Die Multiple Sklerose (MS) gilt als eine der häufigsten neurologischen Erkrankungen
des frühen und mittleren Erwachsenenalters. Nach derzeitigem Kenntnisstand kann die
MS ätiopathogenetisch als autoimmunvermittelte Erkrankung des Zentralnervensystems
angesehen werden, die zu multiplen, zeitlich und örtlich disseminierten Demyelinisierungen
unterschiedlichster Lokalisationen führt. Der bei den meisten Erkrankungsfällen anfänglich
schubförmige Krankheitsverlauf (schubförmige MS) kann in der weiteren Krankheitsevolution
in einen chronisch-progredienten Verlauf übergehen. Das Erstmanifestationsalter liegt
meist zwischen dem 20. und 50. Lebensjahr, mit einem Gipfel in der dritten Lebensdekade,
wobei das weibliche Geschlecht überwiegt. Somit fällt der Krankheitsausbruch für die
meisten Patienten in die Lebensperiode der beruflichen und sozialen Etablierung und
stellt einen Großteil der Betroffenen vor verschiedenste psychosoziale Probleme. Neben
multiplen neurologischen Dysfunktionen können im Verlauf der MS unterschiedlichste
neuropsychologische Störungen imponieren [1]. Diese können als isolierte Erstsymptome auftreten und/oder im Krankheitsverlauf
exazerbieren [2]. Gerade wegen der zunehmenden Technologisierung der Lebens- und Arbeitsbedingungen
ist (neben dem physischen Behinderungsgrad) insbesondere die kognitive Leistungsfähigkeit
ein relevanter Faktor geworden, der im Einzelfall über den Verbleib im Erwerbsleben
entscheidet [3]. Darüberhinaus stellt die kognitive Funktionstüchtigkeit aber auch für die Teilnahme
des Einzelnen am sozialen Leben eine wichtige Bedingung dar und ist damit für die
Lebensqualität von entscheidender Bedeutung [4]. Die Beschreibung kognitiver Störungen bei MS-Patienten findet sich schon in der
historischen neurologischen Literatur. Während zu Beginn des Jahrhunderts die kognitiven
Leistungsdefizite unter dem Oberbegriff der Demenz subsumiert wurden (organische Wesensänderungen
im Ausmaße einer globalen Demenz sind nur in vereinzelten, meist fortgeschritteneren
Stadien einer progredienten MS anzutreffen), sind die MS-bedingten kognitiven Defizite
erst in den letzten beiden Jahrzehnten einer eingehenden Systematisierung unterzogen
worden. Hierbei wurde deutlich, dass in der Mehrheit der MS-Fälle und in Abhängigkeit
vom Verlaufstyp eine Symptomkonstellation distinkter neuropsychologischer Teilleistungsbeeinträchtigungen
dominiert. Aktuelle Studien gehen hierbei von einer Auftretenshäufigkeit neuropsychologischer
Defizite bei 50-70 % der MS-Patienten aus, wobei Aufmerksamkeits- und Gedächtnisstörungen
sowie Beeiträchtigungen der kognitiven Flexibilität (i.S. eines Dysexekutivsyndroms)
zu den häufigsten Beeinträchtigungen zählen [5]. In Abhängigkeit von der zerebralen Beteiligung sind aber auch global-intellektuelle
Nivellierungen in Verbindung mit psychiatrisch relevanten Störungen anzutreffen, die
insgesamt einen multiprofessionellen Behandlungsansatz erfordern [6].
Notwendigkeit einer neuropsychologischen Diagnostik bei MS-Patienten
Notwendigkeit einer neuropsychologischen Diagnostik bei MS-Patienten
Vor dem Hintergrund der Vorkommenshäufigkeit und Alltagsrelevanz kognitiver Störungen
sollte eine klinisch-neuropsychologische Untersuchung immer Bestandteil einer Gesamtdiagnostik
bei Patienten mit Multipler Sklerose sein. Die Überprüfung der kognitiven Leistungsfähigkeit
sollte mittels standardisierter und normierter neuropsychologischer Testverfahren
erfolgen [Tab. 1]. Ergänzend hierzu können zur Einschätzung und Objektivierung affektiv-emotionaler
Beeinträchtigungen auch standardisierte Fragebögen sowie strukturierte Interviews
eingesetzt werden. Da insbesondere Aufmerksamkeit, Gedächtnis und mentale Flexibilität
bereits in Frühphasen der Erkrankung gegenüber anderen Partialleistungen deutlich
beeinträchtigt sein können, sollte eine kognitive Leistungseinschätzung diese Leistungsaspekte
besonders berücksichtigen. Oft sind die Zeitgrenzen in der ärztlichen Routinediagnostik
sehr eng gesetzt und nicht immer stehen neuropsychologisch ausgebildete Fachkollegen
zur Verfügung, die eine eingehendere Untersuchung der kognitiven Leistungen gewährleisten
können. Dementsprechend ist einerseits die Entwicklung von sog. Screening-Verfahren,
d.h. zeitökonomischer Globalverfahren, die innerhalb enger Zeitgrenzen eine primäre
Einschätzung der kognitiven Leistungsfähigkeit erlauben, zu fordern. Genauso wichtig
ist dann, dass sich bei positivem Resultat eines solchen Screenings eine qualifizierte
neuropsychologische Untersuchung zur genaueren Beschreibung (mit möglichen Behandlungsempfehlungen)
der Defizite anschließt. Diese kann von klinischen Neuropsychologen geleistet werden.
Im Folgenden werden einige, insbesondere zu dem genannten Partialleistungen herausgearbeitete
Befunde referiert.
Aufmerksamkeits- und Konzentrationsleistungen
Aufmerksamkeits- und Konzentrationsleistungen
Die Fähigkeit der kurzfristigen oder überdauernden, diffusen Aufmerksamkeitssteigerung
oder zielgerichteten Aufmerksamkeitszuwendung bildet das Grundgerüst für die kognitive
Informationsverarbeitung. Zahlreiche klinische und experimentelle Studien legen eine
Unterteilung in verschiedene Aufmerksamkeitsbereiche nahe (selektive Aufmerksamkeit,
geteilte Aufmerksamkeit, Aktiviertheit, Vigilanz). Hierbei können verschiedene Aufmerksamkeitskomponenten
je nach Lateralität, Lokalisation und Ausdehnung einer Hirnschädigung in unterschiedlichem
Ausmaß beeinträchtigt werden. Bei MS-Patienten finden sich insbesondere Störungen
im Bereich der komplexen Aufmerksamkeitsleistungen [2], während die Vigilanzleistungen relativ unbeeinträchtigt sind. Kognitives Tempo
und geteilte Aufmerksamkeit sind im längsschnittlichen Verlauf zunehmend betroffen
[8] und weisen einen Zusammenhang zu Schubaktivität und Läsionsvolumen auf. Nach neuesten
Studien sind insbesondere die kortikale Atrophie sowie das temporale, occipitale und
frontale Läsionsvolumen eng mit Aufmerksamkeitsstörungen assoziiert [8]. In der klinischen Praxis werden zur Erfassung sog. „Attentionalitätsleistungen”
sowohl Papier- und Bleistifttests als auch computerisierte Testverfahren eingesetzt
(s. [Tab. 1]). Gerade wegen der „motorischen Kontaminierung” der erstgenanten Methode und wegen
der Beschränkung auf die visuomotorisch-visuokonstruktive Dimension sind computerisierte
Verfahren mit der Möglichkeit verschiedener Varianten der Reizdarbietung (akustisch
und/oder visuell) vorzuziehen. Hier sei die Testbatterie zur Aufmerksamkeitsprüfung
(TAP) besonders empfohlen, da mit diesem Testverfahren verschiedene Aufmerksamkeitskomponenten
mittels einfacher Reaktionsanforderungen erfasst werden können. Bei Sicherstellung
einer ausreichenden sensomotorischen Funktionsintegrität können aber auch einfache
Verfahren - wie der d2-Aufmerksamkeits-Belastungstest oder der Trail-Making-Test (TMT)
- eingesetzt werden. Die Interpretation zeitkritischer Verfahren (wie z.B. dem PASAT)
erfordert seitens des Untersuchers ein hohes Maß an Durchführungsroutine. Darüber
hinaus sei gerade bei zeitlimitierten Verfahren mit verbaler Antworterfordernis auf
die durch eine Artikulationsstörung (z.B. schlaffe Dysarthrie verursachte Testverzerrung
hingewiesen.
Sprache und Intelligenzleistungen
Sprache und Intelligenzleistungen
Wenngleich bei vielen MS-Patienten mit bulbärem Befall Artikulationsprobleme auftreten
können, sind Sprachstörungen i.S. von Aphasien bei MS-Patienten eher selten. Sind
jedoch sprachrelevante, kortiko-subkortikale Hirnregionen betroffen (zumeist linksseitige,
perisylvische Herde mit Beteiligung der Arcuatusregion und/oder extensiven Demyelinisierungen
der anterioren, periventrikulären Region), können neben den Artikulationsstörungen
auch Sprachstörungen auftreten. Da aphasische Syndrome jedoch bei MS-Patienten eher
eine Ausnahme sind, können unauffällige Leistungen in verbal orientierten Testverfahren
von bestehenden kognitiven Defiziten ablenken. Dies bedeutet, dass die intellektuellen
Funktionen im Querschnitt durch Verballeistungen allein nicht ausreichend beschrieben
werden können. Erst in der längsschnittlichen Betrachtung kommt es zu einem allgemeinen
Absinken der gesamtintellektuellen (auch der verbalen) Leistung. In einer aktuellen
Longitudinalstudie konnte der Stellenwert sog. „kritischer Leistungsdifferenzen” (d.h.
über eine statistisch zu erwartende Wahrscheinlichkeit hinausgehende Leistungsdiskrepanzen
zwischen verschiedenen Subtests bei einem Individuum) herausgestellt werden [8]. Praktisch bedeutet dies, dass der Interpretationsschwerpunkt von Intelligenztests
auf den Vergleich von Leistungsminima und -maxima gelegt werden sollte. Neben einer
„Profildarstellung”, die auch unter (Berufs-)Beratungsaspekten eine genauere Einordnung
und Gewichtung des Leistungsspektrums erlaubt, lassen sich durch diese Subtestvergleiche
relevante Defizitmuster aufdecken, die durch eine Globalbeurteilung eines Gesamttests
(in Form einer IQ-Angabe) verschleiert werden. Für einige, im deutschsprachigen Raum
etablierte Verfahren (z.B. Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Erwachsene, HAWIE)
stehen Kennwerte zur Verfügung, die einen kritischen Leistungsvergleich auf Individualebene
erlauben.
Mentale Flexibilität und Problemlösefähigkeit
Mentale Flexibilität und Problemlösefähigkeit
Unter mentaler Flexibilität wird die Fähigkeit verstanden, kognitive Ressourcen stringent,
zielorientiert und flexibel zur Lösung eines bestimmten Problems nutzen zu können.
Hierbei reicht das Spektrum vom Lösen einer abstrakten Rechenaufgabe bis zur Planung
und Durchführung einer Alltagshandlung (Zubereitung einer Speise, Planung einer Reise
etc.). Aus der Komplexität der an diese Fähigkeit gestellten Anforderung wird deutlich,
dass sowohl Aufmerksamkeits- als auch Gedächtnisaspekte hieran beteiligt sind. Zwar
entbehren die zur Überprüfung dieser Fähigkeit eingesetzten Verfahren (häufig Kategorisierungs-
und Sortieraufgaben wie der Wisconsin Card Sorting Test (WCST) und der Tower-of-Hanoi
Test) jegliche „ökologische” Relevanz; jedoch werden in diesen Verfahren die zur erfolgreichen
Problemlösung notwendigen Komponenten (Handlungsplanung, Selektion der notwendigen
Schritte, Konzeptwechsel etc.) erfasst. Insgesamt zeigt der systematische Einsatz
von Problemlöse- und Flexibilitätstests, dass die Leistungsgüte bei MS-Patienten vom
zerebralen, frontalen Befallsmuster und weniger vom Gesamtläsionsvolumen abhängt [9].
Gedächtnisstörungen bei MS
Gedächtnisstörungen bei MS
Die Häufigkeit von Gedächtnisstörungen bei MS-Patienten wird in der Literatur mit
40-50 % angegeben. Bei den meisten Studien wird das Kurzzeitgedächtnis bei MS-Patienten
als „nicht beeinträchtigt” herausgestellt. Dagegen stellen sich in vielen Untersuchungen
sowohl das Arbeitsgedächtnis (d.h. die „online- Verarbeitung” von Informationen unter
Beachtung verschiedener Details) als auch der freie Abruf aus dem Langzeitgedächtnis
als besonders defizitär dar. Die visuell-räumlichen Gedächtnisleistungen werden nahezu
als konsistent reduziert beschrieben und in einigen Untersuchungen gegenüber den Verballeistungen
als dysproportional defizitär angegeben. Insgesamt finden sich diese Störungen bei
Patienten mit einem chronischen Verlauf häufiger und sind in ihrer Qualität ausgeprägter.
Die der nicht willentlichen Informationsverarbeitung unterliegenden, sog. nicht-deklarativen
Gedächtnisleistungen (motorisches Lernen, sog. Priming-Phänomene) sind bei MS-Patienten
bislang noch wenig erforscht, so dass anhand der bisher hierzu durchgeführten Untersuchungen
nicht eindeutig entschieden werden kann, inwieweit in diesem Gedächtnisbereich bei
MS-Patienten Leistungsdissoziationen nachzuweisen sind, die eine syndromatische Zuordnung
der gefundenen Defizite im Sinne eines „subkortikalen” vs „kortikalen” Defizitprofils
gestatten (10; vgl. aber hierzu 11). Wenngleich die Datenbasis hinsichtlich der Altgedächtnisleistungen
bis dato ebenfalls gering ist, sprechen die wenigen hierzu durchgeführten Studien
für diskrete retrograde Gedächtnisstörungen, sowohl für semantische als auch für autobiografische
Inhalte, wobei, ähnlich der anterograden Gedächtnisdomäne, der Anteil an Patienten
mit einem chronisch-progredienten Verlauf die markanteren Defizite aufweist [12].
Alltagsrelevanz der MS-bedingten Gedächtnisdefizite
Alltagsrelevanz der MS-bedingten Gedächtnisdefizite
Wenngleich die Erforschung der neuropsychologischen Funktionsdefizite im Rahmen der
Multiplen Sklerose in der letzten Dekade deutliche Fortschritte verzeichnen konnte,
hat man erst jüngst die alltagspraktischen Implikationen (z.B. Probleme im Erwerbsleben
bei kognitiver Beeinträchtigung trotz erhaltener motorischer Fertigkeiten) dieser
Störungen erkannt [3]
[4]. Gerade im Berufsleben ist die Entwicklung neuropsychologischer Defizite im Krankheitsverlauf
für die individuelle Zukunftsplanung entscheidend. Somit sind neuropsychologische
Befunde hinsichtlich der Arbeitsfähigkeit, aber auch bezogen auf die Lebensqualität
sowie die Compliance, im Rahmen therapeutischer Bemühungen nicht nur im rehabilitativen
Sektor, sondern auch im akut-neurologischen Bereich von besonderer Bedeutung. Basierend
auf der in dieser Patientenpopulation häufigsten neuropsychologischen Beeinträchtigung
des Gedächtnisses konnten wir in einer Reihe von klinisch-neuropsychologischen Studien
auch anhand alltagsrelevanter Testverfahren (z.B. mittels Testmaterialien mit Alltagsbezug
wie Portraits, Stadtpläne, Zeitungsmeldungen, Bedienung von Taschenrechnern etc.)
differenzielle Leistungsbeeinträchtigungen bei MS-Patienten herausstellen [13]. Damit konnten wir zunächst nachweisen, dass sich Störungen des Gedächtnisses bei
MS-Patienten durchaus mittels alltagsrelevanter Verfahren abbilden lassen und die
aus dem Einsatz solcher Tests gewonnenen Erkenntnisse des Weiteren unmittelbar einem
therapeutisch-rehabilitativen Vorgehen nutzbar gemacht werden können. Zugleich wurde
im Rahmen dieser Untersuchungen deutlich, dass sich die mnestischen Leistungen bei
differenzierter Betrachtung der nach MS-Verlaufstyp getrennt analysierten Patientengruppen
bei denjenigen Patienten als besonders defizitär herausstellten, die einen chronisch-progredienten
Verlauf aufwiesen, während hingegen bei Patienten mit schubförmigen Verlauf eher allgemeine
Kognitionsstörungen nachweisbar sind. Diese Befundkonstellation erforderte im weiteren
Verlauf unserer Studien ein gesondertes Augenmerk bezüglich der Verlaufstypen und
die zerebrale Läsionsausdehnung. Tatsächlich konnten wir herausstellen, dass die Patientengruppe
mit einem schubförmigen Verlauf die größte Varianz innerhalb des untersuchten kognitiven
Leistungsspektrums aufwies. Weitere Untersuchungen machten wahrscheinlich, dass hierbei
insbesondere das zerebrale Läsionsmuster als bestimmende Variable zu nennen ist [14]. Schließlich führte uns die Zusammenschau der Befundkonstellationen zur Annahme
eines „Schwellenmodells”, innerhalb dessen die gefundenen Defizitmuster in jeweiliger
Abhängigkeit vom zerebralen Läsionsbefund zu interpretieren sind, d.h. diffus lokalisierte,
multiple Läsionen führen zu unspezifischen kognitiven Störungen, die dann, wenn eine
bestimmte „Läsionsschwelle” erreicht ist, immer auch zu mnestischen Leistungseinbußen
führen. Aus dem beobachteten Läsionsverteilungsmuster schlugen wir schließlich vor,
die bei MS-Patienten vorgefundenen neuropsychologischen Störungen als Folge einer
multiplen, kortikalen Diskonnektion zu interpretieren [7].
Das „multiple Diskonnektionssyndrom”
Das „multiple Diskonnektionssyndrom”
Untersuchungen, die sich mit dem Zusammenhang zwischen Läsionsmuster und kognitivem
Leistungsprofil bei MS beschäftigen, zeigen, dass extensive, vornehmlich periventrikulär
lokalisierte Entmarkungsherde zwar zu einer globalen neuropsychologischen Leistungsreduktion
führen, jedoch das Läsionsvolumen allein nicht für die spezifischen neuropsychologischen
Symptome verantwortlich ist. Kritisch scheint hier vielmehr die Läsionsverteilung
zu sein. Insbesondere kumulierte, multiple kortexnahe Demyelinisierungsherde, die
sich neurologisch nicht funktionsbehindernd auswirken (sog. „silent lesions”), vermögen
die kognitive Leistungsfähigkeit negativ zu beeinflussen, da ein räumlich disseminiertes
und zeitlich aufeinander folgendes, kortexnahes Entmarkungsmuster langfristig zu multiplen
Unterbrechungen kortiko-kortikaler Verbindungen führt und damit den netzwerkartigen
Informationsverarbeitungsmodus des kognitiven Systemgefüges empfindlich stört [15]. Eine Zusammenschau der pathoanatomischen Daten aus der Literatur sowie eigene Untersuchungen
zeigen, dass eine Kompensation offenbar nur bis zu einem bestimmten Läsionsausmaß
möglich ist. Tatsächlich zeigt sich bei einem Vergleich der kognitiv-mnestischen Leistungen
einzelner Subgruppen von MS-Patienten, dass Patienten mit einem chronisch-progredienten
Krankheitsverlauf deutlichere Gedächtnisstörungen sowie eine homogene, global-intellektuelle
Leistungsbeeinträchtigung aufweisen, während bei Patienten mit einem schubförmigen
Verlaufstyp eine große Leistungsvariabilität zwischen den Partialleistungen zu verzeichnen
ist. In der folgenden Abbildung sind zwei typische, zerebrale Befallsmuster schematisch
dargestellt. Unser Schwellenmodell erklärt die kognitiv-mnestischen Leistungsunterschiede der MS-Subtypen durch die
unterschiedlichen zerebralen Affektionen [Abb. 1].
Großflächige, periventrikulär-konfluierende Läsionsmuster, die beim chronisch-progredienten
Verlaufstyp nach langer Krankheitsdauer häufiger anzutreffen sind, führen durch die
Affektion periventrikulär-limbischer sowie mesiotemporal lokalisierter (und damit
gedächtnisrelevanter) Verarbeitungsschleifen sowohl zu mnestischen Störungen als auch
zu einer allgemeinen intellektuellen Leistungsnivellierung. Vereinzelte Läsionen verursachen
dagegen je nach Größe und Lokalisation („strategische Läsionen”), im Einzelfall distinkte,
neuropsychologische Teilleistungsstörungen, führen jedoch erst ab einer quantitativen
„Schwelle” zu einem generalisierten Leistungsdefizit. Vor diesem Hintergrund können
die neuropsychologischen Defizite bei der MS nicht nur unter dem syndromatischen Begriff
der „subkortikalen Demenz” zusammengefasst, sondern beschreibend als Folge eines „multiplen
Diskonnektionssyndroms” aufgefasst werden. Die Annahme eines kumulativen Diskonnetionseffektes
mit einer desintegrativen Wirkung auf funktionell relevante, neuronale Netzwerke bietet
für die klinisch-neuropsychologisch vorgefundenen Symptomkonstellationen bei dieser
Patientengruppe eine schlüssige Erklärung. Neben dem durch einen akuten Entzündungsprozess
verursachten und das Läsionsausmaß bestimmenden Axon- und Myelinverlust ist auch der
frühe Atrophiegrad für die Entwicklung der kognitiven Defizite entscheidend [16]. Grundsätzlich wird das Läsionsausmaß im Rahmen konventioneller, T2- und T1-gewichteter
MRT-Schichtaufnahmen eher unterschätzt. Durch die Anwendung spezieller MRT-Sequenzen
und -Techniken (z.B. RARE und fasfFLAIR-Sequenzen, MR-Spektroskopie) kann inzwischen
eine wesentlich reliablere Quantifizierung erfolgen [15]
[16]
[17].
Kognitive Defizite, Hirnläsionen und Alltagsrelevanz
Kognitive Defizite, Hirnläsionen und Alltagsrelevanz
Da kognitive Beeinträchtigungen sich bereits in der Frühphase einer MS manifestieren
können, andererseits nur schwach mit dem körperlichen Behinderungsgrad korreliert
sind, kann ein sensomotorisch unauffälliger Befund auf den ersten Blick von tatsächlich
bestehenden Defiziten ablenken. Viel deutlicher scheint der Zusammenhang zwischen
Läsionsmuster und kognitivem Leistungsprofil zu sein. Vor dem Hintergrund dieser Erkentnisse
sollte eine kognitive Leistungseinschätzung frühzeitig erfolgen. Hierbei sollte die
Diagnostik nicht defizitorientiert sein, sondern die aus diesen etwaigen Störungen
resultierenden, alltagsrelevanten Problemfelder, mit dem Ziel einer therapeutischen
Intervention isolieren. Tatsächlich konnte gezeigt werden, dass neuropsychologische
Defizite bei MS-Patienten durch ein systematisches Funktionstraining erfolgreich rehabilitiert
und/oder kompensiert werden können. Es ist zu erwarten, dass gerade die Alltagsrelevanz
der geistigen Leistungsfähigkeit dazu führen wird, dass auch und gerade in der pharmakologisch
orientierten Therapieforschung den kognitiven Indikatoren die Rolle von primären outcome-Parametern
zugesprochen wird. Erste Ansätze wurden bereits im Zusammenhang mit der Erprobung
neuer immunmodulatorischer Substanzen erprobt. So konnten Fischer und Mitarbeiter
mit einer Auswahl geeigneter neuropsychologischer Testverfahren zeigen, dass sich
neben den klassischen neurologischen Parametern auch die kognitive Leistungsentwicklung
unter einer zweijährigen Therapie mit Interferon-b-1a stabilisieren ließ [18].
Abb. 1 Dargestellt sind unterschiedliche zerebrale Befallsmuster im Rahmen einer MS. Während
Läsionsmuster A (je nach Lokalisation der Demyelinisierungsherde) zu distinkten neuropsychologischen
Teilleistungsstörungen führen kann, mündet Befallsmuster B aufgrund der topografisch
multiplen Diskonnektionen in eine globale, kognitive Leistungsbeeinträchtigung (aus:
Calabrese P. in Sturm W& Wallesch CW (Hrsg.) Lehrbuch der klinischen Neuropsychologie,
Amsterdam: Swets & Zeitlinger, 2000: 569).
Tab. 1 Testverfahren
|
Bereich
|
Testverfahren
|
Bemerkungen
|
|
Aufmerksamkeit (selektive Aufmerksamkeit, geteilte Aufmerksamkeit, Aktiviertheit,
Vigilanz) |
d2, TMT-A, PASAT, TAP |
-
„motorische Kontamination” beachten
-
Artikulationsstörungen bei zeitabhängigen, verbalen Tests berücksichtigen
-
Visus und Akusis
|
|
Gedächtnis (Kurzzeit-, Langzeit-, explizites und implizites Gedächtnis) |
VLMT, GNL, VVM, VLT/NVLT |
-
Materialspezifische Unterschiede (verbal vs. visuell) beachten
-
Kurz- u. längerfristige Behaltensintervalle prüfen
-
„Lernkurve” beurteilen (Inkrement, Stabilität)
|
|
Exekutivfunktionen (Handlungsplanung, Flexibilität, Handlungsausführung, Strategien) |
TMT-B, WCST, BADS, TEA, TKS |
|
|
Abkürzungen: BADS= Behavioural Assessment of the Dysexecutive Syndrome; d2= d2-Aufmerksamkeits-Belastungs-Test;
GNL=Gesichter-Namen-Lerntest; PASAT=Paced Auditory-Serial-Addition-Test; TAP= Testbatterie
zur Aufmerksamkeitsprüfung; TEA=Test of Everyday-Attention; TMT=Trail-Making-Test;
TKS=Test zum kognitiven Schätzen; VLMT=Verbaler Lern- u. Merkfähigkeitstest; VVM=
Visueller und Verbaler Merkfähigkeitstest; WCST=Wisconsin-Card-Sorting-Test. (Alle
Verfahren finden sich im Testkatalog der Testzentrale/Göttingen bzw. Fa. PSYTEST [Fa.
Vera Fimm, Würselen] für die TAP. |