach diesem Modell ist Sucht eine von vielen möglichen Manifestationen
oder Symptomen einer zugrunde liegenden Charakterneurose oder Persönlichkeitsstörung
(symptomatisches Modell). Folglich sollten Süchtige wegen dieser ernsten, implizit chronischen zugrunde liegenden
Störung behandelt werden, sei es durch ambulante Psychoanalyse oder durch stationäre
Behandlung in einer therapeutischen Gemeinschaft. In einigen westlichen Ländern ist
letztere Behandlung immer noch sehr beliebt und bildet den Kern der Alkohol- und Drogenbehandlung.
In den 50er- und frühen 60er-Jahren wurden die Gründe für süchtiges Verhalten allmählich
von der Psychologie auf die Biologie des Patienten verlagert. Psychologisch beeinträchtigte
Personen waren nicht mehr von vornherein durch Alkohol und Drogen gefährdet, sondern
lediglich Personen mit einer inhärenten biologischen Vulnerabilität für Sucht; Süchtige
wurden jetzt als physisch unterschiedlich von Nicht-Süchtigen angesehen (Krankheits- oder medizinisches Modell). Totale Prohibition war nicht länger erforderlich; nur latent und manifest Süchtige
sollten vom Alkohol und allen anderen potenziellen Suchtmitteln ferngehalten werden.
Daher war Entgiftung der einzig realistische Behandlungsansatz und totale Abstinenz
für den Rest des Lebens das einzig realistische Behandlungsziel.
Mit zunehmender Beliebtheit des Alkoholkonsums in den späten 50er- und frühen 60er-Jahren
und der Cannabis-Epidemie in den Sechzigern verlor das medizinische Modell an Popularität
und schien weniger plausibel. Das biopsychosoziale Modell der Alkoholabhängigkeit
von Gross und Edwards in den späten 60er- und frühen 70er-Jahren kam daher nicht überraschend;
es betont den relativen Unterschied oder die Kontinuität von Konsum, Missbrauch und
Abhängigkeit, die quantitativen Unterschiede der persönlichen Vulnerabilität und den
Stellenwert von Lernerfahrungen und sozialen Umständen (biopsychosoziales Modell). 1976 ergänzte die niederländische Regierung dieses Modell durch das Konzept der
quantitativen Unterschiede der Suchtpotenziale der verschiedenen Missbrauchssubstanzen,
wobei Cannabis mit seinem angenommenen niedrigen Suchtpotenzial abgegrenzt wurde von
anderen Substanzen mit höherem Suchtpotenzial wie Heroin, Kokain und Amphetamine.
Mit der legalen Trennung zwischen harten und weichen Drogen verfolgte die niederländische
Regierung das Ziel, die Märkte dieser unterschiedlichen Substanzen zu trennen, um
so die Konsumenten weicher Drogen vor Kontakten mit der harten Drogenszene und ihrer
Kriminalität zu schützen. Dieses Modell war das Leitprinzip der verschiedenen niederländischen
Regierungen und scheint als Modell und Strategie in immer mehr europäischen Ländern
akzeptiert zu werden. Dieses Multifaktoren-Kausalitätsmodell ist mit fast allen Behandlungsansätzen
vereinbar. Mehrere Behandlungsmodelle und Strategien wurden entwickelt mit Schwerpunkt
auf die jeweiligen Elemente, die das Suchtverhalten einer Person auszulösen oder für
Veränderungen am zugänglichsten schienen.
In den 90er-Jahren erlebte das medizinische Modell eine Renaissance. Es betonte sehr
stark die genetische Vulnerabilität und die qualitativen irreversiblen Schäden der
Gehirnfunktionen nach wiederholtem schweren Suchtmittelkonsum. Dies galt als Hauptursache
für unkontrolliertes „drug seeking behaviour” und Rückfall (brain disease model) und führte dazu, dass kurze verhaltenstherapeutische Behandlungen und neue pharmakologische
Interventionen immer beliebter wurden, oft auf Kosten von langfristiger, tiefenpsychologischer
Therapie mit dem Ziel persönlicher Veränderung, Wachstum und Reife.
Schwer zu beantworten ist die Frage, ob Alkohol- und Drogenkonsum sich im Laufe des
letzten Jahrhunderts (in den westlichen Gesellschaften) dramatisch verändert haben.
Die Zahl der Alkoholabhängigen ist seit den 90er-Jahren relativ stabil geblieben.
Das Gleiche scheint für die Heroinsucht zu gelten, die, nach einem epidemieartigen
Anstieg in den 70er- und 80er-Jahren, seit den späten 80er-Jahren in den meisten westeuropäischen
Ländern stabil blieb. Die künftige Entwicklung von Kokain- und Amphetaminsucht scheint
am wenigsten transparent und vorhersehbar zu sein, aber es könnte sich herausstellen,
dass Kokainabhängigkeit im Grunde eine sich selbst begrenzende Krankheit ist. Abhängigkeit
von Cannabis, XTC und (anderen) Halluzinogenen wird wohl kaum ein hohes Niveau erreichen,
sei es wegen des geringen Suchtpotenzials, der Selektion der Konsumenten mit anscheinend
geringen Vulnerabilitätsprofilen oder wegen des Kontextes, in dem diese Substanzen
konsumiert werden.
Suchtbehandlung im 21. Jahrhundert
Suchtbehandlung im 21. Jahrhundert
Die Suchtmodelle veränderten sich im Laufe der Zeit und mit ihnen die Behandlungsziele,
Interventionsstrategien und therapeutischen Ansätze. Einige der überholten Modelle
scheinen zurzeit jedoch in der Politik bestimmter Länder (z. B. der „Drogenkrieg”
in den USA), in einigen Behandlungsideologien (z. B. Drogensüchtige als unmoralische
Kriminelle) und in einigen Behandlungsansätzen und Techniken (z. B. Umerziehungslager)
zu überleben. Die wichtigsten, häufig miteinander im Zusammenhang stehenden Veränderungen
der Suchtbehandlung können wie folgt zusammengefasst werden:
-
von der Einheitstherapie für alle Süchtigen zu unterschiedlichen Therapien für die
verschiedenen Arten oder Untergruppen von Süchtigen in verschiedenen Phasen ihrer
Sucht- oder Behandlungskarriere;
-
von theorie- und ideologiegestützten Therapien zu evidenzgestützten Therapien mit
dem randomisierten klinischen Versuch als goldenem Standard;
-
von konfrontativen Ansätzen zu Motivationsstrategien und einer empathischen Einstellung;
-
von tiefenpsychologischen Therapien für Personen mit Suchtproblemen zu gezielten,
hauptsächlich auf Verhaltensveränderungen ausgerichteten Therapien;
-
von psychodynamischen und psychosozialen Therapien zu verschiedenen Kombinationen
von pharmakologischen und kognitiven Verhaltensinterventionen;
-
von stationären Langzeittherapien zu ambulanten Kurzinterventionen mit anschließender
Langzeitüberwachung;
-
von abstinenzorientierten Therapien zu Therapien mit dem Ziel kontrollierten oder
stabilisierten Konsums, Schadensminderung und Risikominimierung;
-
von klinischer Behandlungszuweisung auf der Basis von professioneller Autorität zu
„administrative stepped-care strategies”;
-
von völlig unstrukturierten, auf Fachwissen basierenden Therapien zu protokollierten
und manualisierten Interventionen;
-
von persönlicher Veränderung und Entwicklung, die in stabile Abstinenz münden, zu
Behandlungs- und Kosteneffektivität als wichtige Erfolgsindikatoren.
Drogenkonsum und Suchtbehandlung in den nächsten Jahrzehnten
Drogenkonsum und Suchtbehandlung in den nächsten Jahrzehnten
Die neuesten Entwicklungen im Bereich des Konsums psychotroper Substanzen und der
Suchtbehandlung und darüber hinaus die Entwicklungen in Kommunikation, Konsumentenemanzipation
und chemischer Technologie bieten die Basis für die Vision eines Zukunftsszenarios
von Drogenkonsum und Suchttherapie in den nächsten Jahrzehnten:
Drogenkonsum
-
größere Verfügbarkeit und größere Bandbreite unterschiedlicher Drogen in verschiedenen
Konzentrationen und für verschiedene Applikationsformen;
-
zunehmend verschwimmende Grenzen zwischen Medikamenten, Drogen, Doping, Gesundheitsprodukten
und Nahrungszusatzstoffen;
-
weitere (weltweite) Liberalisierung, die zur Legalisierung aller Drogen führt (hoffentlich
verbunden mit Qualitäts- und Verteilungsregulierungen);
-
sich verändernde Beliebtheit bestimmter Drogen, stark beeinflusst durch die Trends
der Jugendkultur, sowie größere Vielfalt vor dem Hintergrund von zunehmender Individualisierung
und persönlicher Freiheit;
-
Zunahme des Konsums mehrerer Substanzen verbunden mit der Verschreibung von (psychotropen)
Drogen zur Vermeidung möglicher Schäden;
-
Verfügbarkeit von genetischen Informationen zur individuellen Vulnerabilität für Alkohol-
oder Drogensucht;
-
weitere Entwicklung von Konsumritualen ähnlich den bereits bestehenden Ritualen für
Alkohol- und Cannabis-Konsum.
Suchtbehandlung
-
größere Betonung von Qualität und Patientenzufriedenheit, so dass der Patient allmählich
zum Klienten und schließlich zum Therapiekonsumenten wird;
-
zunehmende Wichtigkeit pharmakologischer und techologischer Interventionen sowie der
Standardisierung;
-
zunehmende Wichtigkeit des Effektivitätsnachweises und der Kosteneffizienz mit der
potenziellen Gefahr eines ärmer werdenden Behandlungssystems und großem Druck auf
intensive stationäre, oft tiefenpsychologisch orientierte Langzeittherapien;
-
Entwicklung einer evidenzgestützten Zuweisungsstrategie bestimmter Patienten in bestimmte
Therapien, auf der Basis statistischer Vorhersagetechniken und pharmakognomischer
Strategien, die zu effektiveren Therapien und größerer Kosteneffizienz führen;
-
Entwicklung von Internet-Selbsthilfeeinrichtungen mit standardisierten Behandlungsangeboten
und computergestützter Beratung, welche Behandlung zu welchem Patienten passt;
-
vermehrter Einsatz neuer ICT-Technologien für den Umgang mit chronischen Erkrankungen
und die Planung und Überwachung von Behandlungsplänen.
Sorgen und Bedürfnisse
Sorgen und Bedürfnisse
Die Entwicklungen und Erwartungen, die hier beschrieben wurden, spiegeln die zahlreichen
neuen und sehr positiven Hoffnungen und Erwartungen für eine bessere und aufregende
Zukunft wider, eine Zukunft mit größerer persönlicher Freiheit und weniger Repression
für junge Menschen, die den Wunsch haben, Drogenkonsum in ihr Lifestyle- und Erfahrungsrepertoire
aufzunehmen, und mit einer potenziell besseren Prognose für jene, die wegen des Konsums
dieser Substanzen oder als Folge davon in Schwierigkeiten geraten sind. Allerdings
sind diese Entwicklungen auch mit einigen Sorgen und ernsten Risiken verbunden. Die
übermäßige Betonung der objektiven und technologischen Behandlungsaspekte auf Kosten
der subjektiven persönlichen Aspekte und der Empathie werden eine Situation schaffen,
in der die Therapien weniger effizient sind, als sie es potenziell sein könnten. Die
starke Betonung von Kosteneffizienz und Managed Care, die so sehr in unsere von der
Wirtschaft bestimmte Kultur passt, birgt jedoch auch das Risiko einer allmählichen
Verarmung der Suchtbehandlung und des allgemeinen Gesundheitssystems und im schlimmsten
Fall das Risiko des Verlustes der Fürsorge-Ideologie, die ein Gegengewicht zu unserer
individualistischen Kultur bilden muss, die nur auf kapitalistische Prinzipien und
Profitmaximierung ausgerichtet ist. Die größere Freiheit, relativ sichere psychotrope
Substanzen konsumieren zu können, sollte durch die Solidarität ausgeglichen werden,
die sich in einer starken Fürsorge-Ideologie und einem großzügigen und umfassenden
Behandlungssystem ausdrückt.
Dies sind einige der großen Aufgaben, die vor uns liegen. Diese Einstellungen sind
auch die Basis meiner Freundschaft zu Ambros Uchtenhagen und dies waren die wichtigsten
Themen meiner beruflichen Kontakte mit ihm. Möge uns eine lange Zeit vergönnt sein,
um gemeinsam die Entwicklung dieser neuen Realität zu verfolgen und mit ihr zu interagieren.
Möge dies in Freundschaft, Solidarität und Großzügigkeit geschehen.