Seit dem spektakulären Reitunfall des Schauspielers Christopher Reeve im Jahre 1995,
der nach hoher Halswirbelsäulenverletzung bis auf weiteres an einer Tetraplegie mit
Beatmungsabhängigkeit leidet, ist die Querschnittlähmung und auch ihre Verursachung
durch Reitunfälle wieder in das öffentliche Interesse gerückt. Zahlen, aus denen der
(professionelle oder freizeitmäßige) Reitsportler sein Risiko, hierbei eine traumatische
Querschnittlähmung zu erleiden, ableiten könnte, fehlen jedoch. Eine Studie der Orthopädischen
Universitätsklinik Heidelberg, in der 1016 Patienten mit frischer traumatischer Rückenmarkschädigung
in den Jahren 1985 bis 1997 zur Aufnahme gelangten, nennt hierunter ganze neun Fälle,
die durch einen Reitunfall verursacht sind [11]. Eine erst dieses Jahr publizierte Arbeit aus Australien, die Reitunfälle im Bundesstaat
New South Wales in den Jahren 1976 bis 1996 auswertet, benennt (ohne Angabe der Gesamtfallzahl)
retrospektiv 32 Fälle von traumatischer Querschnittlähmung durch Reitunfälle, die
in den zwei Querschnittzentren des Bundesstaates behandelt wurden sowie 30 weitere
Patienten im gleichen Zeitraum, die mit einer Wirbelsäulenverletzung durch Reitunfall
ohne neurologischen Ausfall dort zur Aufnahme gelangten [10]. Begleitverletzungen der Extremitäten oder innerer Organe waren häufig. Konkrete
Maßnahmen zur Erhöhung der Sicherheit vor Wirbelsäulenverletzungen waren nicht abzuleiten,
sondern lediglich die Empfehlung zu allgemeiner kontinuierlicher Sicherheitserziehung
für alle Reiter. Weitergehende Erkenntnisse vermag auch Silver aus einer retrospektiven
Metaanalyse von drei britischen Querschnittzentren sowie elf Publikationen des anglo-amerikanischen
Schriftums zum Thema nicht abzuleiten: Zwar kann er sagen, dass das Risiko, beim Reiten
schwer verletzt zu werden, 20 mal so hoch ist wie beim Autofahren (eine schwere Verletzung
je 350 Stunden Reiten gegenüber je 7000 Stunden Autofahren) und er differenziert weiter:
eine schwere Verletzung je 100 Stunden freizeitmäßigen Reitens, eine auf fünf Stunden
Springreiten von Amateuren und sogar eine schwere Verletzung auf nur eine Stunde Querfeldein-Reiten.
Hinsichtlich der Inzidenz von Rückenmarkverletzungen durch Reitunfälle ist jedoch
auch ihm nur die Aussage möglich, dass in den Jahren 1951 bis 1999 in den drei erfassten
britischen Querschnittzentren bei zwischen 1,4 und 4,7 % der aufgenommenen Patienten
mit frischer Querschnittlähmung diese auf einen Reitunfall zurückging [12].
Reitunfallopfer machen mithin nur einen kleinen Anteil unter den zur Zeit zirka 100000
Querschnittgelähmten aus, die in der Bundesrepublik Deutschland leben, jedes Jahr
kommen etwa 1200 neue hinzu, wovon, wenn man die oben genannten Zahlen aus Heidelberg
und Großbritannien extrapoliert, schätzungsweise ein bis vier Prozent durch Reitunfälle
verursacht sein werden. Für die stationäre Behandlung aller dieser Menschen stehen
bundesweit derzeit 1200 Betten in speziellen Querschnittzentren wie dem unsrigen zur
Verfügung. Daraus ergibt sich zwangsläufig, dass eine gewisse „Dunkelziffer” von querschnittgelähmten
Patienten verbleibt, die sowohl zum Zeitpunkt des Lähmungseintritts als auch im weiteren
Lebenslauf im Hinblick auf ihr Leiden suboptimal versorgt werden. Im Folgenden soll
daher auch anschaulich gemacht werden, warum ein Querschnittgelähmter unbedingt in
einem Querschnittzentrum oder, in speziellen Fällen, zumindest in Zusammenarbeit mit
einem Querschnittzentrum betreut werden sollte.
Traumatische Querschnittlähmung
Traumatische Querschnittlähmung
Die Querschnittlähmung ist definiert als ein aus der Schädigung des Rückenmarksquerschnitts
resultierendes Lähmungsbild mit Ausfall motorischer, sensibler und vegetativer Bahnen.
Entsprechend ist nach Schädigungseintritt primär mit Funktionsstörungen aller drei
Qualitäten des Nervensystems distal der Läsionshöhe zu rechnen [4].
Etwa 60 % aller Querschnittlähmungen treten ein als Folge einer - wie auch immer gearteten
oder ausgelösten - Verletzung, meistens einer Wirbelfraktur, seltener als alleinige
Rückenmarksquetschung ohne knöcherne Verletzung (SCIWORA = Spinal Cord Injury Without
Radiographic Abnormality, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen [9]),
wobei großenteils Verkehrs- und Arbeitsunfälle, zu kleinerem Teil auch Sportunfälle,
Suizidversuche und die etwas beschönigend als „Badeunfälle” bezeichneten Kopfsprünge
in zu seichtes Wasser ursächlich sind. Die übrigen 40 % der Querschnittlähmungen verteilen
sich auf angeborene Fälle infolge von Missbildungen der Wirbelsäule und des Rückenmarks,
Erkrankungen (z.B. Tumoren, Infektionen und sonstige Entzündungen) und Durchblutungsstörungen
und ihre Folgezustände (Spinalis-anterior-Syndrom). Letztere können ebenfalls in Ausnahmefällen
traumatisch bedingt sein, beispielsweise durch Aortenruptur.
Die Ausdehnung der Lähmung am Körper ergibt sich aus der Höhe der Rückenmarksschädigung.
Ist das Rückenmark in Höhe der Brust- bzw. Lendenwirbelsäule geschädigt, so kommt
es zur Paraplegie. Der Begriff Tetraplegie bezeichnet eine Lähmung aller vier Extremitäten
bei Läsion in Höhe der Halswirbelsäule. Im Einzelnen wird die Lähmungshöhe bezeichnet
nach dem vom Kopf an gezählten letzten noch unversehrt funktionierenden Nervenwurzelsegment.
Da das Rückenmark ja aus einer Vielzahl von Leitungsbahnen besteht, die im Rahmen
einer der vorgenannten Schädigungen auch nicht unbedingt alle gleichermaßen betroffen
sein müssen, kommen sowohl komplette als auch inkomplette Lähmungen vor, die - je
nachdem, welche Funktion betroffen ist - zum Beispiel auch als „motorisch komplett
und sensibel inkomplett” bezeichnet werden. Bei der Motorik werden zwei Lähmungstypen
unterschieden, nämlich die schlaffe Lähmung, wie sie auch bei allen Schädigungen von
peripheren Nerven vorkommt und üblicherweise bei Wirbelverletzungen unterhalb L 2.
Hier sind motorische Aktivitäten der gelähmten Muskeln nicht auslösbar und die Muskeleigenreflexe
sind vollkommen erloschen. Demgegenüber steht die spastische Lähmung, die mit einer
elastischen Tonussteigerung der Muskulatur, Steigerung der muskulären Eigenreflexe
und Automatismen bei erhaltenen intakten Rückenmarksanteilen unterhalb der Schädigung
einhergeht. Bei vielen Querschnittlähmungen kommen Mischbilder beider Lähmungsformen
vor, dadurch bedingt, dass das Rückenmark relativ kürzer ist als die Wirbelsäule und
dadurch die Nervenwurzelursprünge im Rückenmark nicht mehr mit der Höhe der segmental
zugehörigen Foramina der Wirbelsäule übereinstimmen.
Akutversorgung
Akutversorgung
Im akuten frischen Zustand ist das komplette Querschnittsyndrom, gleich welcher Höhe,
durch folgende Merkmale gekennzeichnet:
-
komplette schlaffe Lähmung unterhalb des betroffenen Rückenmarkssegmentes,
-
vollständige Lähmung der Blase (atone Überlaufblase) sowie von Darm und Potenz,
-
vollständiger Sensibilitätsausfall für alle Qualitäten mit hyperalgetischer Randzone,
-
Ausfall der Eigen- und Fremdreflexe sowie
-
Ausfall der Gefäß- und Wärmeregulation.
Es besteht somit zunächst eine Störung nahezu aller entscheidender Steuerungsmechanismen
des Organismus von der Läsionshöhe abwärts, die auch als spinaler Schock bezeichnet
wird, so dass mit mittelbaren und unmittelbaren, nicht selten lebensbedrohlichen Komplikationen
gerechnet werden muss. Der genannte Ausfall der Gefäßregulation und die gleichzeitige
Beeinträchtigung der Muskelpumpe bewirken einen Blutdruckabfall, bei entsprechender
Verletzungshöhe kann auch eine Bradykardie bis hin zum Herzstillstand eintreten. Läsionen
im Hals- und Brustwirbelsäulenbereich führen zu Problemen der Atmung, bei oberhalb
des 3. Halswirbels gelegenen Schädigungen ist völliger Ausfall der Eigenatmung des
Patienten die Folge, da die Wurzeln des N. phrenicus (C3 bis C5) betroffen sind [Abb. 1]. Insofern ist jede frische, insbesondere jede traumatisch entstandene Querschnittlähmung
primär intensivpflichtig.
Im weiteren Verlauf, das heißt nach mehreren Tagen bis hin zu acht Wochen, ändert
sich das Lähmungsbild auch bei kompletter Querschnittlähmung:
-
je nach Läsionshöhe wird die Lähmung der Rumpf- und Extremitätenmuskulatur spastisch
(bei Wirbelsäulenverletzung oberhalb L 1) und Reflexe treten wieder auf.
-
Die Blasenlähmung stellt sich je nach Läsionshöhe um zur Reflexblase (bei Läsion oberhalb
des Endabschnitts des Rückenmarks) oder zur inaktiven Blase (bei Läsion unterhalb
des Endabschnittes des Rückenmarkes, bei Frakturen etwa Höhe Th 12).
-
Der Sensibilitätsausfall bleibt komplett.
Zur Prognose der Querschnittlähmung im weiteren Verlauf ist orientierend zu sagen,
dass eine primär komplette Lähmung ohne ersichtliche Rückbildungszeichen innerhalb
der ersten sechs Wochen auch auf Dauer verbleiben wird, wohingegen eine primär inkomplette
Lähmung auch noch nach vielen Monaten erstaunliche Rückbildungstendenzen zeigen kann:
Komplett bleibt komplett - Inkomplett wird inkompletter!
Die Akutversorgung eines traumatisch Querschnittgelähmten hat folgendermaßen zu erfolgen:
-
Am Unfallort selbst hat jeder Verdacht auf eine Wirbelsäulenverletzung dazu zu führen,
dass der Patient wie ein Wirbelsäulenverletzter behandelt, das heißt geborgen und
transportiert wird, um Rückenmarksschädigungen durch die Rettungsmaßnahmen zu vermeiden
(Intubation, Helmabnehmen beim Motorradfahrer, Bergen Eingeklemmter usw.): Cervicalstütze,
Vakuummatratze [Abb. 2], gegebenenfalls Hubschraubertransport. Wichtig ist eine möglichst umfassende Überprüfung
des neurologischen Status durch den erstversorgenden Notarzt bereits am Unfallort,
dessen Feststellungen den weiterbehandelnden Kollegen in der Klinik übermittelt werden
müssen, wenn zum Beispiel wegen Intubation und Beatmung am Unfallort bei Klinikeinlieferung
der neurologische Status nicht mehr überprüft werden kann. Die hochdosierte Kortikoidgabe
noch am Unfallort, die auch innerhalb der ersten 24 Stunden nach dem Trauma in der
Klinik fortzusetzen ist, ist die einzige medikamentöse Maßnahme, deren Auswirkung
auf den neurologischen Outcome des Traumas erwiesen ist und daher (allerdings nicht
unumstrittenen) notfallmedizinischen Standard darstellt [2]
[3]
[5].
-
In der Klinik hat nach weiterer Sicherung der Vitalfunktionen, das heißt von Atmung
und Kreislauf, die vollständige Diagnostik der Läsion zu erfolgen (körperlicher und
neurologischer Befund, Röntgen, CT, ggf. Kernspintomographie). Bei Halswirbelsäulenverletzungen
wird eine Haloextension angelegt zur Reposition bzw. Retention der Halswirbelsäule
und damit Druckentlastung des Rückenmarks [Abb. 3].
-
Wie bereits erwähnt, bedarf jeder frische, insbesondere traumatisch Querschnittgelähmte,
der intensivmedizinischen Versorgung.
-
Die Frakturbehandlung der Wirbelsäule erfolgt in der Mehrzahl der Fälle operativ,
die konservative Frakturbehandlung ist heutzutage im Wesentlichen nur noch stabilen
Frakturformen ohne wesentliche Stellungsabweichung vorbehalten. Der Operationszeitpunkt
ist mit Rücksicht auf die Schwere des Traumas und auf den neurologischen Status zu
wählen, bei eintretender neurologischer Verschlechterung im Verlauf besteht dringliche
Indikation. Insbesondere bei am Unfallort bereits bestehender kompletter Lähmung ist
mit einer Einflussnahme auf den neurologischen Endzustand nicht zu rechnen, daher
ist das Abwarten einer Besserung des Allgemeinzustandes beim Verletzten legitim. Die
Operationsindikation ergibt sich im Übrigen wie bei Wirbelsäulenfrakturen ohne Lähmung,
das heißt aus Gründen der Stabilität und Stellung der Wirbelsäule. In diesen Fällen
wird die Operation dann nach Ablauf eines Intervalls vorgenommen, im Bereich der Rumpfwirbelsäule
gegebenenfalls auch zweizeitig von dorsal transpedikulär und von ventral intersomatisch
[Abb. 4]. In dieser Phase finden auch weitere operative Maßnahmen wegen an anderen Körperteilen
bestehender Begleitverletzungen statt, gegebenenfalls auch schon vorgängig zur Wirbelsäulenstabilisierung,
wenn es aus vitaler Indikation erforderlich ist (z.B. Versorgung einer Milzruptur
oder einer offenen Extremitätenfraktur).
-
Der genannten Phase der Operationen, die in der Mehrzahl der Fälle noch auf der Intensivstation
stattfindet, schließt sich - wenn möglich - auf der peripheren Station des Querschnittzentrums,
die Phase der eigentlichen Querschnitterstbehandlung an. Ein Teil der Patienten ist
zuvor in Allgemeinkliniken, insbesondere unfallchirurgischen oder neurochirurgischen
Kliniken, vorbehandelt worden und wird erst für diesen Abschnitt in das Querschnittzentrum
verlegt. Aufgrund der personellen und technischen Ausstattung ist unser Zentrum jedoch
in der Lage, auch frischverletzte Patienten direkt vom Unfallort kommend aufzunehmen.
In Zusammenarbeit aller Fachabteilungen des Hauses können neben der Wirbelsäulenverletzung
und Querschnittlähmung auch alle üblichen Begleitverletzungen adäquat versorgt werden.
Auch nicht unfallbedingt querschnittgelähmte Patienten kommen üblicherweise in dieser
Phase in das Querschnittzentrum, nachdem ihre zur Lähmung führende Grunderkrankung
diagnostiziert und behandelt worden ist.
Lähmungsspezifische Erstbehandlung
Lähmungsspezifische Erstbehandlung
Hieran sind alle im unmittelbaren Patientenkontakt stehenden Berufsgruppen im Sinne
der „comprehensive care” beteiligt, nämlich Ärzte (Orthopäden, Chirurgen, Urologen),
Pflege, Physio- und Ergotherapeuten, Psychologen, Sozialarbeiter und Orthopädietechniker.
Nach Stabilisierung steht die Mobilisierung des Patienten unter Ausschöpfung aller
noch vorhandener Funktionen ober- und unterhalb seiner Rückenmarkläsionshöhe mit dem
Ziel der Wiedereingliederung in den privaten und möglichst auch den beruflichen Bereich
an. Durch Gestellung individuell anzupassender Hilfsmittel vom Rollstuhl über ergotherapeutisch
gefertigte Esshilfen bis zum behinderungsgerecht ausgerüsteten PKW ist für den Betroffenen
weitestmögliche Unabhängigkeit von der Fremdbestimmung durch Hilfspersonen anzustreben.
Sämtliche genannten Berufsgruppen sind bereits auch von der Intensivtherapiephase
an in die Behandlung des Querschnittgelähmten mit eingebunden. Einen besonderen Schwerpunkt
dieser Bemühungen stellt die von Nichtbetroffenen nicht in ihrer Bedeutung zu erfassende
Regulierung der Blasen- und Mastdarmentleerung dar, deren lähmungstypadäquate Technik
im Rahmen der Erstbehandlung erarbeitet und im Weiteren vom Patienten selbst und auch
von seinen ihn häuslich versorgenden Personen erlernt und praktiziert wird.
Die durch gebündelten Einsatz aller genannten Kräfte erreichbaren Ziele sind jedoch
sehr unterschiedlich und hängen im Wesentlichen vom Lähmungsausmaß und der Lähmungshöhe
ab, aber auch von Begleitumständen wie Lebensalter des betroffenen Patienten, Konstitution
und inneren Begleiterkrankungen und natürlich der Motivation des Betroffenen. Diese
Umstände finden naturgemäß auch Eingang in die stationäre Behandlungsdauer der Patienten.
In der Regel kann man davon ausgehen, dass die unkompliziert verlaufene Querschnitterstbehandlung
eines Paraplegikers, etwa sechs Monate in Anspruch nimmt, die Erstbehandlung eines
Tetraplegikers dauert häufig bis zu zwölf Monaten, in Einzelfällen auch darüber. Insbesondere
bei inkompletten Lähmungsbildern, bei denen es im Laufe der Behandlungszeit auch noch
zur Erholung primär ausgefallener Funktionen kommt, kann zur therapeutischen Erarbeitung
dieser hinzugekommenen Funktion und damit zur Verbesserung der funktionellen Ausgangsposition
des Patienten bei Entlassung von diesen groben Zeitvorgaben auch nach oben abgewichen
werden.
Lebenslange Nachsorge
Lebenslange Nachsorge
Die Zuständigkeit eines Spezialzentrums für den Querschnittgelähmten endet jedoch
nicht mit der Entlassung aus der Erstbehandlung, sondern ist lebenslang weitergegeben,
da es infolge der Querschnittlähmung zu spezifischen Komplikationen kommen kann, die
mit den Mitteln eines Allgemeinkrankenhauses üblicherweise nicht adäquat zu versorgen
sind, deren Entstehung vielmehr im Einzelfalle in einem in der Behandlung von Querschnittgelähmten
unkundigen Krankenhaus sogar befürchtet werden muss. Von den 100 Betten des hiesigen
Zentrums für Rückenmarkverletzte sind ständig gut 50 % mit Patienten belegt, deren
stationäre Wiederaufnahme wegen Komplikationen oder funktioneller Verschlechterung
erforderlich wurde.
Decubitus
An erster Stelle ist hier der Decubitus oder das Druckgeschwür zu nennen. Hiervon
betroffene Patienten machen regelmäßig zirka 25 % der Belegung der Gesamtabteilung
aus. Ein Decubitus entsteht bekanntermaßen als Folge einer lokalen Minderdurchblutung
der Körperoberfläche, verursacht durch äußere Druckeinwirkung und auch Scherkräfte.
Chemische Noxen, wie zum Beispiel Schweiß und Exkremente bei unkontrollierter Entleerung,
tragen ein Übriges zur Schadensentstehung bei.
Am leichtesten ist der Decubitus zu behandeln, den man gar nicht erst bekommt. Da
die Ursachen bekannt sind, gilt es, den Druck zu vermeiden, wo immer er entsteht.
Wichtig ist die regelmäßige Kontrolle der gefährdeten Körperpartien hinsichtlich druckbedingter
Rötungen und die Vermeidung von druckgefährdenden Momenten. Dies lernen die Patienten
im Rahmen der Querschnitterstbehandlung selbst durchzuführen, soweit ihre Lähmungshöhe
das erlaubt.
Tieferes Druckgeschwür
Das tiefere Druckgeschwür ist, soweit erforderlich, chirurgisch oder durch entsprechende
äußerlich anzuwendende Präparate zu behandeln und im weiteren Verlauf bei geeigneten
Defekten durch eine entsprechende Verbandsbehandlung, in ausgedehnteren Fällen durch
operative Maßnahmen zur Ausheilung zu bringen, die ab einer gewissen Defektgröße und
-tiefe bevorzugt werden. Es handelt sich um standardisierte plastisch-chirurgische
Techniken, die bei komplikationslosem postoperativen Verlauf ab der dritten postoperativen
Woche beginnend einen schrittweisen Belastungsaufbau der gedeckten Region zulassen
([7], [Abb. 5]). Mit der erfolgreichen Behandlung des Decubitalulcus ist das Problem jedoch nicht
gelöst, sondern es muss abgeklärt werden, wodurch das aktuelle Decubitalulcus entstanden
ist. Nicht immer ist die Nachlässigkeit des Patienten bei der Entlastung anzuschuldigen,
es können auch medizinische Gründe bestehen, die zu einer Veränderung der Sitzposition
mit besonderer Belastung prominenter Knochenpunkte führen können, beispielsweise ein
Beckenschiefstand bei eingetretener Lähmungsskoliose. Zur Erfassung derartiger Problemfelder
im Bereich der Gesäßregion wird in unserer Abteilung ein Sitzflächendruckmesssystem
eingesetzt, welches besonders exponierte Druckpunkte erfasst und auf diese Weise Decubitusursachen
aufspüren hilft [Abb. 6].
Spastik
Spastik ist ein weiterer Grund für stationäre Wiederaufnahmen Querschnittgelähmter
im Zentrum für Rückenmarksverletzte. Positiver Effekt der Spastik ist das geringere
Risiko von Muskelschwund und Thrombose. Häufig ist die Spastik aber störend bis quälend,
so dass sie den betroffenen Patienten beim Sitzen und bei seiner Selbsthilfefähigkeit
beeinträchtigt. In leichten Fällen ist, wie auch bereits im Rahmen der Erstbehandlung,
intensive regelmäßige Krankengymnastik im Sinne der Muskeldehnung und auch eigentätiges
Durchbewegen ausreichend, unterstützt durch physikalische Therapie und Sauna. In der
Mehrzahl der Fälle kommen oral einzunehmende spastiklösende Medikamente wie Baclofen
oder Dantrolen zum Einsatz. Wenn auch die oral einzunehmende Höchstdosis dieser Präparate
keine funktionell ausreichende Spastikdämpfung bewirkt, ist die Gabe des Präparates
Baclofen auch direkt an das Rückenmark über einen dort eingelegten Katheter möglich,
der über eine im Bereich der Bauchdecke subkutan implantierte Pumpe gespeist wird.
Die Pumpe setzt das Präparat kontinuierlich frei und muss in regelmäßigen Abständen,
je nach Präparatebedarf, ambulant wieder aufgefüllt werden. Die Implantation derartiger
Pumpensysteme erfolgt im Querschnittzentrum nach entsprechender Vortestung.
Bei bereits länger bestehender überschießender Spastik treten Kontrakturen ein, sodass
zum Beispiel der Fuß in Spitzfußstellung fixiert ist und nicht mehr durch krankengymnastische
Maßnahmen und ähnliches in die Neutralstellung gebracht werden kann. Der Versuch,
durch Standbelastung im Stehgerät wieder zu einem plantigraden Auftritt zu kommen,
hat eher eine Zunahme der spastischen Kontraktur zur Folge. In solchen Fällen sind
Eingriffe zur Sehnenverlängerung beziehungsweise Sehnendurchtrennung indiziert, um
hier zu einer funktionellen Verbesserung für den Patienten zu kommen ([6], [Abb. 7]).
Paraosteoarthropathie
Die Paraosteoarthropathie (POA) ist ein Krankheitsbild, bei dem es in der unmittelbaren
Umgebung von großen Gelenken zu einer Weichteilossifikation kommt, die das Gelenk
bis hin zur völligen funktionellen Versteifung überbrückt, ohne es jedoch selbst dabei
in die Verknöcherung einzubeziehen. Derartiges kommt nicht selten bei Querschnittlähmungen,
aber auch bei Schädel-Hirntrauma-Patienten und bei polytraumatisierten langzeitbeatmeten
Patienten vor. Am häufigsten hiervon betroffen sind die Hüftgelenke. Die einzig mögliche
Behandlung ist die operative Entfernung der Ossifikation, die jedoch erst dann vorgenommen
werden sollte, wenn die Verknöcherung „ausgereift” ist, da sonst mit einem noch schlimmeren
Wiederauftreten zu rechnen ist. Das aktuell anerkannte Behandlungsregime in solchen
Fällen umfasst neben der POA-Resektion eine im Zeitraum von 24 Stunden vor bis 24
Stunden nach dem Eingriff vorzunehmende single-shot-Bestrahlung (an der Hüfte mit
7 Gy) sowie die orale Gabe eines oralen Antirheumatikums für drei Wochen zur Prophylaxe
der Reossifikation [1]. Die Einsteifung eines Hüftgelenkes, insbesondere in weitgehender Streckstellung,
beeinträchtigt den Patienten erheblich bei der Sitzposition im Rollstuhl, macht ihn,
zum Beispiel beim Umsetzen und auch beim An- und Ausziehen vermehrt von fremder Hilfe
abhängig und stellt aufgrund der ungünstigen Sitzposition auch ein vermehrtes Decubitusrisiko
dar, so dass der Patient von einer erfolgreichen POA-Entfernung in jedem Falle profitiert.
Da ein derartiger Eingriff im Bereich des Hüftgelenkes mit einem nicht unerheblichen
Blutverlust verbunden sein kann, und es sich um einen planbaren Wahleingriff handelt,
wird dem Patienten an hiesiger Klinik üblicherweise die Möglichkeit der präoperativen
Eigenblutspende angeboten.
Verschlechterung im Lähmungsstatus
Ein großer Teil der Wiederaufnahmepatienten kommt zur stationären Behandlung wegen
im Verlauf eingetretener funktioneller Defizite. Dazu zählen Verschlechterungen im
Lähmungsstatus, die im vollen Umfange abzuklären sind, da unter Umständen sogar operative
Maßnahmen zu ihrer Beseitigung unternommen werden müssen, Kraft- und Selbständigkeitsverluste
nach zu Hause durchgemachten Phasen der Immobilität (z.B. nach fiebrigen Infekten)
oder auch Verschlechterungen, die sich aus dem zunehmenden Lebensalter oder aus allgemeinen
Begleiterkrankungen ergeben. Diesen Änderungen ist neben der Abklärung durch entsprechende
Physio- und Ergotherapie unter stationären Bedingungen Rechnung zu tragen, wobei in
Einzelfällen die festzustellende funktionelle Verschlechterung auf Dauer auch hingenommen
werden muss und die Ausstattung des betroffenen Patienten mit Hilfsmitteln und gegebenenfalls
pflegerischen Leistungen der neuen Situation anzupassen ist. In der Mehrzahl der Fälle
gelingt es, durch die stationäre Maßnahme den funktionellen Zustand des Patienten
wieder soweit zu verbessern, wie er nach Abschluss der Erstbehandlung war, in Einzelfällen,
insbesondere wie erwähnt, bei inkompletten Lähmungen, ist es sogar möglich, dass auch
hinzugewonnene Funktionen physiotherapeutisch aufgearbeitet werden können, so dass
ein weiterer funktioneller Gewinn für den Patienten entsteht. In Einzelfällen muss
jedoch auch beispielsweise in höherem Lebensalter, eine funktionelle Verschlechterung
zur Kenntnis genommen werden und die Hilfsmittel- und Pflegeausstattung des Patienten
auf die neue Situation abgestimmt werden, zum Beispiel nach abgelaufenem Herzinfarkt,
nach koronarem Bypass oder ähnlichen Veränderungen der Belastbarkeit des Patienten.
Osteopenie mit vermehrter Frakturanfälligkeit
Das bei den meisten Querschnittgelähmten nicht oder nur noch im Rahmen der Therapie
stattfindende Stehen und Gehen hat zur Folge, dass es insbesondere im Bereich der
unteren Extremitäten dieser Patienten zu einer Osteopenie mit vermehrter Frakturanfälligkeit
kommt. Dementsprechend kommt es bei Querschnittgelähmten auch nicht selten bei eigentlich
nicht adäquater Gewalteinwirkung zu Frakturen im Bereich der unteren Gliedmaßen, die
teilweise auch verspätet diagnostiziert werden. Wegen des Decubitusrisikos kommt eine
Gipsbehandlung derartiger Frakturen grundsätzlich nicht in Betracht, sondern es sind
in der Regel operative Maßnahmen erforderlich, die in den Standardtechniken der operativen
Frakturbehandlung vorgenommen werden, jedoch der besonderen Knochenbeschaffenheit
des Querschnittgelähmten Rechnung zu tragen haben. Insbesondere am Unterschenkel setzen
wir gerne den Ring-Fixateur ein, da dieses Verfahren den betroffenen Knochen nur geringstmöglich
traumatisiert und trotzdem bereits kurz nach der Operation eine Belastung der Extremität
zulässt, die die Frakturheilung beschleunigt [8].
Probleme der Blase und des Mastdarms
Ein wesentlicher Wiederaufnahmegrund bei unseren Querschnittpatienten sind auch Probleme
mit der Blase und dem Mastdarm. Im Rahmen der Querschnitterstbehandlung werden die
Patienten nach entsprechender Diagnostik auf ein geeignetes Verfahren der Entleerung
der Blase und des Mastdarmes eingestellt, welches sie, soweit aufgrund der Lähmungshöhe
möglich, auch selbst erlernen und zu Hause selbst anwenden sollen. Durch Veränderungen
der Spastiksituation des Beckenbodens kann es jedoch dazu kommen, dass die bisher
praktizierte Technik der Blasen- und Darmentleerung nicht mehr adäquat funktioniert,
dass zum Beispiel die urologischerseits verordneten Medikamente zur Unterdrückung
der Blasenspastik keine ausreichende Wirkung mehr zeigten, so dass es zu zwischenzeitlicher
Enuresis kommt, dass gehäuft Harnwegsinfekte auftreten oder aber die Restharnmengen
ansteigen. Entsprechende diagnostische Verfahren, wie sie der Urologie in Form der
Blasenmanometrie und entsprechenden Durchleuchtungstechniken mit Kontrastmittelanwendung
(so genannte Videourodynamik) zur Verfügung stehen, sind für die Entleerung des Darmes
zur Zeit noch nicht hinreichend etabliert, so dass zur Wahl eines geeigneten Verfahrens
zur Darmentleerung derzeit noch auf allgemeine Erfahrungen zurückgegriffen wird. Die
im Rahmen der allgemeinen Proktologie zur anorektalen Funktionsdiagnostik etablierten
Verfahren - wie anale und rektale Manometrie, Transitzeitbestimmung mit röntgenologisch
sichtbaren Markern u.ä. - sind hinsichtlich ihrer Aussagefähigkeit für den lähmungsbetroffenen
Darm noch nicht validiert, so dass wir aus diesen Befunden noch nicht so sichere therapeutische
Konsequenzen wie bei der Blasenentleerung des gelähmten Patienten ziehen können.
Abb. 1 a) Fraktur des Dens axis und des Atlasrings b) im MRT sichtbare völlige Kontinuitätsunterbrechung
des Myelons in gleicher Höhe c) Versorgung des Patienten mit E-Rollstuhl mit Kinnsteuerung
und integriertem mobilem Beatmungssystem.
Abb. 2 Jeder gestürzte Patient ist bis zum Beweis des Gegenteils wie ein Wirbelsäulenverletzter
zu behandeln.
Abb. 3 a) Durch Längsextension der HWS mit dem Halo-Ring wird das Alignement der HWS ausgerichtet.
b) und c) Die Extension erfolgt im Rahmen der OP-Vorbereitung, kann aber auch als
konservatives Verfahren (mit Halo-Body-Jacket kombiniert) fortgeführt werden, bei
Querschnittpatienten nur in Ausnahmefällen.
Abb. 4 a) HWS-Verletzung (Luxationsfraktur C3/C4) präoperativ b) postoperativ: Stabilisierung
durch ventrale Spondylodese mit Beckenkammspan und Platte c) BWS-Verletzung (BWK 6/7-Fraktur)
präoperativ d) postoperativ: Stabilisierung durch Fixateur interne von dorsal.
Abb. 5 a) Aufnahmebefund mit tiefen Nekrosen und Taschenbildung, b) Befund nach operativem
Debridement und Wundgrundkonditionierung c) Befund nach Deckung durch beidseitige
Glutaeus-Maximus-Lappenplastik. Zur Vermeidung der Stuhlkontamination des analnah
gelegenen Wundgebietes wurde hier eine Sigmakolostomie angelegt, die auf Wunsch des
Patienten belassen wurde.
Abb. 6 Mit diesem System können die Druckverhältnisse im Bereich der Sitzfläche des Querschnittgelähmten
objektiviert werden und damit die Eignung bestimmter Sitzkissen geprüft, aber auch
Hinweise auf das Vorliegen sonstiger Decubitusursachen abgeklärt werden.
Abb. 7 a) spastische Kontraktur des Fußes im Sinne des Pes equinovarus b) operatives Korrekturergebnis
nach HOKE-Tenotomie der Achillessehne, Zehenbeugertenotomien und Teiltransfer der
Tibialis-anterior-Sehne auf die Basis des 5. Mittelfußknochens.