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DOI: 10.1055/s-2003-40498
Die Bedeutung des glutamatergen Systems bei neuropsychiatrischen Erkrankungen
8. Hans Jörg Weitbrecht-Symposium, LeverkusenThe Importance of the Glutamatergic System in Neuropsychiatric DiseasesPublication History
Publication Date:
08 July 2003 (online)
Hans Jörg Weitbrecht war von 1956 bis 1975 Ordinarius für Psychiatrie und Neurologie in Bonn und schon seit 1946 auch Mitherausgeber dieser Zeitschrift. Wie Werner Scheid, der Kölner Ordinarius für Neurologie und Psychiatrie von 1950 bis 1979, mit dem ihn die längste Zeit gemeinsamer Herausgebertätigkeit für die „Fortschritte der Neurologie und Psychiatrie” verband, hatte Weitbrecht in Forschung, Lehre und Krankenversorgung noch beide Fachgebiete zu vertreten. Von der eigenen wissenschaftlichen Arbeitsrichtung her war er vorrangig Psychiater und hat bedeutende, damals vielfach prägend wirkende Arbeiten in der Tradition der klinischen Psychopathologie verfasst. Es zeichnete ihn aber auch ein methodisch fundiertes Verständnis für neurologische Fragestellungen und ein besonderes Interesse an den hirnbiologischen Grundlagen aus. Deshalb konnte Gerd Huber als Nachfolger von Hans Jörg Weitbrecht auf dem Bonner Lehrstuhl für Psychiatrie zu Recht eine von ihm begründete klinisch psychopathologisch-neurowissenschaftliche Symposiumsreihe mit dem Namen seines Vorgängers verbinden. Das 8. Hans Jörg Weitbrecht-Symposium am 2.3.2001 war dem glutamatergen System und damit deutlicher als die bisherigen Veranstaltungen dieser Reihe einer integrativen psychiatrisch-neurologischen Thematik gewidmet. Fachübergreifende Zielsetzungen der klinischen Neurowissenschaften sollen auch in der Zukunft verstärkt die Ausrichtung des Symposiums und die in diesem Rahmen jeweils erfolgende Verleihung des Hans Jörg Weitbrecht-Wissenschaftspreises bestimmen.
Das glutamaterge System wirkt modulierend auf nahezu sämtliche Neurotransmittersysteme und spielt dementsprechend eine wichtige Rolle in den heute aktuellen hirnbiologischen Erklärungsmodellen für unterschiedliche neurologische und psychiatrische Erkrankungen.
Der Beitrag von Römer u. Mitarb. aus der Erlanger Arbeitsgruppe von J. Kornhuber gibt dazu eine Übersicht, die neben den neurotoxischen auch die möglichen neurotrophischen Glutamat-Effekte durchsichtig macht. Dem Leser wird deutlich, warum sowohl akute neurologische Erkrankungen wie der Schlaganfall und neurodegenerative oder neurometabolische Veränderungen als auch schizophrene und affektive Störungen, Suchterkrankungen und chronische Schmerzsyndrome jeweils pathogenetisch unter den Gesichtspunkten einer Glutamat-Hypothese diskutierbar sind. Kompensatorische Modulationen des glutamatergen Systems durch neuartige Substanzen bilden die therapeutische Perspektive, die sich aus dieser Übersicht ergibt.
In dem Beitrag von Hossmann, dem eigene experimentelle Untersuchungen aus dem Max-Planck-Institut für Neurologische Forschung in Köln zugrunde liegen, wird zunächst die Glutamat-Hypothese des Schlaganfalls einer kritischen Analyse unterzogen. Danach ist der weithin angenommene exzitotoxische Mechanismus nicht hinreichend gesichert. Glutamat kann aber durch die Generation und Fortleitung von Peri-Infarkt-Depolarisationen offenbar kumulativ zum Wachstum des Infarktes in die Penumbra beitragen und böte beim Nachweis eines solchen schädigenden Einflusses auf die Infarktrandzone auch einen sinnvollen Ansatzpunkt für die Behandlung mit Antagonisten. Bei neurodegenerativen Prozessen wie der Spätform der Alzheimer-Krankheit spielt das glutamaterge System ebenfalls eine Rolle für das Verständnis der Pathomechanismen und die Ableitung von Therapieoptionen. Allerdings macht der diesbezügliche Beitrag von Hoyer und Riederer auch klar, dass Glutamat-induzierte Toxizität wahrscheinlich nur eine Schädigungskomponente der pathogenetischen Endstrecke darstellt. Immerhin scheinen NMDA-R-Antagonisten im Unterschied zu allen anderen Antidementiva auch bei schwer dementen Patienten noch klinisch wirksam zu sein. Der Beitrag von Scherk u. Mitarb. aus der Arbeitsgruppe von P. Falkai wendet sich den schizophrenen und affektiven Störungen zu und gibt einen Überblick über den bisherigen Wissensstand zur Pathologie von Interneuronen bei diesen Erkrankungen. Das glutamaterge System kommt hierbei insofern ins Spiel, als die Projektionsneurone der Großhirnrinde mit typischerweise pyramidenförmigen Zellkörpern Glutamat in seiner exzitatorischen Neurotransmitterfunktion verwenden und dadurch efferente Impulse in andere Hirnregionen aussenden. Eine gestörte Verschaltung des glutamatergen, GABA-ergen und dopaminergen Systems könnte zusammen mit der reduzierten Zahl von Interneuronen ein wesentliches Merkmal der dysfunktionellen neuronalen Netzwerke bei schizophrenen Erkrankungen sein. Hinweise auf Störungen der synaptischen Verbindungen und der neuronalen Konnektivität fanden sich interessanterweise auch bei bipolaren affektiven Störungen. Für die affektive Erkrankungsgruppe insgesamt ist aber die diesbezügliche Datenlage derzeit noch eher als explorativ anzusehen.
Nach der einleitenden Charakterisierung des glutamatergen Systems und der krankheitsbezogenen Darstellung entsprechender Pathomechanismen beim Schlaganfall, bei der Alzheimer-Krankheit und den schizophrenen sowie affektiven Störungen beschäftigen sich drei weitere Beiträge aus unterschiedlichem Blickwinkel mit der Bedeutung Glutamat-vermittelter Prozesse für die Alkoholabhängigkeit. Spanagel stellt die Tiermodelle in den Vordergrund, mit denen es heute mehr und mehr gelingt, abhängiges Verhalten auch beim Menschen zu untersuchen und Rückschlüsse auf die maßgeblichen neurobiologischen Pathomechanismen zu ziehen. Nach seinen eigenen Untersuchungen spielen hauptsächlich adaptive molekulare Veränderungen im glutamatergen System eine entscheidende Rolle bei der Suchtentwicklung. Bleich u. Mitarb. gehen umfassend auf die Störungen im Stoffwechsel der exzitatorischen Aminosäuren ein, die beim chronischen Alkoholismus eine überschießende glutamaterge Neurotransmission bedingen. Klinische Bezugspunkte sind hauptsächlich die von dieser Arbeitsgruppe erforschten Pathomechanismen des exzitatorischen Syndroms beim Alkoholentzug und insbesondere bei den Entzugsanfällen. Soyka und Preuss verschaffen schliesslich noch einmal eine Übersicht über alle relevanten Ergebnisse genetischer, molekularbiologischer und neuropharmakologischer Untersuchungen zur Bedeutung des glutamatergen Systems bei der Alkoholabhängigkeit. Die Grundlagenforschung auf diesem Gebiet hat über die Identifikation von bereits erprobten oder in der Erprobung befindlichen Substanzen mit Angriffspunkten im glutamatergen System bereits wichtige Fortschritte für Therapie und Rückfallprophylaxe erbracht, die in allen drei Beiträgen gewürdigt werden.
Die innovative therapeutische Nutzung von Ergebnissen der Grundlagenforschung ist auch das Thema des letzten Beitrags in diesem Heft. Nopper und Gebert stellen aktuelle Aktivitäten der Bayer-ZNS-Forschung zur Entwicklung neuartiger Analgetika dar. Mit der Problematik chronischer Schmerzen wird ein weiteres wichtiges klinisches Anwendungsfeld der heutigen Glutamat-Forschung angesprochen. Die Bayer Vital GmbH hat die traditionsreiche Veranstaltungsreihe der Hans Jörg Weitbrecht-Symposien von Anfang an in uneigennütziger Weise unterstützt und auch den zugehörigen Wissenschaftspreis gestiftet.
Das glutamaterge System ist offenbar für verschiedene neurologische und psychiatrische Erkrankungen von Bedeutung und bietet deshalb auch einen Bezugspunkt, der den fächerübergreifenden Charakter heutiger klinischer Neurowissenschaft erhellt. Die integrative Betrachtungsweise des 8. Hans Jörg Weitbrecht-Symposiums ließ erkennen, dass die unterschiedlichen klinischen Anwendungsperspektiven der Glutamat-Forschung von wechselseitiger Kenntnisnahme profitieren können. Wenn Glutamat-Hypothesen für Schlaganfall, Schizophrenie, Sucht und andere Krankheiten formulierbar sind, wird klar, dass der dadurch hervorgehobene zentralnervöse Mechanismus nur Teilaspekte möglicher gemeinsamer pathogenetischer Endstrecken erklärt.
Prof. Dr. med. J. Klosterkötter
Klinikum der Universität zu Köln · Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Joseph-Stelzmann-Str. 9
50924 Köln
Email: sekretariat.psychiatrie@medizin.uni-koeln.de